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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

seiner äußeren Einrichtungen, sondern in der Auffassung von den Aufgaben und
Zwecken, die eine menschliche Gemeinschaft zusammenhalten.

Für viele mag es überraschend sein, daß die Revolution in China eigentlich
keine neuen Gedanken bringt. Nicht nur die Idee, neben die Regierung eine
Volksvertretung, das Parlament, zu stellen, ist in China sehr alt; dieser Gedanke
tritt schon unter der ersten geschichtlich genauer erkennbaren Dynastie, unter den
Tscheu (1122 bis 225 v. Chr.) hervor. Aber auch die Republik ist eigentlich
nur die letzte Folgerung aus den politischen Grundsätzen, die in China die
politische Anschauung seit ältester Zeit beherrschen. Für den Chinesen ist der
Staat nicht eine über dem Volke stehende Macht, sondern die Verkörperung des
Volkes selbst. Schon im vierten Jahrhundert v. Chr. spricht die chinesische
Staatsreligion, der Konfuzianismus, die bis heute gültige Lehre aus: "Das
Wichtigste ist das Volk, darauf folgen die Götter des Landes, zuletzt kommt
der Fürst, er ist das Unwichtigste." Immer hat die Religion dem Volke das
Recht eingeräumt, schlechte Fürsten -- d. h. solche, deren Regierung mit oder ohne
ihre Schuld durch allgemeines Mißgeschick unglücklich war -- vom Throne zu stoßen.
Den: untüchtigen Herrscherhaus entzieht der Himmel sein Mandat durch das
Volk. Das Volk ist der eigentliche Souverän, indem es zum Vollstrecker des
göttlichen Willens wird.

Somit ist das Selbstbestimmungsrecht des Volkes -- auch über seine
Negierung -- ein alter Grundgedanke des chinesischen Staatslebens. Verbindet
man damit die Tatsache, daß die chinesische Entwicklung immer wieder, und so
auch heute, durch ein Aufsteigen der Volksmassen bestimmt ist, so liegt in dieser
demokratischen Tendenz ein gewisser Zug zur Republik.

Die absolute Monarchie Chinas ist also durch die tatsächlichen Kräfte des
Staatslebens in ihrer Gewalt stark begrenzt; neben ihr sind demokratische
Gewalten stets sehr wirksam gewesen.

Aber wir haben damit noch nicht den eigentlichen Kern des chinesischen
Staates, sein innerstes Wesen, erreicht. Das chinesische Reich ist in seiner
Urform nichts anderes als eine Bauerngemeinde, die in der Weise organisiert
ist, daß ein größeres Landstück, das quadratisch begrenzt wurde, in neun Felder
geteilt war. Das Mittelfeld behielt der Grundherr als seine Domäne, während
die umliegenden acht Felder an Frondienste leistende Bauern verpachtet wurden.
Diese uralte dörfliche Bauerngemeinde ist der Keim des chinesischen Staates; in
ihr schon wurzelt das demokratische Wesen. Diese Gemeinde aber bildete zugleich
eine religiöse Kultusgenossenschaft: die Gottheit des Gebietes hatte einen Kultus,
und die kultische Verehrung des Gottes war in erster Linie die Aufgabe dessen,
dem das Land gehörte, d. h. des Grundherrn. Hier liegt der Keim zur chine¬
sischen Monarchie, die etwas ganz anderes ist als die aus dem Kriegsleben
erwachsene Monarchie in Europa.

China ist in seinem innersten Wesen etwas ganz anderes als eine Demo¬
kratie oder Monarchie im europäischen Sinne; es ist beides zugleich und doch


Grenzboten it 1912 79
Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution

seiner äußeren Einrichtungen, sondern in der Auffassung von den Aufgaben und
Zwecken, die eine menschliche Gemeinschaft zusammenhalten.

Für viele mag es überraschend sein, daß die Revolution in China eigentlich
keine neuen Gedanken bringt. Nicht nur die Idee, neben die Regierung eine
Volksvertretung, das Parlament, zu stellen, ist in China sehr alt; dieser Gedanke
tritt schon unter der ersten geschichtlich genauer erkennbaren Dynastie, unter den
Tscheu (1122 bis 225 v. Chr.) hervor. Aber auch die Republik ist eigentlich
nur die letzte Folgerung aus den politischen Grundsätzen, die in China die
politische Anschauung seit ältester Zeit beherrschen. Für den Chinesen ist der
Staat nicht eine über dem Volke stehende Macht, sondern die Verkörperung des
Volkes selbst. Schon im vierten Jahrhundert v. Chr. spricht die chinesische
Staatsreligion, der Konfuzianismus, die bis heute gültige Lehre aus: „Das
Wichtigste ist das Volk, darauf folgen die Götter des Landes, zuletzt kommt
der Fürst, er ist das Unwichtigste." Immer hat die Religion dem Volke das
Recht eingeräumt, schlechte Fürsten — d. h. solche, deren Regierung mit oder ohne
ihre Schuld durch allgemeines Mißgeschick unglücklich war — vom Throne zu stoßen.
Den: untüchtigen Herrscherhaus entzieht der Himmel sein Mandat durch das
Volk. Das Volk ist der eigentliche Souverän, indem es zum Vollstrecker des
göttlichen Willens wird.

Somit ist das Selbstbestimmungsrecht des Volkes — auch über seine
Negierung — ein alter Grundgedanke des chinesischen Staatslebens. Verbindet
man damit die Tatsache, daß die chinesische Entwicklung immer wieder, und so
auch heute, durch ein Aufsteigen der Volksmassen bestimmt ist, so liegt in dieser
demokratischen Tendenz ein gewisser Zug zur Republik.

Die absolute Monarchie Chinas ist also durch die tatsächlichen Kräfte des
Staatslebens in ihrer Gewalt stark begrenzt; neben ihr sind demokratische
Gewalten stets sehr wirksam gewesen.

Aber wir haben damit noch nicht den eigentlichen Kern des chinesischen
Staates, sein innerstes Wesen, erreicht. Das chinesische Reich ist in seiner
Urform nichts anderes als eine Bauerngemeinde, die in der Weise organisiert
ist, daß ein größeres Landstück, das quadratisch begrenzt wurde, in neun Felder
geteilt war. Das Mittelfeld behielt der Grundherr als seine Domäne, während
die umliegenden acht Felder an Frondienste leistende Bauern verpachtet wurden.
Diese uralte dörfliche Bauerngemeinde ist der Keim des chinesischen Staates; in
ihr schon wurzelt das demokratische Wesen. Diese Gemeinde aber bildete zugleich
eine religiöse Kultusgenossenschaft: die Gottheit des Gebietes hatte einen Kultus,
und die kultische Verehrung des Gottes war in erster Linie die Aufgabe dessen,
dem das Land gehörte, d. h. des Grundherrn. Hier liegt der Keim zur chine¬
sischen Monarchie, die etwas ganz anderes ist als die aus dem Kriegsleben
erwachsene Monarchie in Europa.

China ist in seinem innersten Wesen etwas ganz anderes als eine Demo¬
kratie oder Monarchie im europäischen Sinne; es ist beides zugleich und doch


Grenzboten it 1912 79
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[0633] Geschichtliche Bemerkungen zur chinesischen Revolution seiner äußeren Einrichtungen, sondern in der Auffassung von den Aufgaben und Zwecken, die eine menschliche Gemeinschaft zusammenhalten. Für viele mag es überraschend sein, daß die Revolution in China eigentlich keine neuen Gedanken bringt. Nicht nur die Idee, neben die Regierung eine Volksvertretung, das Parlament, zu stellen, ist in China sehr alt; dieser Gedanke tritt schon unter der ersten geschichtlich genauer erkennbaren Dynastie, unter den Tscheu (1122 bis 225 v. Chr.) hervor. Aber auch die Republik ist eigentlich nur die letzte Folgerung aus den politischen Grundsätzen, die in China die politische Anschauung seit ältester Zeit beherrschen. Für den Chinesen ist der Staat nicht eine über dem Volke stehende Macht, sondern die Verkörperung des Volkes selbst. Schon im vierten Jahrhundert v. Chr. spricht die chinesische Staatsreligion, der Konfuzianismus, die bis heute gültige Lehre aus: „Das Wichtigste ist das Volk, darauf folgen die Götter des Landes, zuletzt kommt der Fürst, er ist das Unwichtigste." Immer hat die Religion dem Volke das Recht eingeräumt, schlechte Fürsten — d. h. solche, deren Regierung mit oder ohne ihre Schuld durch allgemeines Mißgeschick unglücklich war — vom Throne zu stoßen. Den: untüchtigen Herrscherhaus entzieht der Himmel sein Mandat durch das Volk. Das Volk ist der eigentliche Souverän, indem es zum Vollstrecker des göttlichen Willens wird. Somit ist das Selbstbestimmungsrecht des Volkes — auch über seine Negierung — ein alter Grundgedanke des chinesischen Staatslebens. Verbindet man damit die Tatsache, daß die chinesische Entwicklung immer wieder, und so auch heute, durch ein Aufsteigen der Volksmassen bestimmt ist, so liegt in dieser demokratischen Tendenz ein gewisser Zug zur Republik. Die absolute Monarchie Chinas ist also durch die tatsächlichen Kräfte des Staatslebens in ihrer Gewalt stark begrenzt; neben ihr sind demokratische Gewalten stets sehr wirksam gewesen. Aber wir haben damit noch nicht den eigentlichen Kern des chinesischen Staates, sein innerstes Wesen, erreicht. Das chinesische Reich ist in seiner Urform nichts anderes als eine Bauerngemeinde, die in der Weise organisiert ist, daß ein größeres Landstück, das quadratisch begrenzt wurde, in neun Felder geteilt war. Das Mittelfeld behielt der Grundherr als seine Domäne, während die umliegenden acht Felder an Frondienste leistende Bauern verpachtet wurden. Diese uralte dörfliche Bauerngemeinde ist der Keim des chinesischen Staates; in ihr schon wurzelt das demokratische Wesen. Diese Gemeinde aber bildete zugleich eine religiöse Kultusgenossenschaft: die Gottheit des Gebietes hatte einen Kultus, und die kultische Verehrung des Gottes war in erster Linie die Aufgabe dessen, dem das Land gehörte, d. h. des Grundherrn. Hier liegt der Keim zur chine¬ sischen Monarchie, die etwas ganz anderes ist als die aus dem Kriegsleben erwachsene Monarchie in Europa. China ist in seinem innersten Wesen etwas ganz anderes als eine Demo¬ kratie oder Monarchie im europäischen Sinne; es ist beides zugleich und doch Grenzboten it 1912 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/633>, abgerufen am 22.07.2024.