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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Tonstück löst sich eben dadurch vom Kom¬
ponisten ab; seine Person wird ganz gleich¬
gültig, und der Geübte bedarf zum Genusse
nicht einmal der tönenden Vermittlung von
seiner oder dritter Seite: er liest mit den
Augen und hört mit dem inneren Ohr. Ebenso
ist eS mit Dichter, Bildhauer und Maler:
was kümmert uns die wirkliche Persönlichkeit
des Dichters, wenn wir seine Werke lesen oder
lesen hören, was der soundso aussehende Bild¬
hauer A. oderMalerB., wenn wir ihre Plastiker
und Bilder betrachten? Auch die nachschaffenden
Künstler machen keine Ausnahme: es ist voll¬
kommen gleichgültig, ob dieser Klavierspieler
groß, jener klein ist, ob Violinist I einen Bart
trägt und II nicht, ob der Sänger A. blond,
der Vortragende B. braun ist usw. Ja, man
brauchte Künstler dieser Art überhaupt nicht
zu sehen; würde nur der Gehörszweck erreicht,
auf den Anblick ihrer Körperlichkeit könnten
wir verzichten, wenn -- es ihnen und dem
Publikum auf die Sache und nicht auf die
Person und auf Persönliches ankäme! Zur
Hervorbringung des einheitlichen Kunstwerks,
der einheitlichen Leistung, müssen freilich alle
jene Künstler mit ihrer Person da sein oder
dagewesen sein, aber ihre Körperlichkeit bildet
keinen unabtrennbaren Teil. Die angeschla¬
genen Klavier-, abgestrichenen Geigentöne, die
gesungenen, gesprochenen, gelesenen Worte, die
Bilder und Plastiker lösen sich in ihrer Ge¬
säme- und Ganzheit vom Künstler ab, ver¬
selbständigen sich und treten zwischen ihn und
das Publikum. Schließlich hält der moderne
Phonograph den Klang der Instrumente und
die menschliche Stimme mit einer Vollkommen¬
heit fest, welche die Technik immer noch zu
steigern trachtet. Ich kann Klang und Stimme
in meinem Zimmer zu Gehör bringen; ich
brauche den betreffenden Künstler niemals ge¬
sehen zu haben, weder in Wirklichkeit noch im
Bilde, brauche nicht einmal zu wissen, wessen
Spiel oder Stimme aus dem Schalltrichter
tönt -- vermag ich von: Mechanischen des
Ganzen abzusehen, kann ich sehr Wohl einen
Genuß haben, freilich nur einen stellvertreten¬
den, mittelbaren, einen Genuß aus zweiter
Hand. Nun gibt eS aber schon eine Ver¬
bindung von Phono- und Kinematograph,
sprechende, singende und sich bewegende
scheinbar "lebende Bilder", eine zeitlich-räum¬

[Spaltenumbruch]

liche Verbindung von Ton und Gebärde, eine
mechanische Schauspielkunst, denn was ist die
Schauspielkunst anderes als eine solche Ver¬
bindung? Aber diese Phono-kinematographische,
diese "biophone" Kunst, ist eine zweite "Schau¬
spielkunst" und ohne Voraussetzung der "ersten",
unmöglich.

Ist die Körperlichkeit der wesentlichste Faktor
bei der Schauspielkunst, so ist das Publikum die
wichtigste Boraussetzung zur Ausübung dersel¬
ben. Der Schauspieler "spielt zur Schau", er
will gesehen werden, sei es auch nur von einem
einzigen. Ein auf die "Schau" verzichtender
Schauspieler ist ein Widerspruch in sich; nicht
so der auf das Gelesen-, Gehört- und Be¬
trachtetwerden verzichtende Dichter, Komponist,
Maler und Bildhauer. Ihr Schaffen ist ein
"Hervorbringen aus dem Schatz des Herzens",
ein Sich-befreien und -entladen von Eigensten
und Allgemeinsamem. Liebäugeln mit dem
Publikum hat ihnen noch immer geschadet.
Der Schauspieler aber spielt für ein und vor
einem Publikum, und wenn er sagt, das
Spielen sei ihm nur Mittel und Form sich
auszusprechen, die wahre Bühne sei nicht die
Wirkliche, sondern sein einsames Zimmer und
das ideale Publikum die eigene Phantasie, so
ist er ein Jdeologe, ein guter Mensch, aber
ein schlechter Musikant. Man ist Schauspieler
für die Bühne und auf der Bühne, oder man
ist es überhaupt nicht riic kikoclusl Eine
bloß rhetorische Begabung genügt für den
Vortragskünstler, nicht für den Schauspieler.
Der Unterschied zwischen Vortragspodium und
Bühne darf nicht verwischt werden, Konzert¬
sänger und Rezitatoren sollen nicht Schau¬
spielern, und Bühnenkünstler machen im Kon¬
zertsaal nicht immer eine glückliche Figur.

Der Schauspieler macht sein Geistig-Körper¬
liches, seine Persönlichkeit, sich selbst zum Kunst-
Werk, ist Schöpfer und Geschöpf, Subjekt und
Objekt, Ich und Nicht-Ich, Eins und Zwei,
ganz und geteilt, oder wie man sich sonst
ausdrücken will. Und in dieser seiner Per¬
sönlichkeit ist seine sehbare Körperlichkeit schlecht¬
hin unentbehrlich. Sie ist das eine Element,
aus dem sein Genius das räumlich-zeitliche
Kunstwerk des Augen- und OhrenscheinS")

[Ende Spaltensatz]
*) Dieses Merkmal ist die einzige, un-
überschreitbare Grenze der Schauspielkunst
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Tonstück löst sich eben dadurch vom Kom¬
ponisten ab; seine Person wird ganz gleich¬
gültig, und der Geübte bedarf zum Genusse
nicht einmal der tönenden Vermittlung von
seiner oder dritter Seite: er liest mit den
Augen und hört mit dem inneren Ohr. Ebenso
ist eS mit Dichter, Bildhauer und Maler:
was kümmert uns die wirkliche Persönlichkeit
des Dichters, wenn wir seine Werke lesen oder
lesen hören, was der soundso aussehende Bild¬
hauer A. oderMalerB., wenn wir ihre Plastiker
und Bilder betrachten? Auch die nachschaffenden
Künstler machen keine Ausnahme: es ist voll¬
kommen gleichgültig, ob dieser Klavierspieler
groß, jener klein ist, ob Violinist I einen Bart
trägt und II nicht, ob der Sänger A. blond,
der Vortragende B. braun ist usw. Ja, man
brauchte Künstler dieser Art überhaupt nicht
zu sehen; würde nur der Gehörszweck erreicht,
auf den Anblick ihrer Körperlichkeit könnten
wir verzichten, wenn — es ihnen und dem
Publikum auf die Sache und nicht auf die
Person und auf Persönliches ankäme! Zur
Hervorbringung des einheitlichen Kunstwerks,
der einheitlichen Leistung, müssen freilich alle
jene Künstler mit ihrer Person da sein oder
dagewesen sein, aber ihre Körperlichkeit bildet
keinen unabtrennbaren Teil. Die angeschla¬
genen Klavier-, abgestrichenen Geigentöne, die
gesungenen, gesprochenen, gelesenen Worte, die
Bilder und Plastiker lösen sich in ihrer Ge¬
säme- und Ganzheit vom Künstler ab, ver¬
selbständigen sich und treten zwischen ihn und
das Publikum. Schließlich hält der moderne
Phonograph den Klang der Instrumente und
die menschliche Stimme mit einer Vollkommen¬
heit fest, welche die Technik immer noch zu
steigern trachtet. Ich kann Klang und Stimme
in meinem Zimmer zu Gehör bringen; ich
brauche den betreffenden Künstler niemals ge¬
sehen zu haben, weder in Wirklichkeit noch im
Bilde, brauche nicht einmal zu wissen, wessen
Spiel oder Stimme aus dem Schalltrichter
tönt — vermag ich von: Mechanischen des
Ganzen abzusehen, kann ich sehr Wohl einen
Genuß haben, freilich nur einen stellvertreten¬
den, mittelbaren, einen Genuß aus zweiter
Hand. Nun gibt eS aber schon eine Ver¬
bindung von Phono- und Kinematograph,
sprechende, singende und sich bewegende
scheinbar „lebende Bilder", eine zeitlich-räum¬

[Spaltenumbruch]

liche Verbindung von Ton und Gebärde, eine
mechanische Schauspielkunst, denn was ist die
Schauspielkunst anderes als eine solche Ver¬
bindung? Aber diese Phono-kinematographische,
diese „biophone" Kunst, ist eine zweite „Schau¬
spielkunst" und ohne Voraussetzung der „ersten",
unmöglich.

Ist die Körperlichkeit der wesentlichste Faktor
bei der Schauspielkunst, so ist das Publikum die
wichtigste Boraussetzung zur Ausübung dersel¬
ben. Der Schauspieler „spielt zur Schau", er
will gesehen werden, sei es auch nur von einem
einzigen. Ein auf die „Schau" verzichtender
Schauspieler ist ein Widerspruch in sich; nicht
so der auf das Gelesen-, Gehört- und Be¬
trachtetwerden verzichtende Dichter, Komponist,
Maler und Bildhauer. Ihr Schaffen ist ein
„Hervorbringen aus dem Schatz des Herzens",
ein Sich-befreien und -entladen von Eigensten
und Allgemeinsamem. Liebäugeln mit dem
Publikum hat ihnen noch immer geschadet.
Der Schauspieler aber spielt für ein und vor
einem Publikum, und wenn er sagt, das
Spielen sei ihm nur Mittel und Form sich
auszusprechen, die wahre Bühne sei nicht die
Wirkliche, sondern sein einsames Zimmer und
das ideale Publikum die eigene Phantasie, so
ist er ein Jdeologe, ein guter Mensch, aber
ein schlechter Musikant. Man ist Schauspieler
für die Bühne und auf der Bühne, oder man
ist es überhaupt nicht riic kikoclusl Eine
bloß rhetorische Begabung genügt für den
Vortragskünstler, nicht für den Schauspieler.
Der Unterschied zwischen Vortragspodium und
Bühne darf nicht verwischt werden, Konzert¬
sänger und Rezitatoren sollen nicht Schau¬
spielern, und Bühnenkünstler machen im Kon¬
zertsaal nicht immer eine glückliche Figur.

Der Schauspieler macht sein Geistig-Körper¬
liches, seine Persönlichkeit, sich selbst zum Kunst-
Werk, ist Schöpfer und Geschöpf, Subjekt und
Objekt, Ich und Nicht-Ich, Eins und Zwei,
ganz und geteilt, oder wie man sich sonst
ausdrücken will. Und in dieser seiner Per¬
sönlichkeit ist seine sehbare Körperlichkeit schlecht¬
hin unentbehrlich. Sie ist das eine Element,
aus dem sein Genius das räumlich-zeitliche
Kunstwerk des Augen- und OhrenscheinS")

[Ende Spaltensatz]
*) Dieses Merkmal ist die einzige, un-
überschreitbare Grenze der Schauspielkunst
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[0646] Maßgebliches und Unmaßgebliches Tonstück löst sich eben dadurch vom Kom¬ ponisten ab; seine Person wird ganz gleich¬ gültig, und der Geübte bedarf zum Genusse nicht einmal der tönenden Vermittlung von seiner oder dritter Seite: er liest mit den Augen und hört mit dem inneren Ohr. Ebenso ist eS mit Dichter, Bildhauer und Maler: was kümmert uns die wirkliche Persönlichkeit des Dichters, wenn wir seine Werke lesen oder lesen hören, was der soundso aussehende Bild¬ hauer A. oderMalerB., wenn wir ihre Plastiker und Bilder betrachten? Auch die nachschaffenden Künstler machen keine Ausnahme: es ist voll¬ kommen gleichgültig, ob dieser Klavierspieler groß, jener klein ist, ob Violinist I einen Bart trägt und II nicht, ob der Sänger A. blond, der Vortragende B. braun ist usw. Ja, man brauchte Künstler dieser Art überhaupt nicht zu sehen; würde nur der Gehörszweck erreicht, auf den Anblick ihrer Körperlichkeit könnten wir verzichten, wenn — es ihnen und dem Publikum auf die Sache und nicht auf die Person und auf Persönliches ankäme! Zur Hervorbringung des einheitlichen Kunstwerks, der einheitlichen Leistung, müssen freilich alle jene Künstler mit ihrer Person da sein oder dagewesen sein, aber ihre Körperlichkeit bildet keinen unabtrennbaren Teil. Die angeschla¬ genen Klavier-, abgestrichenen Geigentöne, die gesungenen, gesprochenen, gelesenen Worte, die Bilder und Plastiker lösen sich in ihrer Ge¬ säme- und Ganzheit vom Künstler ab, ver¬ selbständigen sich und treten zwischen ihn und das Publikum. Schließlich hält der moderne Phonograph den Klang der Instrumente und die menschliche Stimme mit einer Vollkommen¬ heit fest, welche die Technik immer noch zu steigern trachtet. Ich kann Klang und Stimme in meinem Zimmer zu Gehör bringen; ich brauche den betreffenden Künstler niemals ge¬ sehen zu haben, weder in Wirklichkeit noch im Bilde, brauche nicht einmal zu wissen, wessen Spiel oder Stimme aus dem Schalltrichter tönt — vermag ich von: Mechanischen des Ganzen abzusehen, kann ich sehr Wohl einen Genuß haben, freilich nur einen stellvertreten¬ den, mittelbaren, einen Genuß aus zweiter Hand. Nun gibt eS aber schon eine Ver¬ bindung von Phono- und Kinematograph, sprechende, singende und sich bewegende scheinbar „lebende Bilder", eine zeitlich-räum¬ liche Verbindung von Ton und Gebärde, eine mechanische Schauspielkunst, denn was ist die Schauspielkunst anderes als eine solche Ver¬ bindung? Aber diese Phono-kinematographische, diese „biophone" Kunst, ist eine zweite „Schau¬ spielkunst" und ohne Voraussetzung der „ersten", unmöglich. Ist die Körperlichkeit der wesentlichste Faktor bei der Schauspielkunst, so ist das Publikum die wichtigste Boraussetzung zur Ausübung dersel¬ ben. Der Schauspieler „spielt zur Schau", er will gesehen werden, sei es auch nur von einem einzigen. Ein auf die „Schau" verzichtender Schauspieler ist ein Widerspruch in sich; nicht so der auf das Gelesen-, Gehört- und Be¬ trachtetwerden verzichtende Dichter, Komponist, Maler und Bildhauer. Ihr Schaffen ist ein „Hervorbringen aus dem Schatz des Herzens", ein Sich-befreien und -entladen von Eigensten und Allgemeinsamem. Liebäugeln mit dem Publikum hat ihnen noch immer geschadet. Der Schauspieler aber spielt für ein und vor einem Publikum, und wenn er sagt, das Spielen sei ihm nur Mittel und Form sich auszusprechen, die wahre Bühne sei nicht die Wirkliche, sondern sein einsames Zimmer und das ideale Publikum die eigene Phantasie, so ist er ein Jdeologe, ein guter Mensch, aber ein schlechter Musikant. Man ist Schauspieler für die Bühne und auf der Bühne, oder man ist es überhaupt nicht riic kikoclusl Eine bloß rhetorische Begabung genügt für den Vortragskünstler, nicht für den Schauspieler. Der Unterschied zwischen Vortragspodium und Bühne darf nicht verwischt werden, Konzert¬ sänger und Rezitatoren sollen nicht Schau¬ spielern, und Bühnenkünstler machen im Kon¬ zertsaal nicht immer eine glückliche Figur. Der Schauspieler macht sein Geistig-Körper¬ liches, seine Persönlichkeit, sich selbst zum Kunst- Werk, ist Schöpfer und Geschöpf, Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich, Eins und Zwei, ganz und geteilt, oder wie man sich sonst ausdrücken will. Und in dieser seiner Per¬ sönlichkeit ist seine sehbare Körperlichkeit schlecht¬ hin unentbehrlich. Sie ist das eine Element, aus dem sein Genius das räumlich-zeitliche Kunstwerk des Augen- und OhrenscheinS") *) Dieses Merkmal ist die einzige, un- überschreitbare Grenze der Schauspielkunst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/646>, abgerufen am 23.07.2024.