Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Hygiene", also im Grunde genommen um ein
erneutes Vorwärtsdrängen derjenigen, die die
Gesundheit des Leibes nicht nur des einzelnen
Menschen, sondern der Nationen, ja der
Menschheit selbst als das wichtigste Erforder¬
nis menschlichen Seins in die Hand nehmen
wollen. Ihr Mittel ist nicht philosophische
Spekulation oder grüblerisches Tasten nach
den letzten Dingen. Sie sind Positivisten im
Sinne Müller-Lyers, wenn er in seinem be¬
deutenden Werke "Der Sinn des Lebens"
(I. F. Lehmanns Verlag. München 1910,
Bd. I, S. 37) ausruft: "..., in der Mensch¬
heit sprudelt hell und klar der Quell der Er¬
kenntnis, die wir überall im Weltall vergeblich
gesucht haben; und erst und hier allein spricht
die Stimme des Absoluten zu uns in Lauten,
die wir zu deuten, die wir zu verstehen ver¬
mögen." Sie stützen sich einzig auf die Er¬
fahrungen, die von taufenden immer wieder
gewonnen und von bienenfleißigen Händen
hervorgezogen werden aus Kranken- und
Operationssälen, sentier- und Experi¬
mentierzimmern unter der Lupe des Bak¬
teriologen und aus der Rechenmaschine des
Statistikers.

Grotjahns Werk ist ein praktisches Vor¬
dringen in das dichte Gestrüpp von falschen
Vorstellungen und bewußten Fälschungen, mit
denen der Mystizismus aber auch die Herrsch¬
sucht der Kirche unser gesellschaftliches Leben
umgeben haben. Was er dabei als Arzt und
Menschenfreund fand, hat Grotjahn zusammen¬
gestellt nach dem Gesichtspunkt der Bedeutung
für die sociews. So unterscheidet er sehr
Wohl, daß der Grad der Schmerzhaftigkeit
einzelner Krankheiten, die unser Mitgefühl
mit dem Leidenden besonders herausfordern,
durchaus nicht mit der Höhe ihrer Bedeutung
für die Gesellschaft zusammen zu fallen
braucht, daß vielmehr die Häufigkeit ihres
Vorkommens, also die Größe der Zahl der
von ein und derselben Krankheit betroffenen
Menschen den Ausschlag gibt. Mit den Er¬
gebnissen seiner Untersuchungen wird sich nicht
nur die medizinische, sondern und vielleicht
noch in viel höherem Maße die national¬
ökonomische Wissenschaft auseinanderzusetzen
haben. Und schon dieser Umstand mag darauf
hindeuten, von welcher außerordentlichen
Wichtigkeit sie für den Staatsmann und

[Spaltenumbruch]

wirklichen Politiker sind. Aber erst wenn die
wissenschaftliche Kritik gesprochen haben wird,
werden auch Politiker und Staatsmann nach
dem Buche greifen dürfen, um sich danach
ihre Meinungen zu bilden. Hier sei nur
auf einen Punkt hingewiesen, der bei der
gegenwärtigen Phase des Kampfes zwischen
Theologie und Raturwissenschaft für die
Kampfstellung der Priester die Bedeutung
eines KernwerkeS hat und zugleich die
schwächste Stelle in der Angriffslinie der
Naturwissenschaftler bedeutet. Grotjahn unter¬
sucht nämlich u. a. die Frage: "Wie können
wir pathologische Zustände durch so¬
ziale Maßnahmen in ihrem Verlaufe
beeinflussen oder verhütenl" Zur
Erläuterung dieser Fragestellung schreibt er
weiter und bezieht sich dabei auf eine frühere
Arbeit (Soziale Hygiene und Entartungs¬
problem. Jena 1904, Gustav Fischer.). ,

"Da . .. einer wachsenden hygienischen
Kultur die für den Volkskörper bedenkliche
Wirkung zum Vorwurf gemacht werden kann
(mir scheint es, mit Recht gemacht wird I G. Cl.),
daß sie die körperliche Minderwertigkeit bis
zur Fortpflanzung erhält und so deren Min¬
derwertigkeit im Wege des Erbganges kon¬
serviert, anstatt sie einem frühzeitigen Ende
zu überlassen, berührt sich die soziale Hygiene
auf das engste mit dem Problem der körper¬
lichen Entartung, mit dem sich auseinander¬
zusetzen die Vertreter der sozialen Hygiene
allerdings die Pflicht haben. Denn in der
Tat gibt es Krankheiten, die die starken Kon¬
stitutionen verschonen, während sie die Schwäch¬
linge dahinraffen, so daß eine weitgehende
Prophylaxe dieser Krankheiten den Artprozeß
ungünstig beeinflussen würde. Aber dieser
Konflikt läßt sich vermeiden, wenn man in
das Gebiet der sozialen Hygiene eine sich
sowohl auf genaue Kenntnis des Vererbungs¬
vorganges als auch der bevölkerungsstatisti¬
schen Gesetzmäßigkeiten stützende sexuelle Hy¬
giene einbegreift. Zwar liegen auf diesem
Gebiete gegenwärtig noch keine Leistungen
vor, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit
erheben können; aber wir dürfen doch hoffen,
daß auch dieser Zweig der Hygiene, der nur
in enger Verknüpfung mit dem Studium der
wirtschaftlichen und kulturellen Zustände aus¬
gebildet werden kann, in Zukunft ein frucht-

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Hygiene", also im Grunde genommen um ein
erneutes Vorwärtsdrängen derjenigen, die die
Gesundheit des Leibes nicht nur des einzelnen
Menschen, sondern der Nationen, ja der
Menschheit selbst als das wichtigste Erforder¬
nis menschlichen Seins in die Hand nehmen
wollen. Ihr Mittel ist nicht philosophische
Spekulation oder grüblerisches Tasten nach
den letzten Dingen. Sie sind Positivisten im
Sinne Müller-Lyers, wenn er in seinem be¬
deutenden Werke „Der Sinn des Lebens"
(I. F. Lehmanns Verlag. München 1910,
Bd. I, S. 37) ausruft: „..., in der Mensch¬
heit sprudelt hell und klar der Quell der Er¬
kenntnis, die wir überall im Weltall vergeblich
gesucht haben; und erst und hier allein spricht
die Stimme des Absoluten zu uns in Lauten,
die wir zu deuten, die wir zu verstehen ver¬
mögen." Sie stützen sich einzig auf die Er¬
fahrungen, die von taufenden immer wieder
gewonnen und von bienenfleißigen Händen
hervorgezogen werden aus Kranken- und
Operationssälen, sentier- und Experi¬
mentierzimmern unter der Lupe des Bak¬
teriologen und aus der Rechenmaschine des
Statistikers.

Grotjahns Werk ist ein praktisches Vor¬
dringen in das dichte Gestrüpp von falschen
Vorstellungen und bewußten Fälschungen, mit
denen der Mystizismus aber auch die Herrsch¬
sucht der Kirche unser gesellschaftliches Leben
umgeben haben. Was er dabei als Arzt und
Menschenfreund fand, hat Grotjahn zusammen¬
gestellt nach dem Gesichtspunkt der Bedeutung
für die sociews. So unterscheidet er sehr
Wohl, daß der Grad der Schmerzhaftigkeit
einzelner Krankheiten, die unser Mitgefühl
mit dem Leidenden besonders herausfordern,
durchaus nicht mit der Höhe ihrer Bedeutung
für die Gesellschaft zusammen zu fallen
braucht, daß vielmehr die Häufigkeit ihres
Vorkommens, also die Größe der Zahl der
von ein und derselben Krankheit betroffenen
Menschen den Ausschlag gibt. Mit den Er¬
gebnissen seiner Untersuchungen wird sich nicht
nur die medizinische, sondern und vielleicht
noch in viel höherem Maße die national¬
ökonomische Wissenschaft auseinanderzusetzen
haben. Und schon dieser Umstand mag darauf
hindeuten, von welcher außerordentlichen
Wichtigkeit sie für den Staatsmann und

[Spaltenumbruch]

wirklichen Politiker sind. Aber erst wenn die
wissenschaftliche Kritik gesprochen haben wird,
werden auch Politiker und Staatsmann nach
dem Buche greifen dürfen, um sich danach
ihre Meinungen zu bilden. Hier sei nur
auf einen Punkt hingewiesen, der bei der
gegenwärtigen Phase des Kampfes zwischen
Theologie und Raturwissenschaft für die
Kampfstellung der Priester die Bedeutung
eines KernwerkeS hat und zugleich die
schwächste Stelle in der Angriffslinie der
Naturwissenschaftler bedeutet. Grotjahn unter¬
sucht nämlich u. a. die Frage: „Wie können
wir pathologische Zustände durch so¬
ziale Maßnahmen in ihrem Verlaufe
beeinflussen oder verhütenl" Zur
Erläuterung dieser Fragestellung schreibt er
weiter und bezieht sich dabei auf eine frühere
Arbeit (Soziale Hygiene und Entartungs¬
problem. Jena 1904, Gustav Fischer.). ,

„Da . .. einer wachsenden hygienischen
Kultur die für den Volkskörper bedenkliche
Wirkung zum Vorwurf gemacht werden kann
(mir scheint es, mit Recht gemacht wird I G. Cl.),
daß sie die körperliche Minderwertigkeit bis
zur Fortpflanzung erhält und so deren Min¬
derwertigkeit im Wege des Erbganges kon¬
serviert, anstatt sie einem frühzeitigen Ende
zu überlassen, berührt sich die soziale Hygiene
auf das engste mit dem Problem der körper¬
lichen Entartung, mit dem sich auseinander¬
zusetzen die Vertreter der sozialen Hygiene
allerdings die Pflicht haben. Denn in der
Tat gibt es Krankheiten, die die starken Kon¬
stitutionen verschonen, während sie die Schwäch¬
linge dahinraffen, so daß eine weitgehende
Prophylaxe dieser Krankheiten den Artprozeß
ungünstig beeinflussen würde. Aber dieser
Konflikt läßt sich vermeiden, wenn man in
das Gebiet der sozialen Hygiene eine sich
sowohl auf genaue Kenntnis des Vererbungs¬
vorganges als auch der bevölkerungsstatisti¬
schen Gesetzmäßigkeiten stützende sexuelle Hy¬
giene einbegreift. Zwar liegen auf diesem
Gebiete gegenwärtig noch keine Leistungen
vor, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit
erheben können; aber wir dürfen doch hoffen,
daß auch dieser Zweig der Hygiene, der nur
in enger Verknüpfung mit dem Studium der
wirtschaftlichen und kulturellen Zustände aus¬
gebildet werden kann, in Zukunft ein frucht-

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322037"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_1206" prev="#ID_1205"> Hygiene", also im Grunde genommen um ein<lb/>
erneutes Vorwärtsdrängen derjenigen, die die<lb/>
Gesundheit des Leibes nicht nur des einzelnen<lb/>
Menschen, sondern der Nationen, ja der<lb/>
Menschheit selbst als das wichtigste Erforder¬<lb/>
nis menschlichen Seins in die Hand nehmen<lb/>
wollen. Ihr Mittel ist nicht philosophische<lb/>
Spekulation oder grüblerisches Tasten nach<lb/>
den letzten Dingen. Sie sind Positivisten im<lb/>
Sinne Müller-Lyers, wenn er in seinem be¬<lb/>
deutenden Werke &#x201E;Der Sinn des Lebens"<lb/>
(I. F. Lehmanns Verlag. München 1910,<lb/>
Bd. I, S. 37) ausruft: &#x201E;..., in der Mensch¬<lb/>
heit sprudelt hell und klar der Quell der Er¬<lb/>
kenntnis, die wir überall im Weltall vergeblich<lb/>
gesucht haben; und erst und hier allein spricht<lb/>
die Stimme des Absoluten zu uns in Lauten,<lb/>
die wir zu deuten, die wir zu verstehen ver¬<lb/>
mögen." Sie stützen sich einzig auf die Er¬<lb/>
fahrungen, die von taufenden immer wieder<lb/>
gewonnen und von bienenfleißigen Händen<lb/>
hervorgezogen werden aus Kranken- und<lb/>
Operationssälen, sentier- und Experi¬<lb/>
mentierzimmern unter der Lupe des Bak¬<lb/>
teriologen und aus der Rechenmaschine des<lb/>
Statistikers.</p>
            <p xml:id="ID_1207" next="#ID_1208"> Grotjahns Werk ist ein praktisches Vor¬<lb/>
dringen in das dichte Gestrüpp von falschen<lb/>
Vorstellungen und bewußten Fälschungen, mit<lb/>
denen der Mystizismus aber auch die Herrsch¬<lb/>
sucht der Kirche unser gesellschaftliches Leben<lb/>
umgeben haben. Was er dabei als Arzt und<lb/>
Menschenfreund fand, hat Grotjahn zusammen¬<lb/>
gestellt nach dem Gesichtspunkt der Bedeutung<lb/>
für die sociews. So unterscheidet er sehr<lb/>
Wohl, daß der Grad der Schmerzhaftigkeit<lb/>
einzelner Krankheiten, die unser Mitgefühl<lb/>
mit dem Leidenden besonders herausfordern,<lb/>
durchaus nicht mit der Höhe ihrer Bedeutung<lb/>
für die Gesellschaft zusammen zu fallen<lb/>
braucht, daß vielmehr die Häufigkeit ihres<lb/>
Vorkommens, also die Größe der Zahl der<lb/>
von ein und derselben Krankheit betroffenen<lb/>
Menschen den Ausschlag gibt. Mit den Er¬<lb/>
gebnissen seiner Untersuchungen wird sich nicht<lb/>
nur die medizinische, sondern und vielleicht<lb/>
noch in viel höherem Maße die national¬<lb/>
ökonomische Wissenschaft auseinanderzusetzen<lb/>
haben. Und schon dieser Umstand mag darauf<lb/>
hindeuten, von welcher außerordentlichen<lb/>
Wichtigkeit sie für den Staatsmann und</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_1208" prev="#ID_1207"> wirklichen Politiker sind. Aber erst wenn die<lb/>
wissenschaftliche Kritik gesprochen haben wird,<lb/>
werden auch Politiker und Staatsmann nach<lb/>
dem Buche greifen dürfen, um sich danach<lb/>
ihre Meinungen zu bilden. Hier sei nur<lb/>
auf einen Punkt hingewiesen, der bei der<lb/>
gegenwärtigen Phase des Kampfes zwischen<lb/>
Theologie und Raturwissenschaft für die<lb/>
Kampfstellung der Priester die Bedeutung<lb/>
eines KernwerkeS hat und zugleich die<lb/>
schwächste Stelle in der Angriffslinie der<lb/>
Naturwissenschaftler bedeutet. Grotjahn unter¬<lb/>
sucht nämlich u. a. die Frage: &#x201E;Wie können<lb/>
wir pathologische Zustände durch so¬<lb/>
ziale Maßnahmen in ihrem Verlaufe<lb/>
beeinflussen oder verhütenl" Zur<lb/>
Erläuterung dieser Fragestellung schreibt er<lb/>
weiter und bezieht sich dabei auf eine frühere<lb/>
Arbeit (Soziale Hygiene und Entartungs¬<lb/>
problem. Jena 1904, Gustav Fischer.). ,</p>
            <p xml:id="ID_1209" next="#ID_1210"> &#x201E;Da . .. einer wachsenden hygienischen<lb/>
Kultur die für den Volkskörper bedenkliche<lb/>
Wirkung zum Vorwurf gemacht werden kann<lb/>
(mir scheint es, mit Recht gemacht wird I G. Cl.),<lb/>
daß sie die körperliche Minderwertigkeit bis<lb/>
zur Fortpflanzung erhält und so deren Min¬<lb/>
derwertigkeit im Wege des Erbganges kon¬<lb/>
serviert, anstatt sie einem frühzeitigen Ende<lb/>
zu überlassen, berührt sich die soziale Hygiene<lb/>
auf das engste mit dem Problem der körper¬<lb/>
lichen Entartung, mit dem sich auseinander¬<lb/>
zusetzen die Vertreter der sozialen Hygiene<lb/>
allerdings die Pflicht haben. Denn in der<lb/>
Tat gibt es Krankheiten, die die starken Kon¬<lb/>
stitutionen verschonen, während sie die Schwäch¬<lb/>
linge dahinraffen, so daß eine weitgehende<lb/>
Prophylaxe dieser Krankheiten den Artprozeß<lb/>
ungünstig beeinflussen würde. Aber dieser<lb/>
Konflikt läßt sich vermeiden, wenn man in<lb/>
das Gebiet der sozialen Hygiene eine sich<lb/>
sowohl auf genaue Kenntnis des Vererbungs¬<lb/>
vorganges als auch der bevölkerungsstatisti¬<lb/>
schen Gesetzmäßigkeiten stützende sexuelle Hy¬<lb/>
giene einbegreift. Zwar liegen auf diesem<lb/>
Gebiete gegenwärtig noch keine Leistungen<lb/>
vor, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit<lb/>
erheben können; aber wir dürfen doch hoffen,<lb/>
daß auch dieser Zweig der Hygiene, der nur<lb/>
in enger Verknüpfung mit dem Studium der<lb/>
wirtschaftlichen und kulturellen Zustände aus¬<lb/>
gebildet werden kann, in Zukunft ein frucht-</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0290] Maßgebliches und Unmaßgebliches Hygiene", also im Grunde genommen um ein erneutes Vorwärtsdrängen derjenigen, die die Gesundheit des Leibes nicht nur des einzelnen Menschen, sondern der Nationen, ja der Menschheit selbst als das wichtigste Erforder¬ nis menschlichen Seins in die Hand nehmen wollen. Ihr Mittel ist nicht philosophische Spekulation oder grüblerisches Tasten nach den letzten Dingen. Sie sind Positivisten im Sinne Müller-Lyers, wenn er in seinem be¬ deutenden Werke „Der Sinn des Lebens" (I. F. Lehmanns Verlag. München 1910, Bd. I, S. 37) ausruft: „..., in der Mensch¬ heit sprudelt hell und klar der Quell der Er¬ kenntnis, die wir überall im Weltall vergeblich gesucht haben; und erst und hier allein spricht die Stimme des Absoluten zu uns in Lauten, die wir zu deuten, die wir zu verstehen ver¬ mögen." Sie stützen sich einzig auf die Er¬ fahrungen, die von taufenden immer wieder gewonnen und von bienenfleißigen Händen hervorgezogen werden aus Kranken- und Operationssälen, sentier- und Experi¬ mentierzimmern unter der Lupe des Bak¬ teriologen und aus der Rechenmaschine des Statistikers. Grotjahns Werk ist ein praktisches Vor¬ dringen in das dichte Gestrüpp von falschen Vorstellungen und bewußten Fälschungen, mit denen der Mystizismus aber auch die Herrsch¬ sucht der Kirche unser gesellschaftliches Leben umgeben haben. Was er dabei als Arzt und Menschenfreund fand, hat Grotjahn zusammen¬ gestellt nach dem Gesichtspunkt der Bedeutung für die sociews. So unterscheidet er sehr Wohl, daß der Grad der Schmerzhaftigkeit einzelner Krankheiten, die unser Mitgefühl mit dem Leidenden besonders herausfordern, durchaus nicht mit der Höhe ihrer Bedeutung für die Gesellschaft zusammen zu fallen braucht, daß vielmehr die Häufigkeit ihres Vorkommens, also die Größe der Zahl der von ein und derselben Krankheit betroffenen Menschen den Ausschlag gibt. Mit den Er¬ gebnissen seiner Untersuchungen wird sich nicht nur die medizinische, sondern und vielleicht noch in viel höherem Maße die national¬ ökonomische Wissenschaft auseinanderzusetzen haben. Und schon dieser Umstand mag darauf hindeuten, von welcher außerordentlichen Wichtigkeit sie für den Staatsmann und wirklichen Politiker sind. Aber erst wenn die wissenschaftliche Kritik gesprochen haben wird, werden auch Politiker und Staatsmann nach dem Buche greifen dürfen, um sich danach ihre Meinungen zu bilden. Hier sei nur auf einen Punkt hingewiesen, der bei der gegenwärtigen Phase des Kampfes zwischen Theologie und Raturwissenschaft für die Kampfstellung der Priester die Bedeutung eines KernwerkeS hat und zugleich die schwächste Stelle in der Angriffslinie der Naturwissenschaftler bedeutet. Grotjahn unter¬ sucht nämlich u. a. die Frage: „Wie können wir pathologische Zustände durch so¬ ziale Maßnahmen in ihrem Verlaufe beeinflussen oder verhütenl" Zur Erläuterung dieser Fragestellung schreibt er weiter und bezieht sich dabei auf eine frühere Arbeit (Soziale Hygiene und Entartungs¬ problem. Jena 1904, Gustav Fischer.). , „Da . .. einer wachsenden hygienischen Kultur die für den Volkskörper bedenkliche Wirkung zum Vorwurf gemacht werden kann (mir scheint es, mit Recht gemacht wird I G. Cl.), daß sie die körperliche Minderwertigkeit bis zur Fortpflanzung erhält und so deren Min¬ derwertigkeit im Wege des Erbganges kon¬ serviert, anstatt sie einem frühzeitigen Ende zu überlassen, berührt sich die soziale Hygiene auf das engste mit dem Problem der körper¬ lichen Entartung, mit dem sich auseinander¬ zusetzen die Vertreter der sozialen Hygiene allerdings die Pflicht haben. Denn in der Tat gibt es Krankheiten, die die starken Kon¬ stitutionen verschonen, während sie die Schwäch¬ linge dahinraffen, so daß eine weitgehende Prophylaxe dieser Krankheiten den Artprozeß ungünstig beeinflussen würde. Aber dieser Konflikt läßt sich vermeiden, wenn man in das Gebiet der sozialen Hygiene eine sich sowohl auf genaue Kenntnis des Vererbungs¬ vorganges als auch der bevölkerungsstatisti¬ schen Gesetzmäßigkeiten stützende sexuelle Hy¬ giene einbegreift. Zwar liegen auf diesem Gebiete gegenwärtig noch keine Leistungen vor, die den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können; aber wir dürfen doch hoffen, daß auch dieser Zweig der Hygiene, der nur in enger Verknüpfung mit dem Studium der wirtschaftlichen und kulturellen Zustände aus¬ gebildet werden kann, in Zukunft ein frucht-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/290
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/290>, abgerufen am 01.07.2024.