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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolntio"

Die zweite, für die Gestaltung Chinas grundlegende Tatsache ist, wie
erwähnt, das Eindringen fremder Völker, die sich oft zu Herren des Landes
gemacht haben. Hier zeigt nun die chinesische Geschichte einen merkwürdigen
Rhythmus des Geschehens. Ich habe vorher ans die Urgestalt des chinesischen
Staates in der bäuerlichen Gemeinschaft hingewiesen. Die weitere Entwicklung
beruht darauf, daß der agrarische Kulturstaat seine Grenzen immer mehr
erweitert, er wächst von innen heraus, der Pflug des Bauern unterwirft das
umliegende Land der Kultur und gliedert es dem Staate an. Sobald ein
solcher Staat an seinen Grenzen mit barbarischen Nachbarvölkern zusammen¬
stößt, wird die Lage kritisch. Das fruchtbare Kulturland lockt oft genug die
räuberischen Nachbarn zu Einfällen. So kommt es zu einem andauernden
Kriegszustand zwischen dem chinesischen Kulturgebiet und den Nomadenvölkern
der Steppe im Norden und Nordosten Chinas, die als kriegerische Reitervölker
dem chinesischen Bauern oft überlegen sind. Durch diese Nachbarn wird China
zur Wehrhaftigkeit, zur Verteidigung und schließlich zur Ausdehnung seiner
Macht gezwungen. Die beste Verteidigung ist der Angriff; so ist China dazu
gekommen, die Nomaden zu unterwerfen. Das ist in der Tat in einer gro߬
artigen Expansion erfolgt. Aber dieses Ringen führte auch barbarische Völker¬
massen ins Reich, die Kraft genug hatten, die Herrschaft, das Kaisertum,
zu gewinnen. Die stärkste, allen Mächten überlegene Gewalt aber blieb
das chinesische Volkstum und die chinesische Kultur. Sie haben es vermocht,
alle diese fremden Massen der chinesischen Kultur zu gewinnen und in
das chinesische Wesen einzuschmelzen. Alle Eroberervölker -- Türken, Tungusen,
Mongolen und Mandschu -- sind in China zu Chinesen geworden.




Auch heute herrscht in China eine Dynastie, die nicht chinesischen Ursprungs
ist, sondern dem nordasiatischen Volke der Tungusen angehört. Aber diese
Dynastie und ihr Volk sind völlig in die chinesische Kultur eingegangen, ein
nationaler Gegensatz wird gar nicht empfunden. Die Mandschu als Fremd¬
herrscher zu vertreiben, ist ein ganz unchinesischer Gedanke. Er widerspricht der
konfuzianischen Lehre vom ethischen Universalstaat und der geschichtlichen Ent¬
wicklung Chinas. Von den vierzig Herrscherhäusern, die seit 180 n. Chr. in
China regiert haben, sind vierundzwanzig nicht-chinesischen Ursprungs, sondern
meist türkischer oder tatarischer Herkunft. Niemals haben sich die Völkermassen
Chinas als politisch einheitliche Nation gefühlt; niemals haben sie die Herr¬
schaft nicht-chinesischer Dynastien als Fremdherrschaft empfunden, sobald sich
diese Herrscher in das chinesische Denken und Kulturleben einfügten, was stets
geschehen ist. Die Chinesen haben fremden Herrschern dieselbe Treue erwiesen
wie einheimischen, sie haben sich im Falle einer Mißregierung gegen chinesische
Dynastien genau so energisch aufgelehnt wie gegen fremde. Der nationale
Gegensatz gegen die Mandschu ist erst 1893 vom Auslande her. von japanischen


Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolntio»

Die zweite, für die Gestaltung Chinas grundlegende Tatsache ist, wie
erwähnt, das Eindringen fremder Völker, die sich oft zu Herren des Landes
gemacht haben. Hier zeigt nun die chinesische Geschichte einen merkwürdigen
Rhythmus des Geschehens. Ich habe vorher ans die Urgestalt des chinesischen
Staates in der bäuerlichen Gemeinschaft hingewiesen. Die weitere Entwicklung
beruht darauf, daß der agrarische Kulturstaat seine Grenzen immer mehr
erweitert, er wächst von innen heraus, der Pflug des Bauern unterwirft das
umliegende Land der Kultur und gliedert es dem Staate an. Sobald ein
solcher Staat an seinen Grenzen mit barbarischen Nachbarvölkern zusammen¬
stößt, wird die Lage kritisch. Das fruchtbare Kulturland lockt oft genug die
räuberischen Nachbarn zu Einfällen. So kommt es zu einem andauernden
Kriegszustand zwischen dem chinesischen Kulturgebiet und den Nomadenvölkern
der Steppe im Norden und Nordosten Chinas, die als kriegerische Reitervölker
dem chinesischen Bauern oft überlegen sind. Durch diese Nachbarn wird China
zur Wehrhaftigkeit, zur Verteidigung und schließlich zur Ausdehnung seiner
Macht gezwungen. Die beste Verteidigung ist der Angriff; so ist China dazu
gekommen, die Nomaden zu unterwerfen. Das ist in der Tat in einer gro߬
artigen Expansion erfolgt. Aber dieses Ringen führte auch barbarische Völker¬
massen ins Reich, die Kraft genug hatten, die Herrschaft, das Kaisertum,
zu gewinnen. Die stärkste, allen Mächten überlegene Gewalt aber blieb
das chinesische Volkstum und die chinesische Kultur. Sie haben es vermocht,
alle diese fremden Massen der chinesischen Kultur zu gewinnen und in
das chinesische Wesen einzuschmelzen. Alle Eroberervölker — Türken, Tungusen,
Mongolen und Mandschu — sind in China zu Chinesen geworden.




Auch heute herrscht in China eine Dynastie, die nicht chinesischen Ursprungs
ist, sondern dem nordasiatischen Volke der Tungusen angehört. Aber diese
Dynastie und ihr Volk sind völlig in die chinesische Kultur eingegangen, ein
nationaler Gegensatz wird gar nicht empfunden. Die Mandschu als Fremd¬
herrscher zu vertreiben, ist ein ganz unchinesischer Gedanke. Er widerspricht der
konfuzianischen Lehre vom ethischen Universalstaat und der geschichtlichen Ent¬
wicklung Chinas. Von den vierzig Herrscherhäusern, die seit 180 n. Chr. in
China regiert haben, sind vierundzwanzig nicht-chinesischen Ursprungs, sondern
meist türkischer oder tatarischer Herkunft. Niemals haben sich die Völkermassen
Chinas als politisch einheitliche Nation gefühlt; niemals haben sie die Herr¬
schaft nicht-chinesischer Dynastien als Fremdherrschaft empfunden, sobald sich
diese Herrscher in das chinesische Denken und Kulturleben einfügten, was stets
geschehen ist. Die Chinesen haben fremden Herrschern dieselbe Treue erwiesen
wie einheimischen, sie haben sich im Falle einer Mißregierung gegen chinesische
Dynastien genau so energisch aufgelehnt wie gegen fremde. Der nationale
Gegensatz gegen die Mandschu ist erst 1893 vom Auslande her. von japanischen


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[0636] Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolntio» Die zweite, für die Gestaltung Chinas grundlegende Tatsache ist, wie erwähnt, das Eindringen fremder Völker, die sich oft zu Herren des Landes gemacht haben. Hier zeigt nun die chinesische Geschichte einen merkwürdigen Rhythmus des Geschehens. Ich habe vorher ans die Urgestalt des chinesischen Staates in der bäuerlichen Gemeinschaft hingewiesen. Die weitere Entwicklung beruht darauf, daß der agrarische Kulturstaat seine Grenzen immer mehr erweitert, er wächst von innen heraus, der Pflug des Bauern unterwirft das umliegende Land der Kultur und gliedert es dem Staate an. Sobald ein solcher Staat an seinen Grenzen mit barbarischen Nachbarvölkern zusammen¬ stößt, wird die Lage kritisch. Das fruchtbare Kulturland lockt oft genug die räuberischen Nachbarn zu Einfällen. So kommt es zu einem andauernden Kriegszustand zwischen dem chinesischen Kulturgebiet und den Nomadenvölkern der Steppe im Norden und Nordosten Chinas, die als kriegerische Reitervölker dem chinesischen Bauern oft überlegen sind. Durch diese Nachbarn wird China zur Wehrhaftigkeit, zur Verteidigung und schließlich zur Ausdehnung seiner Macht gezwungen. Die beste Verteidigung ist der Angriff; so ist China dazu gekommen, die Nomaden zu unterwerfen. Das ist in der Tat in einer gro߬ artigen Expansion erfolgt. Aber dieses Ringen führte auch barbarische Völker¬ massen ins Reich, die Kraft genug hatten, die Herrschaft, das Kaisertum, zu gewinnen. Die stärkste, allen Mächten überlegene Gewalt aber blieb das chinesische Volkstum und die chinesische Kultur. Sie haben es vermocht, alle diese fremden Massen der chinesischen Kultur zu gewinnen und in das chinesische Wesen einzuschmelzen. Alle Eroberervölker — Türken, Tungusen, Mongolen und Mandschu — sind in China zu Chinesen geworden. Auch heute herrscht in China eine Dynastie, die nicht chinesischen Ursprungs ist, sondern dem nordasiatischen Volke der Tungusen angehört. Aber diese Dynastie und ihr Volk sind völlig in die chinesische Kultur eingegangen, ein nationaler Gegensatz wird gar nicht empfunden. Die Mandschu als Fremd¬ herrscher zu vertreiben, ist ein ganz unchinesischer Gedanke. Er widerspricht der konfuzianischen Lehre vom ethischen Universalstaat und der geschichtlichen Ent¬ wicklung Chinas. Von den vierzig Herrscherhäusern, die seit 180 n. Chr. in China regiert haben, sind vierundzwanzig nicht-chinesischen Ursprungs, sondern meist türkischer oder tatarischer Herkunft. Niemals haben sich die Völkermassen Chinas als politisch einheitliche Nation gefühlt; niemals haben sie die Herr¬ schaft nicht-chinesischer Dynastien als Fremdherrschaft empfunden, sobald sich diese Herrscher in das chinesische Denken und Kulturleben einfügten, was stets geschehen ist. Die Chinesen haben fremden Herrschern dieselbe Treue erwiesen wie einheimischen, sie haben sich im Falle einer Mißregierung gegen chinesische Dynastien genau so energisch aufgelehnt wie gegen fremde. Der nationale Gegensatz gegen die Mandschu ist erst 1893 vom Auslande her. von japanischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/636>, abgerufen am 25.08.2024.