Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Einiges aus dem englischen Rechtsleben

oft an der wahren Justiz vorbeijudiziert haben. Solche Fälle sind nicht registriert
worden. So kommen denn auch in England sehr häufig bedenkliche Ent¬
scheidungen vor, die in vielen Fällen auf die in Folge der Aktionsfreiheit
entwickelte Tendenz, an dem Lciietum Perpetuum souverän vorbeizugehen,
zurückzuführen sind. Auch Richter des High Court sind, beiläufig gesagt, von
dieser Schwäche der Stärke nicht frei, und das oft zum Schaden des Ansehens
oder wenigstens des Prestiges der Richterbank.

Der hohe Gerichtshof erster Instanz besteht aus drei Abteilungen, nämlich
der Chancery-Division, außer dem Lord Chancellor mit sechs Richtern besetzt;
der Kings Beiles° Diviston, außer dem Lord Chief Justice mit siebzehn Richtern
besetzt; und der Probate (probatum in Testamentssachen) Divorce und Admiralty
Division mit zwei Richtern besetzt. Die Chancery-Division ist unter anderen
zuständig für Jmmobiliar-, Erb-, Treuhänder-, eheliches Güter-, Vormundschafts¬
und Gesellschaftsrecht; die Kings Beuch-Division für Straf-, Vertrags- und
Deliktsachen; die dritte Division für die sich aus ihren Namen ergebenden
Sachen. Nun werden die Richter der verschiedenen Abteilungen aus dem Kreise
solcher Barristers ernannt, welche eine lange Reihe von Jahren innerhalb einer
solchen Abteilung praktiziert haben, so daß sie Spezialisten in ihrem Fache sind.
Anders liegt aber die Sache mit der zweiten Instanz. Diese ist zusammen¬
gesetzt aus drei Richtern, die aus der Kings Beiles, und drei Richtern, die aus
der Chancery Division hervorgegangen sind. Sie sitzen gemischt in den beiden
Senaten des Appellhofes, so daß bisweilen zwei Chancery- und ein Kings Bench-
Jurist oder ein Chancery- und zwei Kings Beiles-Juristen ein Kollegium bilden.
In dem einen Senat sitzt jetzt ein Chancery-, in dem anderen ein Kings Bench-
Jurist vor. Im vorigen Jahre waren etwa hundertundachtzig Berufungen ein¬
gelegt gegen Erkenntnisse der Kings Beiles- (achtzehn Richter*); aber etwa fünf¬
undneunzig gegen solche der Chancery-Division (sechs Richter**) -- ein ganz
unverhältnismäßig hoher Prozentsatz in Anbetracht der geringen Richterzahl.
Die Erklärung hierfür liegt darin, daß die Rechtsmaterien, mit denen sich die
Chancery-Division zu befassen hat, unendlich kompliziert sind im Vergleich mit
denen der Kings Beiles-Division. Juristen, die ihre Laufbahn in letzterer
gemacht haben, stehen daher der Terminologie, den Begriffen, den vielfach noch
immer grotesk archäischen Institutionen und den Jnterpretationsregeln des
Chancery-Rechts fast ganz fremd gegenüber, und den Kings Beiles-Richtern
zweiter Instanz muß daher von ihren Kollegen und den Barristers Verständnis
für solche Sachen oft erst eingepaukt werden. Da sie unzweifelhaft sehr intelligent
sind, so ist anzunehmen, daß sie im allgemeinen zu einer entsprechenden Auf¬
fassung durchdringen. Von einer Beherrschung des Stoffes jedoch kann kaum
die Rede sein, und doch liegt der Schwerpunkt der Berufungsentscheidungen
bei nur zwei Richtern.




*) Der Lord Chief Justice sitzt der Regel nach in erster Instanz.
*") Der Lord Chancellor sitzt nur ausnahmsweise in erster Instanz.
Einiges aus dem englischen Rechtsleben

oft an der wahren Justiz vorbeijudiziert haben. Solche Fälle sind nicht registriert
worden. So kommen denn auch in England sehr häufig bedenkliche Ent¬
scheidungen vor, die in vielen Fällen auf die in Folge der Aktionsfreiheit
entwickelte Tendenz, an dem Lciietum Perpetuum souverän vorbeizugehen,
zurückzuführen sind. Auch Richter des High Court sind, beiläufig gesagt, von
dieser Schwäche der Stärke nicht frei, und das oft zum Schaden des Ansehens
oder wenigstens des Prestiges der Richterbank.

Der hohe Gerichtshof erster Instanz besteht aus drei Abteilungen, nämlich
der Chancery-Division, außer dem Lord Chancellor mit sechs Richtern besetzt;
der Kings Beiles° Diviston, außer dem Lord Chief Justice mit siebzehn Richtern
besetzt; und der Probate (probatum in Testamentssachen) Divorce und Admiralty
Division mit zwei Richtern besetzt. Die Chancery-Division ist unter anderen
zuständig für Jmmobiliar-, Erb-, Treuhänder-, eheliches Güter-, Vormundschafts¬
und Gesellschaftsrecht; die Kings Beuch-Division für Straf-, Vertrags- und
Deliktsachen; die dritte Division für die sich aus ihren Namen ergebenden
Sachen. Nun werden die Richter der verschiedenen Abteilungen aus dem Kreise
solcher Barristers ernannt, welche eine lange Reihe von Jahren innerhalb einer
solchen Abteilung praktiziert haben, so daß sie Spezialisten in ihrem Fache sind.
Anders liegt aber die Sache mit der zweiten Instanz. Diese ist zusammen¬
gesetzt aus drei Richtern, die aus der Kings Beiles, und drei Richtern, die aus
der Chancery Division hervorgegangen sind. Sie sitzen gemischt in den beiden
Senaten des Appellhofes, so daß bisweilen zwei Chancery- und ein Kings Bench-
Jurist oder ein Chancery- und zwei Kings Beiles-Juristen ein Kollegium bilden.
In dem einen Senat sitzt jetzt ein Chancery-, in dem anderen ein Kings Bench-
Jurist vor. Im vorigen Jahre waren etwa hundertundachtzig Berufungen ein¬
gelegt gegen Erkenntnisse der Kings Beiles- (achtzehn Richter*); aber etwa fünf¬
undneunzig gegen solche der Chancery-Division (sechs Richter**) — ein ganz
unverhältnismäßig hoher Prozentsatz in Anbetracht der geringen Richterzahl.
Die Erklärung hierfür liegt darin, daß die Rechtsmaterien, mit denen sich die
Chancery-Division zu befassen hat, unendlich kompliziert sind im Vergleich mit
denen der Kings Beiles-Division. Juristen, die ihre Laufbahn in letzterer
gemacht haben, stehen daher der Terminologie, den Begriffen, den vielfach noch
immer grotesk archäischen Institutionen und den Jnterpretationsregeln des
Chancery-Rechts fast ganz fremd gegenüber, und den Kings Beiles-Richtern
zweiter Instanz muß daher von ihren Kollegen und den Barristers Verständnis
für solche Sachen oft erst eingepaukt werden. Da sie unzweifelhaft sehr intelligent
sind, so ist anzunehmen, daß sie im allgemeinen zu einer entsprechenden Auf¬
fassung durchdringen. Von einer Beherrschung des Stoffes jedoch kann kaum
die Rede sein, und doch liegt der Schwerpunkt der Berufungsentscheidungen
bei nur zwei Richtern.




*) Der Lord Chief Justice sitzt der Regel nach in erster Instanz.
*") Der Lord Chancellor sitzt nur ausnahmsweise in erster Instanz.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322085"/>
          <fw type="header" place="top"> Einiges aus dem englischen Rechtsleben</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1444" prev="#ID_1443"> oft an der wahren Justiz vorbeijudiziert haben. Solche Fälle sind nicht registriert<lb/>
worden. So kommen denn auch in England sehr häufig bedenkliche Ent¬<lb/>
scheidungen vor, die in vielen Fällen auf die in Folge der Aktionsfreiheit<lb/>
entwickelte Tendenz, an dem Lciietum Perpetuum souverän vorbeizugehen,<lb/>
zurückzuführen sind. Auch Richter des High Court sind, beiläufig gesagt, von<lb/>
dieser Schwäche der Stärke nicht frei, und das oft zum Schaden des Ansehens<lb/>
oder wenigstens des Prestiges der Richterbank.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1445"> Der hohe Gerichtshof erster Instanz besteht aus drei Abteilungen, nämlich<lb/>
der Chancery-Division, außer dem Lord Chancellor mit sechs Richtern besetzt;<lb/>
der Kings Beiles° Diviston, außer dem Lord Chief Justice mit siebzehn Richtern<lb/>
besetzt; und der Probate (probatum in Testamentssachen) Divorce und Admiralty<lb/>
Division mit zwei Richtern besetzt. Die Chancery-Division ist unter anderen<lb/>
zuständig für Jmmobiliar-, Erb-, Treuhänder-, eheliches Güter-, Vormundschafts¬<lb/>
und Gesellschaftsrecht; die Kings Beuch-Division für Straf-, Vertrags- und<lb/>
Deliktsachen; die dritte Division für die sich aus ihren Namen ergebenden<lb/>
Sachen. Nun werden die Richter der verschiedenen Abteilungen aus dem Kreise<lb/>
solcher Barristers ernannt, welche eine lange Reihe von Jahren innerhalb einer<lb/>
solchen Abteilung praktiziert haben, so daß sie Spezialisten in ihrem Fache sind.<lb/>
Anders liegt aber die Sache mit der zweiten Instanz. Diese ist zusammen¬<lb/>
gesetzt aus drei Richtern, die aus der Kings Beiles, und drei Richtern, die aus<lb/>
der Chancery Division hervorgegangen sind. Sie sitzen gemischt in den beiden<lb/>
Senaten des Appellhofes, so daß bisweilen zwei Chancery- und ein Kings Bench-<lb/>
Jurist oder ein Chancery- und zwei Kings Beiles-Juristen ein Kollegium bilden.<lb/>
In dem einen Senat sitzt jetzt ein Chancery-, in dem anderen ein Kings Bench-<lb/>
Jurist vor. Im vorigen Jahre waren etwa hundertundachtzig Berufungen ein¬<lb/>
gelegt gegen Erkenntnisse der Kings Beiles- (achtzehn Richter*); aber etwa fünf¬<lb/>
undneunzig gegen solche der Chancery-Division (sechs Richter**) &#x2014; ein ganz<lb/>
unverhältnismäßig hoher Prozentsatz in Anbetracht der geringen Richterzahl.<lb/>
Die Erklärung hierfür liegt darin, daß die Rechtsmaterien, mit denen sich die<lb/>
Chancery-Division zu befassen hat, unendlich kompliziert sind im Vergleich mit<lb/>
denen der Kings Beiles-Division. Juristen, die ihre Laufbahn in letzterer<lb/>
gemacht haben, stehen daher der Terminologie, den Begriffen, den vielfach noch<lb/>
immer grotesk archäischen Institutionen und den Jnterpretationsregeln des<lb/>
Chancery-Rechts fast ganz fremd gegenüber, und den Kings Beiles-Richtern<lb/>
zweiter Instanz muß daher von ihren Kollegen und den Barristers Verständnis<lb/>
für solche Sachen oft erst eingepaukt werden. Da sie unzweifelhaft sehr intelligent<lb/>
sind, so ist anzunehmen, daß sie im allgemeinen zu einer entsprechenden Auf¬<lb/>
fassung durchdringen. Von einer Beherrschung des Stoffes jedoch kann kaum<lb/>
die Rede sein, und doch liegt der Schwerpunkt der Berufungsentscheidungen<lb/>
bei nur zwei Richtern.</p><lb/>
          <note xml:id="FID_35" place="foot"> *) Der Lord Chief Justice sitzt der Regel nach in erster Instanz.</note><lb/>
          <note xml:id="FID_36" place="foot"> *") Der Lord Chancellor sitzt nur ausnahmsweise in erster Instanz.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0338] Einiges aus dem englischen Rechtsleben oft an der wahren Justiz vorbeijudiziert haben. Solche Fälle sind nicht registriert worden. So kommen denn auch in England sehr häufig bedenkliche Ent¬ scheidungen vor, die in vielen Fällen auf die in Folge der Aktionsfreiheit entwickelte Tendenz, an dem Lciietum Perpetuum souverän vorbeizugehen, zurückzuführen sind. Auch Richter des High Court sind, beiläufig gesagt, von dieser Schwäche der Stärke nicht frei, und das oft zum Schaden des Ansehens oder wenigstens des Prestiges der Richterbank. Der hohe Gerichtshof erster Instanz besteht aus drei Abteilungen, nämlich der Chancery-Division, außer dem Lord Chancellor mit sechs Richtern besetzt; der Kings Beiles° Diviston, außer dem Lord Chief Justice mit siebzehn Richtern besetzt; und der Probate (probatum in Testamentssachen) Divorce und Admiralty Division mit zwei Richtern besetzt. Die Chancery-Division ist unter anderen zuständig für Jmmobiliar-, Erb-, Treuhänder-, eheliches Güter-, Vormundschafts¬ und Gesellschaftsrecht; die Kings Beuch-Division für Straf-, Vertrags- und Deliktsachen; die dritte Division für die sich aus ihren Namen ergebenden Sachen. Nun werden die Richter der verschiedenen Abteilungen aus dem Kreise solcher Barristers ernannt, welche eine lange Reihe von Jahren innerhalb einer solchen Abteilung praktiziert haben, so daß sie Spezialisten in ihrem Fache sind. Anders liegt aber die Sache mit der zweiten Instanz. Diese ist zusammen¬ gesetzt aus drei Richtern, die aus der Kings Beiles, und drei Richtern, die aus der Chancery Division hervorgegangen sind. Sie sitzen gemischt in den beiden Senaten des Appellhofes, so daß bisweilen zwei Chancery- und ein Kings Bench- Jurist oder ein Chancery- und zwei Kings Beiles-Juristen ein Kollegium bilden. In dem einen Senat sitzt jetzt ein Chancery-, in dem anderen ein Kings Bench- Jurist vor. Im vorigen Jahre waren etwa hundertundachtzig Berufungen ein¬ gelegt gegen Erkenntnisse der Kings Beiles- (achtzehn Richter*); aber etwa fünf¬ undneunzig gegen solche der Chancery-Division (sechs Richter**) — ein ganz unverhältnismäßig hoher Prozentsatz in Anbetracht der geringen Richterzahl. Die Erklärung hierfür liegt darin, daß die Rechtsmaterien, mit denen sich die Chancery-Division zu befassen hat, unendlich kompliziert sind im Vergleich mit denen der Kings Beiles-Division. Juristen, die ihre Laufbahn in letzterer gemacht haben, stehen daher der Terminologie, den Begriffen, den vielfach noch immer grotesk archäischen Institutionen und den Jnterpretationsregeln des Chancery-Rechts fast ganz fremd gegenüber, und den Kings Beiles-Richtern zweiter Instanz muß daher von ihren Kollegen und den Barristers Verständnis für solche Sachen oft erst eingepaukt werden. Da sie unzweifelhaft sehr intelligent sind, so ist anzunehmen, daß sie im allgemeinen zu einer entsprechenden Auf¬ fassung durchdringen. Von einer Beherrschung des Stoffes jedoch kann kaum die Rede sein, und doch liegt der Schwerpunkt der Berufungsentscheidungen bei nur zwei Richtern. *) Der Lord Chief Justice sitzt der Regel nach in erster Instanz. *") Der Lord Chancellor sitzt nur ausnahmsweise in erster Instanz.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/338
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/338>, abgerufen am 03.07.2024.