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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Zwischen Theater und Amo

graphenwesen, seien sie wirtschaftlicher, seien sie kultureller Natur, für unbedingt
notwendig, wir wollen aber anderseits auch, daß der lebenden Photographie
die Möglichkeit gegeben und gewahrt bleibe, die ihr innewohnenden Werte
nach allen Seiten hin zu kultivieren und zu entwickeln. Ihre Entwicklung
nach einer wertvollen Seite hin zu lenken, das ist auch eine Kulturaufgabe
unserer Zeit.

Auf diese Weise, so glauben wir, wird man auch allen Ansprüchen gerecht,
die das Theater, jener Kulturfaktor, der durch das Aufblühen des neuen
Kulturerzeugnisses am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird, billigerweise stellen
darf. Das Theater wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, gewisse
Teile seines bisherigen Herrschaftsgebietes dem neuen Eroberer halb gezwungen,
halb gutwillig abzutreten. Man wird die Notwendigkeit dieser Gebiets¬
regulierung vielleicht um so eher einsehen, wenn man beachtet, daß die Ent¬
wicklung unserer Schaubühne in den letzten Jahrzehnten in mancher Hinsicht
dem kommenden Kinematographen vorgearbeitet hat, daß durch manche Er-
scheinungen unserer dramatischen Literatur und durch die Darstellung, die diese
^f der modernen Bühne fanden, der Geschmack des Publikums langsam aber
sicher auf das vorbereitet worden ist, was ihm jetzt im Kinematographentheater
geboten wird.

- Oder ist das naturalistische Prinzip, die Naturtreue, mit der die naturali¬
stische Dramatik und die naturalistische Bühne arbeiten, ein anderes als jenes,
das im kinematographischen Filu seinen vollendetsten Ausdruck findet? Mit
der naturalistischen Kraft und Treue des kinematographischen Films kann aber
das Theater nicht mehr konkurrieren. Daher wird die moderne Bühne das
naturalistische Prinzip immer mehr und mehr aufgeben müssen, soweit sie es
uicht jetzt schon getan hat.

Aber nicht nur formal hat unser Publikum im Theater eine Erziehung
>Ur den Kinematographen erhalten. Unterscheiden sich denn die Stoffe moderner
Durchschnittsdramatik wirklich so außerordentlich stark von jenen Stoffen, die
wan in den besseren Films behandelt sieht? Gleichen die Durchschnittslustspiele
unt ihrer harmlosen Technik nicht vielfach dem amerikanischen Humor mancher
Nims, die Paprikaerotik mancher importierter schwanke den Stoffen kinemato¬
graphischer Sensationsfilms? Und steigt man erst gar zu jenen Bühnen herab,
die an der Grenze des Varietös stehen, so wird die Übereinstimmung noch
größer: man vergleiche gewisse Sketches mit Sensationsfilms, gewisse Burlesken
-Mit der Komik italienischer oder französischer Films.

Jemand, dem die Blüte und der Hochstand unseres modernen Theaters
als eines Kulturfaktors am Herzen liegt, der wird es sogar gar nicht einmal
ungern sehen, wenn das Theater auf den eben berührten Gebieten von dem
Kinematographentheater aus dem Felde geschlagen wird und wenn es deren
Bearbeitung in Zukunft vorzugsweise diesem überläßt. Wenn durch diese
Gebietsverschiebung manche "Theater" zugrunde gehen oder sich in Kinemato-


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graphenwesen, seien sie wirtschaftlicher, seien sie kultureller Natur, für unbedingt
notwendig, wir wollen aber anderseits auch, daß der lebenden Photographie
die Möglichkeit gegeben und gewahrt bleibe, die ihr innewohnenden Werte
nach allen Seiten hin zu kultivieren und zu entwickeln. Ihre Entwicklung
nach einer wertvollen Seite hin zu lenken, das ist auch eine Kulturaufgabe
unserer Zeit.

Auf diese Weise, so glauben wir, wird man auch allen Ansprüchen gerecht,
die das Theater, jener Kulturfaktor, der durch das Aufblühen des neuen
Kulturerzeugnisses am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird, billigerweise stellen
darf. Das Theater wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, gewisse
Teile seines bisherigen Herrschaftsgebietes dem neuen Eroberer halb gezwungen,
halb gutwillig abzutreten. Man wird die Notwendigkeit dieser Gebiets¬
regulierung vielleicht um so eher einsehen, wenn man beachtet, daß die Ent¬
wicklung unserer Schaubühne in den letzten Jahrzehnten in mancher Hinsicht
dem kommenden Kinematographen vorgearbeitet hat, daß durch manche Er-
scheinungen unserer dramatischen Literatur und durch die Darstellung, die diese
^f der modernen Bühne fanden, der Geschmack des Publikums langsam aber
sicher auf das vorbereitet worden ist, was ihm jetzt im Kinematographentheater
geboten wird.

- Oder ist das naturalistische Prinzip, die Naturtreue, mit der die naturali¬
stische Dramatik und die naturalistische Bühne arbeiten, ein anderes als jenes,
das im kinematographischen Filu seinen vollendetsten Ausdruck findet? Mit
der naturalistischen Kraft und Treue des kinematographischen Films kann aber
das Theater nicht mehr konkurrieren. Daher wird die moderne Bühne das
naturalistische Prinzip immer mehr und mehr aufgeben müssen, soweit sie es
uicht jetzt schon getan hat.

Aber nicht nur formal hat unser Publikum im Theater eine Erziehung
>Ur den Kinematographen erhalten. Unterscheiden sich denn die Stoffe moderner
Durchschnittsdramatik wirklich so außerordentlich stark von jenen Stoffen, die
wan in den besseren Films behandelt sieht? Gleichen die Durchschnittslustspiele
unt ihrer harmlosen Technik nicht vielfach dem amerikanischen Humor mancher
Nims, die Paprikaerotik mancher importierter schwanke den Stoffen kinemato¬
graphischer Sensationsfilms? Und steigt man erst gar zu jenen Bühnen herab,
die an der Grenze des Varietös stehen, so wird die Übereinstimmung noch
größer: man vergleiche gewisse Sketches mit Sensationsfilms, gewisse Burlesken
-Mit der Komik italienischer oder französischer Films.

Jemand, dem die Blüte und der Hochstand unseres modernen Theaters
als eines Kulturfaktors am Herzen liegt, der wird es sogar gar nicht einmal
ungern sehen, wenn das Theater auf den eben berührten Gebieten von dem
Kinematographentheater aus dem Felde geschlagen wird und wenn es deren
Bearbeitung in Zukunft vorzugsweise diesem überläßt. Wenn durch diese
Gebietsverschiebung manche „Theater" zugrunde gehen oder sich in Kinemato-


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[0499] Zwischen Theater und Amo graphenwesen, seien sie wirtschaftlicher, seien sie kultureller Natur, für unbedingt notwendig, wir wollen aber anderseits auch, daß der lebenden Photographie die Möglichkeit gegeben und gewahrt bleibe, die ihr innewohnenden Werte nach allen Seiten hin zu kultivieren und zu entwickeln. Ihre Entwicklung nach einer wertvollen Seite hin zu lenken, das ist auch eine Kulturaufgabe unserer Zeit. Auf diese Weise, so glauben wir, wird man auch allen Ansprüchen gerecht, die das Theater, jener Kulturfaktor, der durch das Aufblühen des neuen Kulturerzeugnisses am meisten in Mitleidenschaft gezogen wird, billigerweise stellen darf. Das Theater wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, gewisse Teile seines bisherigen Herrschaftsgebietes dem neuen Eroberer halb gezwungen, halb gutwillig abzutreten. Man wird die Notwendigkeit dieser Gebiets¬ regulierung vielleicht um so eher einsehen, wenn man beachtet, daß die Ent¬ wicklung unserer Schaubühne in den letzten Jahrzehnten in mancher Hinsicht dem kommenden Kinematographen vorgearbeitet hat, daß durch manche Er- scheinungen unserer dramatischen Literatur und durch die Darstellung, die diese ^f der modernen Bühne fanden, der Geschmack des Publikums langsam aber sicher auf das vorbereitet worden ist, was ihm jetzt im Kinematographentheater geboten wird. - Oder ist das naturalistische Prinzip, die Naturtreue, mit der die naturali¬ stische Dramatik und die naturalistische Bühne arbeiten, ein anderes als jenes, das im kinematographischen Filu seinen vollendetsten Ausdruck findet? Mit der naturalistischen Kraft und Treue des kinematographischen Films kann aber das Theater nicht mehr konkurrieren. Daher wird die moderne Bühne das naturalistische Prinzip immer mehr und mehr aufgeben müssen, soweit sie es uicht jetzt schon getan hat. Aber nicht nur formal hat unser Publikum im Theater eine Erziehung >Ur den Kinematographen erhalten. Unterscheiden sich denn die Stoffe moderner Durchschnittsdramatik wirklich so außerordentlich stark von jenen Stoffen, die wan in den besseren Films behandelt sieht? Gleichen die Durchschnittslustspiele unt ihrer harmlosen Technik nicht vielfach dem amerikanischen Humor mancher Nims, die Paprikaerotik mancher importierter schwanke den Stoffen kinemato¬ graphischer Sensationsfilms? Und steigt man erst gar zu jenen Bühnen herab, die an der Grenze des Varietös stehen, so wird die Übereinstimmung noch größer: man vergleiche gewisse Sketches mit Sensationsfilms, gewisse Burlesken -Mit der Komik italienischer oder französischer Films. Jemand, dem die Blüte und der Hochstand unseres modernen Theaters als eines Kulturfaktors am Herzen liegt, der wird es sogar gar nicht einmal ungern sehen, wenn das Theater auf den eben berührten Gebieten von dem Kinematographentheater aus dem Felde geschlagen wird und wenn es deren Bearbeitung in Zukunft vorzugsweise diesem überläßt. Wenn durch diese Gebietsverschiebung manche „Theater" zugrunde gehen oder sich in Kinemato-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/499>, abgerufen am 26.06.2024.