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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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l'ema con variaxione: die Autonomie
der Mathematik, die Ethik Kants und der
"Boston"-Rhythmus sind nichts als Para¬
phrasen über den einen gleichen Gedanken,
dargestellt in drei Stadien verschiedenster
Entfaltung, vielleicht--Entwicklung!

Denn was uns das Rein-auf-den-Geist¬
gestellt-sein des mathematischen Erkennens
als so wenig befriedigend, infolge der jeder
Analogie mit den seelischen Tatsachen ent¬
rückten Leblosigkeit ihrer Objekte als so blut¬
leer empfinden läßt, was uns die Ethik Kants
den Fluktuierungen des Lebens gegenüber so
unzureichend erscheinen macht, ist hier ver¬
schwunden und gibt einer auf das ganz Per¬
sönliche gestimmten Nuancierungsmöglichkeit
Raum. Denn aus dem Leitmotiv Kants:
"Handle so, daß die Maxime deiner Hand¬
lungen jederzeit zum Grundsatz einer all¬
gemeinen Gesetzgebung erhoben werden kann",
spricht für uns ein wirklichkeitsfremder Schema¬
tismus. Wir, die wir staunen, wie unend¬
lich die Erfüllung eines Wunsches den Cha¬
rakter ändert, den er in der bloßen Gerichtet-
heit auf jenes ferne Ziel gelebt, wissen Wohl,
daß eine Handlung in ihrer Einmaligkeit
nicht zu messen ist an den: Wert, den sie --
als Beispiel -- durch die Tat ganz anders
gearteter Seelen gewänne.

Der "Boston" ist von jeder Verallgemei¬
nerungstendenz erlöst. Hier sind wir in jedem
Augenblick ermächtigt, den Komponisten, das
Orchester, die anderen Paare, die ganze Um¬
welt zu vergessen, zumißachten, zu verneinen,
um nichts zu folgen als dem eigenen, die
Persönlichkeit am adäquatesten repräsentieren¬
den Gefühl.

Wer genießt die Freiheit des mathema¬
tischen Denkens? -- Der Mathematiker. --
Wer realisiert die Ethik Kants? -- Vielleicht
niemand, da, was Kantisch daran, auf das
Leben unanwendbar ist; (aber wir anerkennen
mit Kant die Autonomie des Willens im
Moralischen).

Wer realisiert die Autonomie des Willens
auf unseren Bällen? -- Der Bostontänzer;
vielleicht kann man sagen: der moralische
Konventionalist. -- So gesehen bietet der
moderne Ball ein Bild, das in der Divergenz
der in ihm sich realisierenden Inhalte zu den

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merkwürdigsten Analogien mit der Wirklichkeit
des Geisteslebens verführt.

Felix Goldner
Goethe und Ilmenau.

Nicht lange nach
Goethes Hinscheiden erschien ein von Stahl¬
tichen reich illustriertes Sammelwerk, "Das
malerische und romantische Deutschland" be¬
itelt. Ludwig Bechstein schrieb hierzu den
Text des Bandes "Thüringen" und bemerkte
bei Ilmenau: "Auch noch vorhandene Briefe
Goethes in den damaligen Bergbauangelegen¬
heiten (d. h. 1784 bis 1796) wurden erwähnt
und vorgezeigt, sie trugen aber alle den
gleichen Typus des formellen Geschäftsstils,
den der große Dichter sich angeeignet hatte,
o daß nichts Erfreuliches aus ihrer Lektüre
gewonnen wurde." DasromantischeEmpfinden
Bechsteins, dem ein Stich ins Philiströse
eigen war, vermißte hier augenscheinlich
Theodor Körners Poetische Ader bei Behand¬
lung bergmännischer Stoffe. Wie Julius
Voigt jetzt in seiner umfassenden Monographie
"Goethe und Ilmenau" (Leipzig, Xenien-
Verlag; mit 7 Handzeichnungen Goethes,
Karte, Faksimile und 22 Bildbeigaben. Preis
broad. S M) auf Grund eines vielfach noch
unveröffentlichten Materials dartun kann, hat
es sich damals um ein streng amtliches
Wirken Goethes gehandelt. Wir empfangen
endlich ein Bild der lebhaften und an Ver¬
ständnis für den Betrieb nach außen wie
nach innen rasch wachsenden Tätigkeit Goethes,
die geeignet ist, seine Arbeitsfreude und kluge
Art, Menschen zu behandeln, ganz besonders
deutlich zu machen. Voigt bemerkt gegen
Schluß der fleißig und in vortrefflicher Ge¬
samthaltung durchgeführten Studie: "Im
ganzen Bereich der ausgedehnten Amtstätigkeit
Goethes finden wir kaum ein Gebiet, welches
er mit gleicher Begeisterung ergriff, mit
gleicher Stärke Persönlicher Hingabe betrieb
wie die Geschäfte, an die er jahrzehntelang
zu Wohl und Gedeihen Ilmenaus seine besten
Kräfte setzte. Und auch als die persönlichen
und amtlichen Beziehungen wieder gelöst
waren, blieben ihm noch die Wissenschaften,
deren Licht sich ihm auf den Bergeshöhen
Ilmenaus und in der Tiefe seiner Schächte
entzündet hatte," nämlich Geologie und

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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l'ema con variaxione: die Autonomie
der Mathematik, die Ethik Kants und der
„Boston"-Rhythmus sind nichts als Para¬
phrasen über den einen gleichen Gedanken,
dargestellt in drei Stadien verschiedenster
Entfaltung, vielleicht--Entwicklung!

Denn was uns das Rein-auf-den-Geist¬
gestellt-sein des mathematischen Erkennens
als so wenig befriedigend, infolge der jeder
Analogie mit den seelischen Tatsachen ent¬
rückten Leblosigkeit ihrer Objekte als so blut¬
leer empfinden läßt, was uns die Ethik Kants
den Fluktuierungen des Lebens gegenüber so
unzureichend erscheinen macht, ist hier ver¬
schwunden und gibt einer auf das ganz Per¬
sönliche gestimmten Nuancierungsmöglichkeit
Raum. Denn aus dem Leitmotiv Kants:
„Handle so, daß die Maxime deiner Hand¬
lungen jederzeit zum Grundsatz einer all¬
gemeinen Gesetzgebung erhoben werden kann",
spricht für uns ein wirklichkeitsfremder Schema¬
tismus. Wir, die wir staunen, wie unend¬
lich die Erfüllung eines Wunsches den Cha¬
rakter ändert, den er in der bloßen Gerichtet-
heit auf jenes ferne Ziel gelebt, wissen Wohl,
daß eine Handlung in ihrer Einmaligkeit
nicht zu messen ist an den: Wert, den sie —
als Beispiel — durch die Tat ganz anders
gearteter Seelen gewänne.

Der „Boston" ist von jeder Verallgemei¬
nerungstendenz erlöst. Hier sind wir in jedem
Augenblick ermächtigt, den Komponisten, das
Orchester, die anderen Paare, die ganze Um¬
welt zu vergessen, zumißachten, zu verneinen,
um nichts zu folgen als dem eigenen, die
Persönlichkeit am adäquatesten repräsentieren¬
den Gefühl.

Wer genießt die Freiheit des mathema¬
tischen Denkens? — Der Mathematiker. —
Wer realisiert die Ethik Kants? — Vielleicht
niemand, da, was Kantisch daran, auf das
Leben unanwendbar ist; (aber wir anerkennen
mit Kant die Autonomie des Willens im
Moralischen).

Wer realisiert die Autonomie des Willens
auf unseren Bällen? — Der Bostontänzer;
vielleicht kann man sagen: der moralische
Konventionalist. — So gesehen bietet der
moderne Ball ein Bild, das in der Divergenz
der in ihm sich realisierenden Inhalte zu den

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merkwürdigsten Analogien mit der Wirklichkeit
des Geisteslebens verführt.

Felix Goldner
Goethe und Ilmenau.

Nicht lange nach
Goethes Hinscheiden erschien ein von Stahl¬
tichen reich illustriertes Sammelwerk, „Das
malerische und romantische Deutschland" be¬
itelt. Ludwig Bechstein schrieb hierzu den
Text des Bandes „Thüringen" und bemerkte
bei Ilmenau: „Auch noch vorhandene Briefe
Goethes in den damaligen Bergbauangelegen¬
heiten (d. h. 1784 bis 1796) wurden erwähnt
und vorgezeigt, sie trugen aber alle den
gleichen Typus des formellen Geschäftsstils,
den der große Dichter sich angeeignet hatte,
o daß nichts Erfreuliches aus ihrer Lektüre
gewonnen wurde." DasromantischeEmpfinden
Bechsteins, dem ein Stich ins Philiströse
eigen war, vermißte hier augenscheinlich
Theodor Körners Poetische Ader bei Behand¬
lung bergmännischer Stoffe. Wie Julius
Voigt jetzt in seiner umfassenden Monographie
„Goethe und Ilmenau" (Leipzig, Xenien-
Verlag; mit 7 Handzeichnungen Goethes,
Karte, Faksimile und 22 Bildbeigaben. Preis
broad. S M) auf Grund eines vielfach noch
unveröffentlichten Materials dartun kann, hat
es sich damals um ein streng amtliches
Wirken Goethes gehandelt. Wir empfangen
endlich ein Bild der lebhaften und an Ver¬
ständnis für den Betrieb nach außen wie
nach innen rasch wachsenden Tätigkeit Goethes,
die geeignet ist, seine Arbeitsfreude und kluge
Art, Menschen zu behandeln, ganz besonders
deutlich zu machen. Voigt bemerkt gegen
Schluß der fleißig und in vortrefflicher Ge¬
samthaltung durchgeführten Studie: „Im
ganzen Bereich der ausgedehnten Amtstätigkeit
Goethes finden wir kaum ein Gebiet, welches
er mit gleicher Begeisterung ergriff, mit
gleicher Stärke Persönlicher Hingabe betrieb
wie die Geschäfte, an die er jahrzehntelang
zu Wohl und Gedeihen Ilmenaus seine besten
Kräfte setzte. Und auch als die persönlichen
und amtlichen Beziehungen wieder gelöst
waren, blieben ihm noch die Wissenschaften,
deren Licht sich ihm auf den Bergeshöhen
Ilmenaus und in der Tiefe seiner Schächte
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[0341] Maßgebliches und Unmaßgebliches l'ema con variaxione: die Autonomie der Mathematik, die Ethik Kants und der „Boston"-Rhythmus sind nichts als Para¬ phrasen über den einen gleichen Gedanken, dargestellt in drei Stadien verschiedenster Entfaltung, vielleicht--Entwicklung! Denn was uns das Rein-auf-den-Geist¬ gestellt-sein des mathematischen Erkennens als so wenig befriedigend, infolge der jeder Analogie mit den seelischen Tatsachen ent¬ rückten Leblosigkeit ihrer Objekte als so blut¬ leer empfinden läßt, was uns die Ethik Kants den Fluktuierungen des Lebens gegenüber so unzureichend erscheinen macht, ist hier ver¬ schwunden und gibt einer auf das ganz Per¬ sönliche gestimmten Nuancierungsmöglichkeit Raum. Denn aus dem Leitmotiv Kants: „Handle so, daß die Maxime deiner Hand¬ lungen jederzeit zum Grundsatz einer all¬ gemeinen Gesetzgebung erhoben werden kann", spricht für uns ein wirklichkeitsfremder Schema¬ tismus. Wir, die wir staunen, wie unend¬ lich die Erfüllung eines Wunsches den Cha¬ rakter ändert, den er in der bloßen Gerichtet- heit auf jenes ferne Ziel gelebt, wissen Wohl, daß eine Handlung in ihrer Einmaligkeit nicht zu messen ist an den: Wert, den sie — als Beispiel — durch die Tat ganz anders gearteter Seelen gewänne. Der „Boston" ist von jeder Verallgemei¬ nerungstendenz erlöst. Hier sind wir in jedem Augenblick ermächtigt, den Komponisten, das Orchester, die anderen Paare, die ganze Um¬ welt zu vergessen, zumißachten, zu verneinen, um nichts zu folgen als dem eigenen, die Persönlichkeit am adäquatesten repräsentieren¬ den Gefühl. Wer genießt die Freiheit des mathema¬ tischen Denkens? — Der Mathematiker. — Wer realisiert die Ethik Kants? — Vielleicht niemand, da, was Kantisch daran, auf das Leben unanwendbar ist; (aber wir anerkennen mit Kant die Autonomie des Willens im Moralischen). Wer realisiert die Autonomie des Willens auf unseren Bällen? — Der Bostontänzer; vielleicht kann man sagen: der moralische Konventionalist. — So gesehen bietet der moderne Ball ein Bild, das in der Divergenz der in ihm sich realisierenden Inhalte zu den merkwürdigsten Analogien mit der Wirklichkeit des Geisteslebens verführt. Felix Goldner Goethe und Ilmenau. Nicht lange nach Goethes Hinscheiden erschien ein von Stahl¬ tichen reich illustriertes Sammelwerk, „Das malerische und romantische Deutschland" be¬ itelt. Ludwig Bechstein schrieb hierzu den Text des Bandes „Thüringen" und bemerkte bei Ilmenau: „Auch noch vorhandene Briefe Goethes in den damaligen Bergbauangelegen¬ heiten (d. h. 1784 bis 1796) wurden erwähnt und vorgezeigt, sie trugen aber alle den gleichen Typus des formellen Geschäftsstils, den der große Dichter sich angeeignet hatte, o daß nichts Erfreuliches aus ihrer Lektüre gewonnen wurde." DasromantischeEmpfinden Bechsteins, dem ein Stich ins Philiströse eigen war, vermißte hier augenscheinlich Theodor Körners Poetische Ader bei Behand¬ lung bergmännischer Stoffe. Wie Julius Voigt jetzt in seiner umfassenden Monographie „Goethe und Ilmenau" (Leipzig, Xenien- Verlag; mit 7 Handzeichnungen Goethes, Karte, Faksimile und 22 Bildbeigaben. Preis broad. S M) auf Grund eines vielfach noch unveröffentlichten Materials dartun kann, hat es sich damals um ein streng amtliches Wirken Goethes gehandelt. Wir empfangen endlich ein Bild der lebhaften und an Ver¬ ständnis für den Betrieb nach außen wie nach innen rasch wachsenden Tätigkeit Goethes, die geeignet ist, seine Arbeitsfreude und kluge Art, Menschen zu behandeln, ganz besonders deutlich zu machen. Voigt bemerkt gegen Schluß der fleißig und in vortrefflicher Ge¬ samthaltung durchgeführten Studie: „Im ganzen Bereich der ausgedehnten Amtstätigkeit Goethes finden wir kaum ein Gebiet, welches er mit gleicher Begeisterung ergriff, mit gleicher Stärke Persönlicher Hingabe betrieb wie die Geschäfte, an die er jahrzehntelang zu Wohl und Gedeihen Ilmenaus seine besten Kräfte setzte. Und auch als die persönlichen und amtlichen Beziehungen wieder gelöst waren, blieben ihm noch die Wissenschaften, deren Licht sich ihm auf den Bergeshöhen Ilmenaus und in der Tiefe seiner Schächte entzündet hatte," nämlich Geologie und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/341>, abgerufen am 01.07.2024.