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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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^rnhlingsfluten

Von allen Seiten schienen graubärtige Riesen aufzutauchen, die mit den
Armen winkten: das war der Nebel, der solche Scherze trieb und allerlei
Formen annahm. Kein Stern war zu sehen. Das Wasser rauschte. Und es
klang, als höre man hin und wieder Stimmen aus der Tiefe. Auf den unend¬
lichen Wassern wanderte die Nacht und lauschte dem Frühlingsbrausen.

Aus dem Tarantaß kroch der betrunkene Aufseher und kletterte schwerfällig
auf den Stein. Sein Gesicht war abstoßend und schrecklich.

Da hörte man plötzlich im Nebel einen langen, durchdringenden Pfiff.

"Die Tamatschi," murmelte der Aufseher, "das sind sie. . ."

Sonja lachte unerwartet auf. "Was liegt daran?" dachte sie. "Ist es
nicht gleich?"

"Die Tamatschi. Es ist aus mit uns. Sie verfolgen uns!"

"Mir scheint, ich höre Pferdegetrappel", sagte Sonja aufhorchend.

Gleich darauf wurde im Nebel die Gestalt eines Reiters sichtbar. Groß und
grau glich sie einer Riesenfledermaus. Eine halbe Minute schwankte das Phantom
im Nebel, dann verschwand es.

"Er reitet zu seinen Kameraden", sagte der Aufseher.

Sonja sah ihn an, er war nüchtern, und es kam ihr vor, als ob in seinen
Augen etwas Menschliches leuchte. .. .

"Das hat die Angst vor dem Tode bewirkt", dachte Sonja.

"Ich habe die Furt gefunden", sagte der Kutscher, auf den Bock kletternd.

"Die Tamatschi!" schrie ihm der Aufseher ins Ohr, so laut er konnte.

Der Kutscher begriff, hieb auf die Pferde ein, und der Tarantaß flog dahin.

Das Wasser schäumte und stöhnte unter den Rädern. Der Nebel ballte sich
zusammen. Unter dem Wasser erzitterte die Erde.

Die Troika flog dahin.

Und plötzlich pfiff im Nebel eine Kugel vorbei, es klang wie ein Peitschenhieb.

Sonja Kaürina wurde es leicht zumute, der Aufseher hatte den Kopf gesenkt
und schwieg. Und wieder pfiff die Kugel. "Recht so," dachte sie, "recht so . . ."

Vor ihrer Seele stand das Bild ihres Bräutigams, und ihr Herz sang das
Schwanenlied der Liebe.

Und als die Troika den Abhang hinauf raste und das Mittelpferd mit der
Deichsel an die Pforte des Grigorjewschen Stationsgebäudes anprallte und weit
hinten im Nebel die Tamatschi verschwanden, regte sich in Sonja der Wunsch, aufs
neue so im Kugelregen dahinzufliegen mit der todesbereiten Liebe im Herzen.




^rnhlingsfluten

Von allen Seiten schienen graubärtige Riesen aufzutauchen, die mit den
Armen winkten: das war der Nebel, der solche Scherze trieb und allerlei
Formen annahm. Kein Stern war zu sehen. Das Wasser rauschte. Und es
klang, als höre man hin und wieder Stimmen aus der Tiefe. Auf den unend¬
lichen Wassern wanderte die Nacht und lauschte dem Frühlingsbrausen.

Aus dem Tarantaß kroch der betrunkene Aufseher und kletterte schwerfällig
auf den Stein. Sein Gesicht war abstoßend und schrecklich.

Da hörte man plötzlich im Nebel einen langen, durchdringenden Pfiff.

„Die Tamatschi," murmelte der Aufseher, „das sind sie. . ."

Sonja lachte unerwartet auf. „Was liegt daran?" dachte sie. „Ist es
nicht gleich?"

„Die Tamatschi. Es ist aus mit uns. Sie verfolgen uns!"

„Mir scheint, ich höre Pferdegetrappel", sagte Sonja aufhorchend.

Gleich darauf wurde im Nebel die Gestalt eines Reiters sichtbar. Groß und
grau glich sie einer Riesenfledermaus. Eine halbe Minute schwankte das Phantom
im Nebel, dann verschwand es.

„Er reitet zu seinen Kameraden", sagte der Aufseher.

Sonja sah ihn an, er war nüchtern, und es kam ihr vor, als ob in seinen
Augen etwas Menschliches leuchte. .. .

„Das hat die Angst vor dem Tode bewirkt", dachte Sonja.

„Ich habe die Furt gefunden", sagte der Kutscher, auf den Bock kletternd.

„Die Tamatschi!" schrie ihm der Aufseher ins Ohr, so laut er konnte.

Der Kutscher begriff, hieb auf die Pferde ein, und der Tarantaß flog dahin.

Das Wasser schäumte und stöhnte unter den Rädern. Der Nebel ballte sich
zusammen. Unter dem Wasser erzitterte die Erde.

Die Troika flog dahin.

Und plötzlich pfiff im Nebel eine Kugel vorbei, es klang wie ein Peitschenhieb.

Sonja Kaürina wurde es leicht zumute, der Aufseher hatte den Kopf gesenkt
und schwieg. Und wieder pfiff die Kugel. „Recht so," dachte sie, „recht so . . ."

Vor ihrer Seele stand das Bild ihres Bräutigams, und ihr Herz sang das
Schwanenlied der Liebe.

Und als die Troika den Abhang hinauf raste und das Mittelpferd mit der
Deichsel an die Pforte des Grigorjewschen Stationsgebäudes anprallte und weit
hinten im Nebel die Tamatschi verschwanden, regte sich in Sonja der Wunsch, aufs
neue so im Kugelregen dahinzufliegen mit der todesbereiten Liebe im Herzen.




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[0094] ^rnhlingsfluten Von allen Seiten schienen graubärtige Riesen aufzutauchen, die mit den Armen winkten: das war der Nebel, der solche Scherze trieb und allerlei Formen annahm. Kein Stern war zu sehen. Das Wasser rauschte. Und es klang, als höre man hin und wieder Stimmen aus der Tiefe. Auf den unend¬ lichen Wassern wanderte die Nacht und lauschte dem Frühlingsbrausen. Aus dem Tarantaß kroch der betrunkene Aufseher und kletterte schwerfällig auf den Stein. Sein Gesicht war abstoßend und schrecklich. Da hörte man plötzlich im Nebel einen langen, durchdringenden Pfiff. „Die Tamatschi," murmelte der Aufseher, „das sind sie. . ." Sonja lachte unerwartet auf. „Was liegt daran?" dachte sie. „Ist es nicht gleich?" „Die Tamatschi. Es ist aus mit uns. Sie verfolgen uns!" „Mir scheint, ich höre Pferdegetrappel", sagte Sonja aufhorchend. Gleich darauf wurde im Nebel die Gestalt eines Reiters sichtbar. Groß und grau glich sie einer Riesenfledermaus. Eine halbe Minute schwankte das Phantom im Nebel, dann verschwand es. „Er reitet zu seinen Kameraden", sagte der Aufseher. Sonja sah ihn an, er war nüchtern, und es kam ihr vor, als ob in seinen Augen etwas Menschliches leuchte. .. . „Das hat die Angst vor dem Tode bewirkt", dachte Sonja. „Ich habe die Furt gefunden", sagte der Kutscher, auf den Bock kletternd. „Die Tamatschi!" schrie ihm der Aufseher ins Ohr, so laut er konnte. Der Kutscher begriff, hieb auf die Pferde ein, und der Tarantaß flog dahin. Das Wasser schäumte und stöhnte unter den Rädern. Der Nebel ballte sich zusammen. Unter dem Wasser erzitterte die Erde. Die Troika flog dahin. Und plötzlich pfiff im Nebel eine Kugel vorbei, es klang wie ein Peitschenhieb. Sonja Kaürina wurde es leicht zumute, der Aufseher hatte den Kopf gesenkt und schwieg. Und wieder pfiff die Kugel. „Recht so," dachte sie, „recht so . . ." Vor ihrer Seele stand das Bild ihres Bräutigams, und ihr Herz sang das Schwanenlied der Liebe. Und als die Troika den Abhang hinauf raste und das Mittelpferd mit der Deichsel an die Pforte des Grigorjewschen Stationsgebäudes anprallte und weit hinten im Nebel die Tamatschi verschwanden, regte sich in Sonja der Wunsch, aufs neue so im Kugelregen dahinzufliegen mit der todesbereiten Liebe im Herzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/94>, abgerufen am 22.07.2024.