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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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FrühUngsfluten

In dein Chaos von Erde und Wasser kam Sonja Kaüriua sich klein und
verlassen vor. Am Himmel stieg eine glanzlose, rötliche, unförmliche Sonne auf,
umgeben von weißen, zerrissenen Wolken.

"Ich sehe Sie an, Fräulein, und wundere mich," sagte der alte Mann. "Sie
reisen so allein . . . Wohin und warum kann mir gleichgültig sein. Nur das eine
wundert mich, daß Sie keine Furcht haben. Und das ist gilt. Es steht geschrieben:
Die vollkommene Liebe treibet die Furcht ans. Man soll sich nicht fürchten,
weder vor den bösen noch vor den guten Geistern, und sogar nicht vor den
Menschen."

"Warum glauben Sie, daß ich mich nicht fürchte."

"Ich sehe Ihr Zeichen. Ein jeder Mensch hat sein Zeichen, der eine das
Zeichen der Furcht, der andere das Zeichen der Liebe."

"Und gibt es auch Menschen, die kein Zeichen haben?"

"Jawohl. Das sind Menschen wie Spreu. Sie leben und sterben, ohne sich
selbst zu kennen. Das sind keine wirklichen Menschen."

"Und welches Zeichen habe ich?" mischte sich der Aufseher ins Gespräch.

"Ich weiß es nicht, mein Lieber, ich weiß es nicht. Ich sehe dein Zeichen
nicht und möchte nicht lügen."

"Ich habe das Zeichen der Verliebtheit", sagte der Aufseher lächelnd, und
Sonja schien es, als hätte sein Fuß den ihrigen berührt.

Eine Troika kam ihnen entgegen. Unerwartet tauchten aus dem weißen Dunst
die schwarzen Köpfe der Pferde, das Fuhrwerk und der angetrunkene Kutscher auf.
Und wieder war alles vom Nebel verhüllt. --

Auch zur Nacht verzog der Nebel sich nicht. Es hatte den Anschein, als
wären Himmel und Erde mit Asche überzogen.

Ein fester Weg war nicht mehr vorhanden. Das Wasser reichte schon bis
an das Trittbrett des Tarantaß. In Karpowka hatte der Aufseher sich Brannt¬
wein geben lassen. Sonja fühlte jetzt, daß er betrunken war, und eine große
Unrnhe erfaßte ihr Herz.

"Unser Kutscher ist taub," bemerkte der Aufseher und deutete auf den gebeugten
Rücken des Fuhrmannes. "Wir können sprechen, was wir wollen, er hört
nichts."

"Wir haben keine Geheimnisse," sagte Sonja ängstlich. "Ich verstehe nicht,
was Sie meinen."

"Was ist denn da zu verstehen? Ich spreche von der Sympathie."

"Was sagen Sie?"

"Von der Sympathie", wiederholte er. "Wenn das Herz schneller schlägt. . ."
"

"Ach, mein Gott, rief Sonja, "ich glaube, wir sinken."

"Oho, halt an, Kutscher I . .."

Der Tarantaß legte sich auf die Seite, so daß das Wasser hereindrang.

"Halt! Dummkopf! . . ."

Der Aufseher erhob sich und riß, hinter dem Rücken des Kutschers, an den
Zügeln.

Die Pferde zogen rechts an, und der Tarantaß kam wieder ins Gleichgewicht.

"So ist es gut", sagte er lustig.


FrühUngsfluten

In dein Chaos von Erde und Wasser kam Sonja Kaüriua sich klein und
verlassen vor. Am Himmel stieg eine glanzlose, rötliche, unförmliche Sonne auf,
umgeben von weißen, zerrissenen Wolken.

„Ich sehe Sie an, Fräulein, und wundere mich," sagte der alte Mann. „Sie
reisen so allein . . . Wohin und warum kann mir gleichgültig sein. Nur das eine
wundert mich, daß Sie keine Furcht haben. Und das ist gilt. Es steht geschrieben:
Die vollkommene Liebe treibet die Furcht ans. Man soll sich nicht fürchten,
weder vor den bösen noch vor den guten Geistern, und sogar nicht vor den
Menschen."

„Warum glauben Sie, daß ich mich nicht fürchte."

„Ich sehe Ihr Zeichen. Ein jeder Mensch hat sein Zeichen, der eine das
Zeichen der Furcht, der andere das Zeichen der Liebe."

„Und gibt es auch Menschen, die kein Zeichen haben?"

„Jawohl. Das sind Menschen wie Spreu. Sie leben und sterben, ohne sich
selbst zu kennen. Das sind keine wirklichen Menschen."

„Und welches Zeichen habe ich?" mischte sich der Aufseher ins Gespräch.

„Ich weiß es nicht, mein Lieber, ich weiß es nicht. Ich sehe dein Zeichen
nicht und möchte nicht lügen."

„Ich habe das Zeichen der Verliebtheit", sagte der Aufseher lächelnd, und
Sonja schien es, als hätte sein Fuß den ihrigen berührt.

Eine Troika kam ihnen entgegen. Unerwartet tauchten aus dem weißen Dunst
die schwarzen Köpfe der Pferde, das Fuhrwerk und der angetrunkene Kutscher auf.
Und wieder war alles vom Nebel verhüllt. —

Auch zur Nacht verzog der Nebel sich nicht. Es hatte den Anschein, als
wären Himmel und Erde mit Asche überzogen.

Ein fester Weg war nicht mehr vorhanden. Das Wasser reichte schon bis
an das Trittbrett des Tarantaß. In Karpowka hatte der Aufseher sich Brannt¬
wein geben lassen. Sonja fühlte jetzt, daß er betrunken war, und eine große
Unrnhe erfaßte ihr Herz.

„Unser Kutscher ist taub," bemerkte der Aufseher und deutete auf den gebeugten
Rücken des Fuhrmannes. „Wir können sprechen, was wir wollen, er hört
nichts."

„Wir haben keine Geheimnisse," sagte Sonja ängstlich. „Ich verstehe nicht,
was Sie meinen."

„Was ist denn da zu verstehen? Ich spreche von der Sympathie."

„Was sagen Sie?"

„Von der Sympathie", wiederholte er. „Wenn das Herz schneller schlägt. . ."
"

„Ach, mein Gott, rief Sonja, „ich glaube, wir sinken."

„Oho, halt an, Kutscher I . .."

Der Tarantaß legte sich auf die Seite, so daß das Wasser hereindrang.

„Halt! Dummkopf! . . ."

Der Aufseher erhob sich und riß, hinter dem Rücken des Kutschers, an den
Zügeln.

Die Pferde zogen rechts an, und der Tarantaß kam wieder ins Gleichgewicht.

„So ist es gut", sagte er lustig.


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[0092] FrühUngsfluten In dein Chaos von Erde und Wasser kam Sonja Kaüriua sich klein und verlassen vor. Am Himmel stieg eine glanzlose, rötliche, unförmliche Sonne auf, umgeben von weißen, zerrissenen Wolken. „Ich sehe Sie an, Fräulein, und wundere mich," sagte der alte Mann. „Sie reisen so allein . . . Wohin und warum kann mir gleichgültig sein. Nur das eine wundert mich, daß Sie keine Furcht haben. Und das ist gilt. Es steht geschrieben: Die vollkommene Liebe treibet die Furcht ans. Man soll sich nicht fürchten, weder vor den bösen noch vor den guten Geistern, und sogar nicht vor den Menschen." „Warum glauben Sie, daß ich mich nicht fürchte." „Ich sehe Ihr Zeichen. Ein jeder Mensch hat sein Zeichen, der eine das Zeichen der Furcht, der andere das Zeichen der Liebe." „Und gibt es auch Menschen, die kein Zeichen haben?" „Jawohl. Das sind Menschen wie Spreu. Sie leben und sterben, ohne sich selbst zu kennen. Das sind keine wirklichen Menschen." „Und welches Zeichen habe ich?" mischte sich der Aufseher ins Gespräch. „Ich weiß es nicht, mein Lieber, ich weiß es nicht. Ich sehe dein Zeichen nicht und möchte nicht lügen." „Ich habe das Zeichen der Verliebtheit", sagte der Aufseher lächelnd, und Sonja schien es, als hätte sein Fuß den ihrigen berührt. Eine Troika kam ihnen entgegen. Unerwartet tauchten aus dem weißen Dunst die schwarzen Köpfe der Pferde, das Fuhrwerk und der angetrunkene Kutscher auf. Und wieder war alles vom Nebel verhüllt. — Auch zur Nacht verzog der Nebel sich nicht. Es hatte den Anschein, als wären Himmel und Erde mit Asche überzogen. Ein fester Weg war nicht mehr vorhanden. Das Wasser reichte schon bis an das Trittbrett des Tarantaß. In Karpowka hatte der Aufseher sich Brannt¬ wein geben lassen. Sonja fühlte jetzt, daß er betrunken war, und eine große Unrnhe erfaßte ihr Herz. „Unser Kutscher ist taub," bemerkte der Aufseher und deutete auf den gebeugten Rücken des Fuhrmannes. „Wir können sprechen, was wir wollen, er hört nichts." „Wir haben keine Geheimnisse," sagte Sonja ängstlich. „Ich verstehe nicht, was Sie meinen." „Was ist denn da zu verstehen? Ich spreche von der Sympathie." „Was sagen Sie?" „Von der Sympathie", wiederholte er. „Wenn das Herz schneller schlägt. . ." " „Ach, mein Gott, rief Sonja, „ich glaube, wir sinken." „Oho, halt an, Kutscher I . .." Der Tarantaß legte sich auf die Seite, so daß das Wasser hereindrang. „Halt! Dummkopf! . . ." Der Aufseher erhob sich und riß, hinter dem Rücken des Kutschers, an den Zügeln. Die Pferde zogen rechts an, und der Tarantaß kam wieder ins Gleichgewicht. „So ist es gut", sagte er lustig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/92>, abgerufen am 23.07.2024.