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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz?

zugehört oder nicht. Falls der Religionsunterricht überhaupt oder die Art,
wie er erteilt wird, den Eltern nicht gefällt, können sie ohne Angabe von
Gründen ihrKind von denReligionsstunden dispensieren lassen. Eltern können so ihr
Kind ohne jeden Religionsunterricht aufwachsen lassen; oder sie können sich mit
Gleichgesinnten zusammenschließen und einen besonderen privaten Religions¬
unterricht gründen. Doch zeigt sich gerade auch hier: wenn jeder Zwang fehlt,
so ist die Folge durchaus nicht, daß die Religion in der öffentlichen Meinung
sinkt. Von jener Erlaubnis wird nur in äußerst seltenen Fällen Gebrauch
gemacht. Dadurch wird aber der Zustand vermieden, der in zahlreichen Familien,
etwa in Großstädten wie Berlin, herrscht. Die Kinder hören zu Hause Worte:
"Alles, was der Pfarrer sagt, ist Unsinn!" Und dieselben Kinder besuchen den
von der Kirche beaufsichtigten Religionsunterricht, und die Eltern lassen ihre
Kinder konfirmieren, um sich keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Gerade
im Interesse des Christentums, das nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann,
würde es liegen, allen schädlichen Zwang wegfallen zu lassen, zumal es eines
Kulturstaates unwürdig ist, die Dissidenten in kleinlicher Weise zu belästigen
und den Moralunterricht der Freireligiösen als Ersatz für den Religionsunterricht
nicht gelten zu lassen. Welche Früchte kann denn ein wider den Willen der
Eltern erzwungener Religionsunterricht bringen? Werden nicht dem Christentum
durch derartigen Zwang unheilbare Wunden zugefügt?

Der Religionsunterricht wird in den Kantonen mit gemischt-konfessioneller
Bevölkerung, wie Se. Gallen, ausschließlich von den Kirchen erteilt, denen aber
die Schullokale bereitwillig zur Verfügung gestellt werden. In den meisten
anderen Kantonen wird der Religionsunterricht die ersten sechs oder sieben
Jahre hindurch von der Schule gegeben. Und zwar ist es ein interkonfessioneller
Unterricht in biblischer Geschichte und Moral. Katechismusunterricht wird in
den Schulen nicht erteilt. Indessen ist der interkonfessionelle Unterricht tat¬
sächlich nicht durchführbar, denn die meisten katholischen Kinder in den Kan¬
tonen mit vorwiegend protestantischer Bevölkerung werden auf Verlangen der
katholischen Kapläne vom Religionsunterricht in der Schule dispensiert und
erhalten vom Pfarrer Religionsunterricht.

Unbekannt ist in der Schweiz auch die staatliche Bevormundung, die
Preußen bis vor kurzem gegen seine Einwohner ausübte, so daß innerhalb der
preußischen Landesgrenzen kein Krematorium errichtet werden durfte, ebenso
unbekannt auch die merkwürdigen Verfügungen von Kirchenbehörden, die den
Pfarrern früher die Beteiligung an Feiern bei Leichenverbrennungen unter¬
sagten. In den größeren Städten der Schweiz gibt es seit Jahren Krematorien,
die von Unkirchlichen wie Kirchlichen benutzt werden. Kein Pfarrer findet es
mit der christlichen Sitte unvereinbar, bei Einäscherungen Segen und Trost zu
spenden. Es ist eben selbstverständlich: wenn ein Bruchteil der Bevölkerung
die Kremation vorzieht, so wird ihn keine Behörde darin hindern. Vielmehr
kommen die größeren Kommunen diesem Bedürfnis entgegen.


Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz?

zugehört oder nicht. Falls der Religionsunterricht überhaupt oder die Art,
wie er erteilt wird, den Eltern nicht gefällt, können sie ohne Angabe von
Gründen ihrKind von denReligionsstunden dispensieren lassen. Eltern können so ihr
Kind ohne jeden Religionsunterricht aufwachsen lassen; oder sie können sich mit
Gleichgesinnten zusammenschließen und einen besonderen privaten Religions¬
unterricht gründen. Doch zeigt sich gerade auch hier: wenn jeder Zwang fehlt,
so ist die Folge durchaus nicht, daß die Religion in der öffentlichen Meinung
sinkt. Von jener Erlaubnis wird nur in äußerst seltenen Fällen Gebrauch
gemacht. Dadurch wird aber der Zustand vermieden, der in zahlreichen Familien,
etwa in Großstädten wie Berlin, herrscht. Die Kinder hören zu Hause Worte:
„Alles, was der Pfarrer sagt, ist Unsinn!" Und dieselben Kinder besuchen den
von der Kirche beaufsichtigten Religionsunterricht, und die Eltern lassen ihre
Kinder konfirmieren, um sich keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Gerade
im Interesse des Christentums, das nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann,
würde es liegen, allen schädlichen Zwang wegfallen zu lassen, zumal es eines
Kulturstaates unwürdig ist, die Dissidenten in kleinlicher Weise zu belästigen
und den Moralunterricht der Freireligiösen als Ersatz für den Religionsunterricht
nicht gelten zu lassen. Welche Früchte kann denn ein wider den Willen der
Eltern erzwungener Religionsunterricht bringen? Werden nicht dem Christentum
durch derartigen Zwang unheilbare Wunden zugefügt?

Der Religionsunterricht wird in den Kantonen mit gemischt-konfessioneller
Bevölkerung, wie Se. Gallen, ausschließlich von den Kirchen erteilt, denen aber
die Schullokale bereitwillig zur Verfügung gestellt werden. In den meisten
anderen Kantonen wird der Religionsunterricht die ersten sechs oder sieben
Jahre hindurch von der Schule gegeben. Und zwar ist es ein interkonfessioneller
Unterricht in biblischer Geschichte und Moral. Katechismusunterricht wird in
den Schulen nicht erteilt. Indessen ist der interkonfessionelle Unterricht tat¬
sächlich nicht durchführbar, denn die meisten katholischen Kinder in den Kan¬
tonen mit vorwiegend protestantischer Bevölkerung werden auf Verlangen der
katholischen Kapläne vom Religionsunterricht in der Schule dispensiert und
erhalten vom Pfarrer Religionsunterricht.

Unbekannt ist in der Schweiz auch die staatliche Bevormundung, die
Preußen bis vor kurzem gegen seine Einwohner ausübte, so daß innerhalb der
preußischen Landesgrenzen kein Krematorium errichtet werden durfte, ebenso
unbekannt auch die merkwürdigen Verfügungen von Kirchenbehörden, die den
Pfarrern früher die Beteiligung an Feiern bei Leichenverbrennungen unter¬
sagten. In den größeren Städten der Schweiz gibt es seit Jahren Krematorien,
die von Unkirchlichen wie Kirchlichen benutzt werden. Kein Pfarrer findet es
mit der christlichen Sitte unvereinbar, bei Einäscherungen Segen und Trost zu
spenden. Es ist eben selbstverständlich: wenn ein Bruchteil der Bevölkerung
die Kremation vorzieht, so wird ihn keine Behörde darin hindern. Vielmehr
kommen die größeren Kommunen diesem Bedürfnis entgegen.


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[0574] Was lehren uns die kirchlichen Verhältnisse in der Schweiz? zugehört oder nicht. Falls der Religionsunterricht überhaupt oder die Art, wie er erteilt wird, den Eltern nicht gefällt, können sie ohne Angabe von Gründen ihrKind von denReligionsstunden dispensieren lassen. Eltern können so ihr Kind ohne jeden Religionsunterricht aufwachsen lassen; oder sie können sich mit Gleichgesinnten zusammenschließen und einen besonderen privaten Religions¬ unterricht gründen. Doch zeigt sich gerade auch hier: wenn jeder Zwang fehlt, so ist die Folge durchaus nicht, daß die Religion in der öffentlichen Meinung sinkt. Von jener Erlaubnis wird nur in äußerst seltenen Fällen Gebrauch gemacht. Dadurch wird aber der Zustand vermieden, der in zahlreichen Familien, etwa in Großstädten wie Berlin, herrscht. Die Kinder hören zu Hause Worte: „Alles, was der Pfarrer sagt, ist Unsinn!" Und dieselben Kinder besuchen den von der Kirche beaufsichtigten Religionsunterricht, und die Eltern lassen ihre Kinder konfirmieren, um sich keinen Unannehmlichkeiten auszusetzen. Gerade im Interesse des Christentums, das nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann, würde es liegen, allen schädlichen Zwang wegfallen zu lassen, zumal es eines Kulturstaates unwürdig ist, die Dissidenten in kleinlicher Weise zu belästigen und den Moralunterricht der Freireligiösen als Ersatz für den Religionsunterricht nicht gelten zu lassen. Welche Früchte kann denn ein wider den Willen der Eltern erzwungener Religionsunterricht bringen? Werden nicht dem Christentum durch derartigen Zwang unheilbare Wunden zugefügt? Der Religionsunterricht wird in den Kantonen mit gemischt-konfessioneller Bevölkerung, wie Se. Gallen, ausschließlich von den Kirchen erteilt, denen aber die Schullokale bereitwillig zur Verfügung gestellt werden. In den meisten anderen Kantonen wird der Religionsunterricht die ersten sechs oder sieben Jahre hindurch von der Schule gegeben. Und zwar ist es ein interkonfessioneller Unterricht in biblischer Geschichte und Moral. Katechismusunterricht wird in den Schulen nicht erteilt. Indessen ist der interkonfessionelle Unterricht tat¬ sächlich nicht durchführbar, denn die meisten katholischen Kinder in den Kan¬ tonen mit vorwiegend protestantischer Bevölkerung werden auf Verlangen der katholischen Kapläne vom Religionsunterricht in der Schule dispensiert und erhalten vom Pfarrer Religionsunterricht. Unbekannt ist in der Schweiz auch die staatliche Bevormundung, die Preußen bis vor kurzem gegen seine Einwohner ausübte, so daß innerhalb der preußischen Landesgrenzen kein Krematorium errichtet werden durfte, ebenso unbekannt auch die merkwürdigen Verfügungen von Kirchenbehörden, die den Pfarrern früher die Beteiligung an Feiern bei Leichenverbrennungen unter¬ sagten. In den größeren Städten der Schweiz gibt es seit Jahren Krematorien, die von Unkirchlichen wie Kirchlichen benutzt werden. Kein Pfarrer findet es mit der christlichen Sitte unvereinbar, bei Einäscherungen Segen und Trost zu spenden. Es ist eben selbstverständlich: wenn ein Bruchteil der Bevölkerung die Kremation vorzieht, so wird ihn keine Behörde darin hindern. Vielmehr kommen die größeren Kommunen diesem Bedürfnis entgegen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/574>, abgerufen am 22.07.2024.