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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Türkische Richtlinien

Und zum dritten und -- hoffentlich -- letzten Male wiederholt sich seit
1911 das Schauspiel von 1903 und 1909 infolge des Tripoliskrieges, der
Deutschland wiederum in die gefährliche Situation zwischen dem türkischen Freund
und dem italienischen Verbündeten drängt -- wie manche meinen, gar in das
Risiko dessen, der sich zwischen zwei Stühle setzt. Die Tatsache, daß Marschall
von Biberstein neben all seinen Kollegen in Konstantinopel der einzige Diplomat
gewesen ist, der allen Verwicklungen und Intrigen zum Trotz auf seinem Posten
bleiben konnte, als der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht -- diese
charakteristische Tatsache hat das bisher über alle Zwischenfälle erhabene Ver¬
trauensverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei im alten wie im neuen
Regime verkörpert und die Kontinuität der deutsch - türkischen Politik über alle
Stimmungen und Verstimmungen hinweg verbürgt. Die jetzt manche Politiker
überraschende Tatsache, daß Marschall von Biberstein Konstantinopel verläßt und
nach London geht, hat schon die Frage veranlaßt, ob dieser Wechsel auch
eine Änderung der deutschen Orientpolitik bedeuten soll, bedingt wiederum durch
einen Umschlag der türkischen Auslandspolitik. Englische Publizisten sprechen
bereits vom Programm einer deutsch-englischen Verständigung auf der Grundlage
einer "kommerziellen Teilung" der Türkei.

Nun ist gewiß, daß die Depesche, durch die der Kaiser von Korfu aus
nach des Kanzlers Ostervortrag Marschall von Biberstein nach London versetzt
hat, ihre Wurzel im Willen zur deutsch-englischen Verständigung hat, und daß
der siebzigjährige Botschafter mit der jugendlichen Frische eines suggestiven
Optimismus sich an seine Mission macht. Und ebenso ist gewiß, daß im Mittel¬
punkt der deutsch-englischen Auseinandersetzung das Orientproblem steht: bei der
Pforte in Konstantinopel liegt der Schlüssel auch zu seiner Lösung. London
aber hat nach einer Schlüsselgewalt gestrebt, die das türkisch - arabische Gebiet
zwischen Ägypten und Persien - Indien als englische Einheit schließen möchte.
Auf diese Gefahr hat vor drei Jahren jene Neujahrsansprache des Kaisers an
seine Generäle hingewiesen, als die Einkreisungstaktik weiland König Eduards
ihren Ring zu schließen drohte. Heute ist die offene Tür durch eine neue Pforte
gesichert, und so kann Marschall von Biberstein jetzt von Konstantinopel nach
London gehen, um sein Werk auf der Grundlage einer verjüngten und gestärkten
Türkei zu vollenden und zu krönen -- trotz Tripolis!

Gerade der Tripoliskrieg kann als Beispiel und Beweis dienen. Man mag
nur fragen und sich vorstellen, was das Schicksal der alten Türkei in ihrer
Ohnmacht und Schwäche geworden wäre, wenn dieser lange Krieg den Sultan
Abdul Hamid, den "kranken Mann", getroffen hätte. Das Menetekel, gewogen
und zu leicht befunden zu werden, hätte das verwahrloste Reich dieses Despoten
sicherlich erreicht, und die Liquidation unter selbstsüchtig lauernde Erben wäre
schwer zu vermeiden gewesen. Heute hat die Türkei dank den deutschen Mitteln
die entscheidende Krisis bereits hinter sich und ist imstande, einen bald acht
Monate lang sich hinziehenden Krieg ohne große äußere und innere Schäden


Türkische Richtlinien

Und zum dritten und — hoffentlich — letzten Male wiederholt sich seit
1911 das Schauspiel von 1903 und 1909 infolge des Tripoliskrieges, der
Deutschland wiederum in die gefährliche Situation zwischen dem türkischen Freund
und dem italienischen Verbündeten drängt — wie manche meinen, gar in das
Risiko dessen, der sich zwischen zwei Stühle setzt. Die Tatsache, daß Marschall
von Biberstein neben all seinen Kollegen in Konstantinopel der einzige Diplomat
gewesen ist, der allen Verwicklungen und Intrigen zum Trotz auf seinem Posten
bleiben konnte, als der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht — diese
charakteristische Tatsache hat das bisher über alle Zwischenfälle erhabene Ver¬
trauensverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei im alten wie im neuen
Regime verkörpert und die Kontinuität der deutsch - türkischen Politik über alle
Stimmungen und Verstimmungen hinweg verbürgt. Die jetzt manche Politiker
überraschende Tatsache, daß Marschall von Biberstein Konstantinopel verläßt und
nach London geht, hat schon die Frage veranlaßt, ob dieser Wechsel auch
eine Änderung der deutschen Orientpolitik bedeuten soll, bedingt wiederum durch
einen Umschlag der türkischen Auslandspolitik. Englische Publizisten sprechen
bereits vom Programm einer deutsch-englischen Verständigung auf der Grundlage
einer „kommerziellen Teilung" der Türkei.

Nun ist gewiß, daß die Depesche, durch die der Kaiser von Korfu aus
nach des Kanzlers Ostervortrag Marschall von Biberstein nach London versetzt
hat, ihre Wurzel im Willen zur deutsch-englischen Verständigung hat, und daß
der siebzigjährige Botschafter mit der jugendlichen Frische eines suggestiven
Optimismus sich an seine Mission macht. Und ebenso ist gewiß, daß im Mittel¬
punkt der deutsch-englischen Auseinandersetzung das Orientproblem steht: bei der
Pforte in Konstantinopel liegt der Schlüssel auch zu seiner Lösung. London
aber hat nach einer Schlüsselgewalt gestrebt, die das türkisch - arabische Gebiet
zwischen Ägypten und Persien - Indien als englische Einheit schließen möchte.
Auf diese Gefahr hat vor drei Jahren jene Neujahrsansprache des Kaisers an
seine Generäle hingewiesen, als die Einkreisungstaktik weiland König Eduards
ihren Ring zu schließen drohte. Heute ist die offene Tür durch eine neue Pforte
gesichert, und so kann Marschall von Biberstein jetzt von Konstantinopel nach
London gehen, um sein Werk auf der Grundlage einer verjüngten und gestärkten
Türkei zu vollenden und zu krönen — trotz Tripolis!

Gerade der Tripoliskrieg kann als Beispiel und Beweis dienen. Man mag
nur fragen und sich vorstellen, was das Schicksal der alten Türkei in ihrer
Ohnmacht und Schwäche geworden wäre, wenn dieser lange Krieg den Sultan
Abdul Hamid, den „kranken Mann", getroffen hätte. Das Menetekel, gewogen
und zu leicht befunden zu werden, hätte das verwahrloste Reich dieses Despoten
sicherlich erreicht, und die Liquidation unter selbstsüchtig lauernde Erben wäre
schwer zu vermeiden gewesen. Heute hat die Türkei dank den deutschen Mitteln
die entscheidende Krisis bereits hinter sich und ist imstande, einen bald acht
Monate lang sich hinziehenden Krieg ohne große äußere und innere Schäden


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[0514] Türkische Richtlinien Und zum dritten und — hoffentlich — letzten Male wiederholt sich seit 1911 das Schauspiel von 1903 und 1909 infolge des Tripoliskrieges, der Deutschland wiederum in die gefährliche Situation zwischen dem türkischen Freund und dem italienischen Verbündeten drängt — wie manche meinen, gar in das Risiko dessen, der sich zwischen zwei Stühle setzt. Die Tatsache, daß Marschall von Biberstein neben all seinen Kollegen in Konstantinopel der einzige Diplomat gewesen ist, der allen Verwicklungen und Intrigen zum Trotz auf seinem Posten bleiben konnte, als der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht — diese charakteristische Tatsache hat das bisher über alle Zwischenfälle erhabene Ver¬ trauensverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei im alten wie im neuen Regime verkörpert und die Kontinuität der deutsch - türkischen Politik über alle Stimmungen und Verstimmungen hinweg verbürgt. Die jetzt manche Politiker überraschende Tatsache, daß Marschall von Biberstein Konstantinopel verläßt und nach London geht, hat schon die Frage veranlaßt, ob dieser Wechsel auch eine Änderung der deutschen Orientpolitik bedeuten soll, bedingt wiederum durch einen Umschlag der türkischen Auslandspolitik. Englische Publizisten sprechen bereits vom Programm einer deutsch-englischen Verständigung auf der Grundlage einer „kommerziellen Teilung" der Türkei. Nun ist gewiß, daß die Depesche, durch die der Kaiser von Korfu aus nach des Kanzlers Ostervortrag Marschall von Biberstein nach London versetzt hat, ihre Wurzel im Willen zur deutsch-englischen Verständigung hat, und daß der siebzigjährige Botschafter mit der jugendlichen Frische eines suggestiven Optimismus sich an seine Mission macht. Und ebenso ist gewiß, daß im Mittel¬ punkt der deutsch-englischen Auseinandersetzung das Orientproblem steht: bei der Pforte in Konstantinopel liegt der Schlüssel auch zu seiner Lösung. London aber hat nach einer Schlüsselgewalt gestrebt, die das türkisch - arabische Gebiet zwischen Ägypten und Persien - Indien als englische Einheit schließen möchte. Auf diese Gefahr hat vor drei Jahren jene Neujahrsansprache des Kaisers an seine Generäle hingewiesen, als die Einkreisungstaktik weiland König Eduards ihren Ring zu schließen drohte. Heute ist die offene Tür durch eine neue Pforte gesichert, und so kann Marschall von Biberstein jetzt von Konstantinopel nach London gehen, um sein Werk auf der Grundlage einer verjüngten und gestärkten Türkei zu vollenden und zu krönen — trotz Tripolis! Gerade der Tripoliskrieg kann als Beispiel und Beweis dienen. Man mag nur fragen und sich vorstellen, was das Schicksal der alten Türkei in ihrer Ohnmacht und Schwäche geworden wäre, wenn dieser lange Krieg den Sultan Abdul Hamid, den „kranken Mann", getroffen hätte. Das Menetekel, gewogen und zu leicht befunden zu werden, hätte das verwahrloste Reich dieses Despoten sicherlich erreicht, und die Liquidation unter selbstsüchtig lauernde Erben wäre schwer zu vermeiden gewesen. Heute hat die Türkei dank den deutschen Mitteln die entscheidende Krisis bereits hinter sich und ist imstande, einen bald acht Monate lang sich hinziehenden Krieg ohne große äußere und innere Schäden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/514>, abgerufen am 22.07.2024.