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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

das sei nicht Wissenschaft, sondern Politik.
Die Behauptungen Pohles habe ich an
einem anderen Orte geprüft, und den
Streit um die Exaktheit zu schlichten, überlasse
ich den Fachautoritäten; hier soll nur über
das neueste Buch von Julius Wolf berichtet
werden, eine sehr erfreuliche Erscheinung, die
freilich manchen Leuten gar wenig Freude
machen wird.

Die "Nationalökonomie als exakte Wissen¬
schaft" enthält nur strenge, trockene Theorie.
Einen Teil der darin aufgestellten Thesen nun
hat Wolf "vor einem Forum von Praktikern"
ausführlicher, in einer den Ansprüchen seines
Publikums entgegenkommenden Form ent¬
wickelt und mit einer reichen Fülle von Bei¬
spielen und statistischen Daten beleuchtet. Das
oben angezeigte Werk ist die Buchausgabe
dieser, für den Zweck erweiterten Vorträge.
(1. Aus der Geschichte der Nationalökonomie.
2. Die natürlichen Bedingungen der Pro¬
duktion. 3. Marktphänomene. 4. Einkommen
und Einkommcnberteilung. 6. Das Ver¬
mehrungsgesetz der Menschheit. 6. Die Zukunft
der Volkswirtschaft.) Einige der neuen Thesen,
die Wolf aufstellt, habe ich im Jahrgange
1908 der Grenzboten (IV S. SW ff.) erörtert.
Heut glaube ich zunächst die Aufmerksamkeit
auf eine Definition lenken zu sollen, deren
Kritik aktuelles Interesse beanspruchen darf.
"Einkommen in volkswirtschaftlichen Sinne
(oder Produktivität) ist der Unterschied der
Leistung gegen die Kosten wirtschaftlicher
Tätigkeit", oder "der durch wirtschaftliche
Tätigkeit realisierte Überschuß des Wertes
einer Leistung über ihre notwendigen Kosten".
Produktivität, eine Eigenschaft, gleich dem
Überschuß, also gleich einem Dinge, das scheint
mir nicht sehr exakt zu sein. Aber abgesehen
davon: eine Definition von Einkommen muß
auf die Privatwirtschaft so gut Passen wie auf
die Volkswirtschaft, und das gilt von der
alten Definition: Einkommen ist die Güter¬
menge, über die ein Mensch oder ein Volk
im Zeitraum eines JahreS zu verfügen hat.
Die Definition Wolfs Paßt höchstens auf den
Kaufmann und auf jeden anderen, der sein
Geschäft kaufmännisch betreibt, oder so weit
er es kaufmännisch betreibt. Der Südsee¬
insulaner, dessen Einkommen in den Früchten
seiner Palmen besteht, hat gar keine Kosten.

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Und auch der heutige Kleinbauer mitten in
unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung hat
kaum nennenswerte Betriebskosten, so daß es
wenig Sinn hätte, den Ertrag seines Ackers
und seiner zwei Kühe als Überschuß über die
Kosten zu bezeichnen. Wolf deutet selbst die
Stelle an, von der aus seine Definition be¬
stritten werden kann. Er widerlegt die An¬
sicht, daß die Produktionskosten die untere
Grenze des Preises seien; diese Grenze liege
viel tiefer. Wenn der Unternehmer bei un¬
günstiger Preislage eine Zeitlang unter den
Kosten verkaufe, komme er meistens noch
billiger weg, als wenn er den Betrieb ein¬
stelle. Die deutschen Landwirte hätten von
1885 bis 190S den Weizen zu durchschnittlich
13,80 Mark den Doppelzentner verkaufen
müssen, während die Kosten, in Westdeutsch¬
land wenigstens, 17 Mark betrugen, sie
hätten aber nicht daran gedacht, den Betrieb
einzustellen. Wo wäre ein Fabrikant zu finden,
der zwanzig Jahre lang mit Verlust arbeitete!
An einem ganzen Jahre wird auch derBest-
situierte meistens genug haben. Die Land¬
wirte konnten es aushalten, weil ein großer
Teil, bei vielen der größte Teil ihres Ge¬
treides dem Kostengesetz gar nicht unterliegt,
da sie es selbst verzehren. Der Landwirt
bezieht Einkommen, auch wenn er gar nichts
verkauft. Der Kattuufabrikant kann seinen
Kattun nicht essen; verkauft er keinen, oder
verkauft er ohne Profit oder gar mit Verlust,
so hat er kein Einkommen. Der Landwirt
hat die beiden wesentlichsten Bestandteile des
Einkommens, Wohnung und Nahrung, auf
alle Fälle. Und er ist nicht, wie der Fabrikant,
auf eine Art von Produkten beschränkt. Wird
dein kleinen Landwirt in böser Zeit die Steuer
erlassen oder verzichtet er auf Kulturausgaben,
so kann er ein paar Jahre ganz ohne Geld
auskommen z aber er löst auch bei Mißwachs
des Getreides noch Geld aus Milch, Butter,
Kälbern, Schweinen, Obst und dergleichen.
Ich habe sogar einen Rittergutsbesitzer ge¬
kannt, der weder Getreide noch Kartoffeln
verkaufte, sondern alle Körner- und Hackfrüchte
auf seinem Hofe verfütterte; Geld löste er nur
ans Milch, Vieh, Wolle und Raps. Also daS
landwirtschaftliche Einkommen wird nur zum
Teil von der neuen Definition erfaßt, und
diese ist darum gefährlich, weil sie dazu ver-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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das sei nicht Wissenschaft, sondern Politik.
Die Behauptungen Pohles habe ich an
einem anderen Orte geprüft, und den
Streit um die Exaktheit zu schlichten, überlasse
ich den Fachautoritäten; hier soll nur über
das neueste Buch von Julius Wolf berichtet
werden, eine sehr erfreuliche Erscheinung, die
freilich manchen Leuten gar wenig Freude
machen wird.

Die „Nationalökonomie als exakte Wissen¬
schaft" enthält nur strenge, trockene Theorie.
Einen Teil der darin aufgestellten Thesen nun
hat Wolf „vor einem Forum von Praktikern"
ausführlicher, in einer den Ansprüchen seines
Publikums entgegenkommenden Form ent¬
wickelt und mit einer reichen Fülle von Bei¬
spielen und statistischen Daten beleuchtet. Das
oben angezeigte Werk ist die Buchausgabe
dieser, für den Zweck erweiterten Vorträge.
(1. Aus der Geschichte der Nationalökonomie.
2. Die natürlichen Bedingungen der Pro¬
duktion. 3. Marktphänomene. 4. Einkommen
und Einkommcnberteilung. 6. Das Ver¬
mehrungsgesetz der Menschheit. 6. Die Zukunft
der Volkswirtschaft.) Einige der neuen Thesen,
die Wolf aufstellt, habe ich im Jahrgange
1908 der Grenzboten (IV S. SW ff.) erörtert.
Heut glaube ich zunächst die Aufmerksamkeit
auf eine Definition lenken zu sollen, deren
Kritik aktuelles Interesse beanspruchen darf.
„Einkommen in volkswirtschaftlichen Sinne
(oder Produktivität) ist der Unterschied der
Leistung gegen die Kosten wirtschaftlicher
Tätigkeit", oder „der durch wirtschaftliche
Tätigkeit realisierte Überschuß des Wertes
einer Leistung über ihre notwendigen Kosten".
Produktivität, eine Eigenschaft, gleich dem
Überschuß, also gleich einem Dinge, das scheint
mir nicht sehr exakt zu sein. Aber abgesehen
davon: eine Definition von Einkommen muß
auf die Privatwirtschaft so gut Passen wie auf
die Volkswirtschaft, und das gilt von der
alten Definition: Einkommen ist die Güter¬
menge, über die ein Mensch oder ein Volk
im Zeitraum eines JahreS zu verfügen hat.
Die Definition Wolfs Paßt höchstens auf den
Kaufmann und auf jeden anderen, der sein
Geschäft kaufmännisch betreibt, oder so weit
er es kaufmännisch betreibt. Der Südsee¬
insulaner, dessen Einkommen in den Früchten
seiner Palmen besteht, hat gar keine Kosten.

[Spaltenumbruch]

Und auch der heutige Kleinbauer mitten in
unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung hat
kaum nennenswerte Betriebskosten, so daß es
wenig Sinn hätte, den Ertrag seines Ackers
und seiner zwei Kühe als Überschuß über die
Kosten zu bezeichnen. Wolf deutet selbst die
Stelle an, von der aus seine Definition be¬
stritten werden kann. Er widerlegt die An¬
sicht, daß die Produktionskosten die untere
Grenze des Preises seien; diese Grenze liege
viel tiefer. Wenn der Unternehmer bei un¬
günstiger Preislage eine Zeitlang unter den
Kosten verkaufe, komme er meistens noch
billiger weg, als wenn er den Betrieb ein¬
stelle. Die deutschen Landwirte hätten von
1885 bis 190S den Weizen zu durchschnittlich
13,80 Mark den Doppelzentner verkaufen
müssen, während die Kosten, in Westdeutsch¬
land wenigstens, 17 Mark betrugen, sie
hätten aber nicht daran gedacht, den Betrieb
einzustellen. Wo wäre ein Fabrikant zu finden,
der zwanzig Jahre lang mit Verlust arbeitete!
An einem ganzen Jahre wird auch derBest-
situierte meistens genug haben. Die Land¬
wirte konnten es aushalten, weil ein großer
Teil, bei vielen der größte Teil ihres Ge¬
treides dem Kostengesetz gar nicht unterliegt,
da sie es selbst verzehren. Der Landwirt
bezieht Einkommen, auch wenn er gar nichts
verkauft. Der Kattuufabrikant kann seinen
Kattun nicht essen; verkauft er keinen, oder
verkauft er ohne Profit oder gar mit Verlust,
so hat er kein Einkommen. Der Landwirt
hat die beiden wesentlichsten Bestandteile des
Einkommens, Wohnung und Nahrung, auf
alle Fälle. Und er ist nicht, wie der Fabrikant,
auf eine Art von Produkten beschränkt. Wird
dein kleinen Landwirt in böser Zeit die Steuer
erlassen oder verzichtet er auf Kulturausgaben,
so kann er ein paar Jahre ganz ohne Geld
auskommen z aber er löst auch bei Mißwachs
des Getreides noch Geld aus Milch, Butter,
Kälbern, Schweinen, Obst und dergleichen.
Ich habe sogar einen Rittergutsbesitzer ge¬
kannt, der weder Getreide noch Kartoffeln
verkaufte, sondern alle Körner- und Hackfrüchte
auf seinem Hofe verfütterte; Geld löste er nur
ans Milch, Vieh, Wolle und Raps. Also daS
landwirtschaftliche Einkommen wird nur zum
Teil von der neuen Definition erfaßt, und
diese ist darum gefährlich, weil sie dazu ver-

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[0455] Maßgebliches und Unmaßgebliches das sei nicht Wissenschaft, sondern Politik. Die Behauptungen Pohles habe ich an einem anderen Orte geprüft, und den Streit um die Exaktheit zu schlichten, überlasse ich den Fachautoritäten; hier soll nur über das neueste Buch von Julius Wolf berichtet werden, eine sehr erfreuliche Erscheinung, die freilich manchen Leuten gar wenig Freude machen wird. Die „Nationalökonomie als exakte Wissen¬ schaft" enthält nur strenge, trockene Theorie. Einen Teil der darin aufgestellten Thesen nun hat Wolf „vor einem Forum von Praktikern" ausführlicher, in einer den Ansprüchen seines Publikums entgegenkommenden Form ent¬ wickelt und mit einer reichen Fülle von Bei¬ spielen und statistischen Daten beleuchtet. Das oben angezeigte Werk ist die Buchausgabe dieser, für den Zweck erweiterten Vorträge. (1. Aus der Geschichte der Nationalökonomie. 2. Die natürlichen Bedingungen der Pro¬ duktion. 3. Marktphänomene. 4. Einkommen und Einkommcnberteilung. 6. Das Ver¬ mehrungsgesetz der Menschheit. 6. Die Zukunft der Volkswirtschaft.) Einige der neuen Thesen, die Wolf aufstellt, habe ich im Jahrgange 1908 der Grenzboten (IV S. SW ff.) erörtert. Heut glaube ich zunächst die Aufmerksamkeit auf eine Definition lenken zu sollen, deren Kritik aktuelles Interesse beanspruchen darf. „Einkommen in volkswirtschaftlichen Sinne (oder Produktivität) ist der Unterschied der Leistung gegen die Kosten wirtschaftlicher Tätigkeit", oder „der durch wirtschaftliche Tätigkeit realisierte Überschuß des Wertes einer Leistung über ihre notwendigen Kosten". Produktivität, eine Eigenschaft, gleich dem Überschuß, also gleich einem Dinge, das scheint mir nicht sehr exakt zu sein. Aber abgesehen davon: eine Definition von Einkommen muß auf die Privatwirtschaft so gut Passen wie auf die Volkswirtschaft, und das gilt von der alten Definition: Einkommen ist die Güter¬ menge, über die ein Mensch oder ein Volk im Zeitraum eines JahreS zu verfügen hat. Die Definition Wolfs Paßt höchstens auf den Kaufmann und auf jeden anderen, der sein Geschäft kaufmännisch betreibt, oder so weit er es kaufmännisch betreibt. Der Südsee¬ insulaner, dessen Einkommen in den Früchten seiner Palmen besteht, hat gar keine Kosten. Und auch der heutige Kleinbauer mitten in unserer kapitalistischen Gesellschaftsordnung hat kaum nennenswerte Betriebskosten, so daß es wenig Sinn hätte, den Ertrag seines Ackers und seiner zwei Kühe als Überschuß über die Kosten zu bezeichnen. Wolf deutet selbst die Stelle an, von der aus seine Definition be¬ stritten werden kann. Er widerlegt die An¬ sicht, daß die Produktionskosten die untere Grenze des Preises seien; diese Grenze liege viel tiefer. Wenn der Unternehmer bei un¬ günstiger Preislage eine Zeitlang unter den Kosten verkaufe, komme er meistens noch billiger weg, als wenn er den Betrieb ein¬ stelle. Die deutschen Landwirte hätten von 1885 bis 190S den Weizen zu durchschnittlich 13,80 Mark den Doppelzentner verkaufen müssen, während die Kosten, in Westdeutsch¬ land wenigstens, 17 Mark betrugen, sie hätten aber nicht daran gedacht, den Betrieb einzustellen. Wo wäre ein Fabrikant zu finden, der zwanzig Jahre lang mit Verlust arbeitete! An einem ganzen Jahre wird auch derBest- situierte meistens genug haben. Die Land¬ wirte konnten es aushalten, weil ein großer Teil, bei vielen der größte Teil ihres Ge¬ treides dem Kostengesetz gar nicht unterliegt, da sie es selbst verzehren. Der Landwirt bezieht Einkommen, auch wenn er gar nichts verkauft. Der Kattuufabrikant kann seinen Kattun nicht essen; verkauft er keinen, oder verkauft er ohne Profit oder gar mit Verlust, so hat er kein Einkommen. Der Landwirt hat die beiden wesentlichsten Bestandteile des Einkommens, Wohnung und Nahrung, auf alle Fälle. Und er ist nicht, wie der Fabrikant, auf eine Art von Produkten beschränkt. Wird dein kleinen Landwirt in böser Zeit die Steuer erlassen oder verzichtet er auf Kulturausgaben, so kann er ein paar Jahre ganz ohne Geld auskommen z aber er löst auch bei Mißwachs des Getreides noch Geld aus Milch, Butter, Kälbern, Schweinen, Obst und dergleichen. Ich habe sogar einen Rittergutsbesitzer ge¬ kannt, der weder Getreide noch Kartoffeln verkaufte, sondern alle Körner- und Hackfrüchte auf seinem Hofe verfütterte; Geld löste er nur ans Milch, Vieh, Wolle und Raps. Also daS landwirtschaftliche Einkommen wird nur zum Teil von der neuen Definition erfaßt, und diese ist darum gefährlich, weil sie dazu ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/455>, abgerufen am 26.06.2024.