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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Unser Ich

das Wesen der Seele aus dogmatisch-vorgefaßten Begriffen zu bestimmen, dürfen
wir, nach Kants Kritik unseres Erkennen", freilich nicht mehr ernst nehmen.
Denn sie hat erwiesen, daß denknotwendiges Erkennen nur so weit Gültigkeit
hat, als Erfahrung reicht, daß wir also eine Wescnserkenntnis des den Erfah¬
rungen zu Grunde liegenden Realen nicht besitzen. Aber wir dürfen, ja wir
müssen -- nach Kant -- doch fragen: was haben wir auf Grund der Erfah¬
rungstatsachen, die uns gegeben sind, von ihren realen Grundlagen voraus¬
zusetzen, zu "postulieren"? Also, in Anwendung auf das Ich Problem: sind
unsere Bewußtseinserlebnisse so beschaffen, daß wir ein sie alle in sich hegendes
einheitliches Ich als Subjekt voraussetzen müssen?

Diese Frage nun findet -- auch unter den heutigen Denkern -- einerseits
eine Lösung, die, dem englischen Empirismus verwandt, unser Bewußtsein in
eine Mannigfaltigkeit von Inhalten und Funktionen, ohne Träger, ohne Subjekt,
auflöst. Der Hauptvertreter dieserAnsicht ist Wundt: die "Einheit des Bewußtseins",
die Tatsache also, daß wir eine Fülle der verschiedensten Bewußtseinserlebnissc im
einheitlichen Bewußtsein hegen, und daß wir uus -- innerhalb der wechselnden
Fülle dieser Erlebnisse -- als identisch vorkommen, -- sie beruht für Wundt
nicht in der tatsächlichen Einheit und Identität irgend eines seelischen Subjektes.
Ein solches gibt es innerhalb des Seelischen nicht; jene Bewußtseinstatsache
beruht nur auf der Gesetzmäßigkeit und stetigen Wiederkehr gewisser Bewußt¬
seinsinhalte.

Dieser Auffassung aber stehen andere gegenüber, die ein identisches seelisches
Subjekt als grundlegende Bedingung alles psychischen Lebens fordern, weil der
Gedanke eines Fühlens und Wollens ohne ein fühlendes und wollendes Subjekt
unvollziehbar ist, und weil ihnen das Ich als die conciitio 8ins quü non
alles geistigen Lebens erscheint. In der Tat: wir müßten unsere gewohnte
Auffassung des Seelenlebens völlig modifizieren, wenn die Voraussetzung sich
als falsch erwiese, die der wechselnden Fülle unserer Eindrücke ein einheitliches
seelisches Subjekt zugrunde legt. Aber nicht nur theoretisch, auch praktisch
müßten wir auf Grund einer so veränderten Auffassung umdenken.

Ist mit dem Wechsel und Fluß der Bewußtseinserlebnisse unser ganzes
Wesen in beständigem Flusse, dann sind wir tatsächlich heute uicht mehr die¬
selben wie gestern und wie vor einem Jahre. Wo aber bliebe dann alle
Beständigkeit und Zuverlässigkeit alles menschlichen Wesens und Wollens?
Bedeutet nicht "Wollen", daß wir, im Gegensatz zu zufälligem Reagieren, in
unserem Handeln die Überzeugung und Billigung bekunden, die der Ausdruck
unseres innersten Wesens ist? Und ist "Charakter" etwas anderes, als Konsequenz
und Beständigkeit dieses unseres Wesens?

So ist es in der Tat eine grundlegende Frage, ob auch auf dem Boden
der modernen Psychologie die Annahme zurecht besteht, daß dem ewigen Fluß
der Erlebnisse ein sie alle in sich hegendes, identisches, oder doch konsequent sich
entwickelndes seelisches Subjekt gegenübersteht -- oder ob alles Seelenleben in


Unser Ich

das Wesen der Seele aus dogmatisch-vorgefaßten Begriffen zu bestimmen, dürfen
wir, nach Kants Kritik unseres Erkennen«, freilich nicht mehr ernst nehmen.
Denn sie hat erwiesen, daß denknotwendiges Erkennen nur so weit Gültigkeit
hat, als Erfahrung reicht, daß wir also eine Wescnserkenntnis des den Erfah¬
rungen zu Grunde liegenden Realen nicht besitzen. Aber wir dürfen, ja wir
müssen — nach Kant — doch fragen: was haben wir auf Grund der Erfah¬
rungstatsachen, die uns gegeben sind, von ihren realen Grundlagen voraus¬
zusetzen, zu „postulieren"? Also, in Anwendung auf das Ich Problem: sind
unsere Bewußtseinserlebnisse so beschaffen, daß wir ein sie alle in sich hegendes
einheitliches Ich als Subjekt voraussetzen müssen?

Diese Frage nun findet — auch unter den heutigen Denkern — einerseits
eine Lösung, die, dem englischen Empirismus verwandt, unser Bewußtsein in
eine Mannigfaltigkeit von Inhalten und Funktionen, ohne Träger, ohne Subjekt,
auflöst. Der Hauptvertreter dieserAnsicht ist Wundt: die „Einheit des Bewußtseins",
die Tatsache also, daß wir eine Fülle der verschiedensten Bewußtseinserlebnissc im
einheitlichen Bewußtsein hegen, und daß wir uus — innerhalb der wechselnden
Fülle dieser Erlebnisse — als identisch vorkommen, — sie beruht für Wundt
nicht in der tatsächlichen Einheit und Identität irgend eines seelischen Subjektes.
Ein solches gibt es innerhalb des Seelischen nicht; jene Bewußtseinstatsache
beruht nur auf der Gesetzmäßigkeit und stetigen Wiederkehr gewisser Bewußt¬
seinsinhalte.

Dieser Auffassung aber stehen andere gegenüber, die ein identisches seelisches
Subjekt als grundlegende Bedingung alles psychischen Lebens fordern, weil der
Gedanke eines Fühlens und Wollens ohne ein fühlendes und wollendes Subjekt
unvollziehbar ist, und weil ihnen das Ich als die conciitio 8ins quü non
alles geistigen Lebens erscheint. In der Tat: wir müßten unsere gewohnte
Auffassung des Seelenlebens völlig modifizieren, wenn die Voraussetzung sich
als falsch erwiese, die der wechselnden Fülle unserer Eindrücke ein einheitliches
seelisches Subjekt zugrunde legt. Aber nicht nur theoretisch, auch praktisch
müßten wir auf Grund einer so veränderten Auffassung umdenken.

Ist mit dem Wechsel und Fluß der Bewußtseinserlebnisse unser ganzes
Wesen in beständigem Flusse, dann sind wir tatsächlich heute uicht mehr die¬
selben wie gestern und wie vor einem Jahre. Wo aber bliebe dann alle
Beständigkeit und Zuverlässigkeit alles menschlichen Wesens und Wollens?
Bedeutet nicht „Wollen", daß wir, im Gegensatz zu zufälligem Reagieren, in
unserem Handeln die Überzeugung und Billigung bekunden, die der Ausdruck
unseres innersten Wesens ist? Und ist „Charakter" etwas anderes, als Konsequenz
und Beständigkeit dieses unseres Wesens?

So ist es in der Tat eine grundlegende Frage, ob auch auf dem Boden
der modernen Psychologie die Annahme zurecht besteht, daß dem ewigen Fluß
der Erlebnisse ein sie alle in sich hegendes, identisches, oder doch konsequent sich
entwickelndes seelisches Subjekt gegenübersteht — oder ob alles Seelenleben in


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[0582] Unser Ich das Wesen der Seele aus dogmatisch-vorgefaßten Begriffen zu bestimmen, dürfen wir, nach Kants Kritik unseres Erkennen«, freilich nicht mehr ernst nehmen. Denn sie hat erwiesen, daß denknotwendiges Erkennen nur so weit Gültigkeit hat, als Erfahrung reicht, daß wir also eine Wescnserkenntnis des den Erfah¬ rungen zu Grunde liegenden Realen nicht besitzen. Aber wir dürfen, ja wir müssen — nach Kant — doch fragen: was haben wir auf Grund der Erfah¬ rungstatsachen, die uns gegeben sind, von ihren realen Grundlagen voraus¬ zusetzen, zu „postulieren"? Also, in Anwendung auf das Ich Problem: sind unsere Bewußtseinserlebnisse so beschaffen, daß wir ein sie alle in sich hegendes einheitliches Ich als Subjekt voraussetzen müssen? Diese Frage nun findet — auch unter den heutigen Denkern — einerseits eine Lösung, die, dem englischen Empirismus verwandt, unser Bewußtsein in eine Mannigfaltigkeit von Inhalten und Funktionen, ohne Träger, ohne Subjekt, auflöst. Der Hauptvertreter dieserAnsicht ist Wundt: die „Einheit des Bewußtseins", die Tatsache also, daß wir eine Fülle der verschiedensten Bewußtseinserlebnissc im einheitlichen Bewußtsein hegen, und daß wir uus — innerhalb der wechselnden Fülle dieser Erlebnisse — als identisch vorkommen, — sie beruht für Wundt nicht in der tatsächlichen Einheit und Identität irgend eines seelischen Subjektes. Ein solches gibt es innerhalb des Seelischen nicht; jene Bewußtseinstatsache beruht nur auf der Gesetzmäßigkeit und stetigen Wiederkehr gewisser Bewußt¬ seinsinhalte. Dieser Auffassung aber stehen andere gegenüber, die ein identisches seelisches Subjekt als grundlegende Bedingung alles psychischen Lebens fordern, weil der Gedanke eines Fühlens und Wollens ohne ein fühlendes und wollendes Subjekt unvollziehbar ist, und weil ihnen das Ich als die conciitio 8ins quü non alles geistigen Lebens erscheint. In der Tat: wir müßten unsere gewohnte Auffassung des Seelenlebens völlig modifizieren, wenn die Voraussetzung sich als falsch erwiese, die der wechselnden Fülle unserer Eindrücke ein einheitliches seelisches Subjekt zugrunde legt. Aber nicht nur theoretisch, auch praktisch müßten wir auf Grund einer so veränderten Auffassung umdenken. Ist mit dem Wechsel und Fluß der Bewußtseinserlebnisse unser ganzes Wesen in beständigem Flusse, dann sind wir tatsächlich heute uicht mehr die¬ selben wie gestern und wie vor einem Jahre. Wo aber bliebe dann alle Beständigkeit und Zuverlässigkeit alles menschlichen Wesens und Wollens? Bedeutet nicht „Wollen", daß wir, im Gegensatz zu zufälligem Reagieren, in unserem Handeln die Überzeugung und Billigung bekunden, die der Ausdruck unseres innersten Wesens ist? Und ist „Charakter" etwas anderes, als Konsequenz und Beständigkeit dieses unseres Wesens? So ist es in der Tat eine grundlegende Frage, ob auch auf dem Boden der modernen Psychologie die Annahme zurecht besteht, daß dem ewigen Fluß der Erlebnisse ein sie alle in sich hegendes, identisches, oder doch konsequent sich entwickelndes seelisches Subjekt gegenübersteht — oder ob alles Seelenleben in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/582>, abgerufen am 22.07.2024.