Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

erst verhältnismäßig spät entwickelt, gelangen
zur Wiedergabe, ja sogar zur unsymmetrischen
Wiedergabe schwieriger Rhythmen. Man hat
mir gesagt, daß auch das absolute Gehör
durch die rhythmische Schulung eine be¬
merkenswerte Ausbildung erfahre.

Dennoch muß darauf hingewiesen werden,
daß es bor allem die formalen Elemente der
Musik sind, die hier ihre Schulung, man
möchte beinahe sagen, einen gewissen Drill er¬
halten. Es erscheint uns schwierig, die Dal-
crozesche Methode an den Gehalt der Musik
heranzuführen.

Ferner hat Dalcroze recht, wenn er be¬
tont, daß durch die Übung in der Darstellung
von Rhythmen durch Körperbewegungen das
Individuum zur bewußten, willensmäßigen
Herrschaft über seine Körperbewegungen ge¬
lange, daß instinktive, unbewußte MuSkel-
innervationen dadurch in den Dienst des be¬
wußten persönlichen Willens gestellt werden.
DaS wäre dann der Vorteil, den die Gym¬
nastik als solche von der rhythmischen Gym¬
nastik ziehen könnte. Aber diese bewußte,
willenskräftige Herrschaft über deu Körper
erzielt die Gymnastik überhaupt, ihre rhyth¬
mische Schwester bringt ihr also nichts wesent¬
lich Neues. Dagegen findet die rhythmische
Gymnastik auf Grund ihres rein formalen
Charakters nur schwer wieder den Anschluß
an den anatomischen und hygienischen Gehalt
der eigentlichen Gymnastik und gerät in Ge¬
fahr, ein rhythmisches Exerzieren zu werden.

Allerdings sucht Dalcroze der rhythmischen
Gymnastik einen Gehalt zu geben, indem er
die rhythmisch ausgeführte Körperbewegung zur
Ausdrucksbewegung auszugestalten sucht, und
zwar nicht nur in der Weise, daß aus ihr
allein der Rhythmus spricht, daß sie rein
plastische Darstellung des Rhythmus wäre,
sondern er legt auch weiterreichende Gefühls-
komplexe rein menschlichen Gehalts, wie Ent¬
täuschung, Schmerz, Beschämung, Neugierde
usw. der Körperbewegung zugrunde.*) Er
will gewissermaßen rhythmische AuSdrucks-
thpen schaffen. Eine Station auf dem Wege,
den Dalcroze hier einschlägt, ist der rhyth-

[Spaltenumbruch]

misch ausdrucksvolle Tanz, das Endziel die
Begründung eines neuartigen Theaters, auf
dem die Bewegungen des Schauspielers bis
ins kleinste rhythmische Ausdrucksbewegungen
sind, die in dem rhythmisch erzogenen Zu¬
schauer einen Widerhall wecken, der uns
arhYthinischenMenschen noch unerhört erscheint.
Auch dieser Gedankengang läßt sich schlecht
Widerlegen, um so mehr, als es erst Sache
der Zukunft sein wird, seine Richtigkeit zu be¬
weisen. Hinweisen darf man aber auch hier
darauf, daß die mitreißende Gewalt der Aus¬
drucksbewegung nicht in ihrer rhythmischen Form
liegt, sondern vor allem in ihrem menschlichen
und persönlichen Gehalt und in der Art, wie
er in der Bewegung zum Ausdruck kommt.
Auch hier liefert die rhythmische Erziehung
nur die Form.

Und ans diese durchaus formale Natur
der rhythmischen Erziehung muß man auch
wieder hinweisen, wenn eS sich darum handelt,
ihre Ansprüche zu beurteilen, als eine Er¬
ziehung zur Persönlichkeit, als Willenserzie¬
hung, gewartet zu werden. Es ist unbestreit¬
bar, daß durch die Übung darin, Rhythmen
durch Körperbewegungen spontan zu reali¬
sieren, eine Willensübung, eine Übung in der
Exaktheit, der Planmäßigkeit und Spontaneität
der Willensinnervntiouen erzielt wird. Aber
auch diese Übung ist eine reine formale, sie
gibt keine Gewähr für die Bestätigung des
Willens, vor allein für die Richtung des
Willens, die dieser bei der Betätigung um
Praktischen Gegenständen, bei der Beschäftigung
mit Praktischen Werten einschlagen wird. Die
Willensleistung erfährt durch Nhythmisierung
nur eine quantitative, keine qualitative Förde¬
rung. Deshalb ist es verkehrt, daß Dr. Wolf
Dohrn in dem einleitenden Aufsatze des Jahr¬
buches von Büchners "Arbeit und Rhythmus"
sich Beweise für die bildende Kraft der
rhythmischen Erziehung zu holen sucht.

Die Erziehung zur Persönlichkeit muß auch
eine einheitliche und ständige Richtung des
Willens auf gewisse inhaltliche Werte des
menschlichen Lebens zu erwirken streben; denn
das Wesen der Persönlichkeit besteht in einem
solchen einheitlichen Willenstonus. Die rhyth¬
mische Erziehung dagegen beeinflußt auf
Grund ihres rein formalen Charakters einzig
die Form der Willensäußerung, sie übt

[Ende Spaltensatz]
*) Vgl. Methode JagueS-Dalcroze, I. Teil,
"Rhythmische Gymnastik." Paris, Neuchatel,
Leipzig. S. 264 f., S. 268 ff.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

erst verhältnismäßig spät entwickelt, gelangen
zur Wiedergabe, ja sogar zur unsymmetrischen
Wiedergabe schwieriger Rhythmen. Man hat
mir gesagt, daß auch das absolute Gehör
durch die rhythmische Schulung eine be¬
merkenswerte Ausbildung erfahre.

Dennoch muß darauf hingewiesen werden,
daß es bor allem die formalen Elemente der
Musik sind, die hier ihre Schulung, man
möchte beinahe sagen, einen gewissen Drill er¬
halten. Es erscheint uns schwierig, die Dal-
crozesche Methode an den Gehalt der Musik
heranzuführen.

Ferner hat Dalcroze recht, wenn er be¬
tont, daß durch die Übung in der Darstellung
von Rhythmen durch Körperbewegungen das
Individuum zur bewußten, willensmäßigen
Herrschaft über seine Körperbewegungen ge¬
lange, daß instinktive, unbewußte MuSkel-
innervationen dadurch in den Dienst des be¬
wußten persönlichen Willens gestellt werden.
DaS wäre dann der Vorteil, den die Gym¬
nastik als solche von der rhythmischen Gym¬
nastik ziehen könnte. Aber diese bewußte,
willenskräftige Herrschaft über deu Körper
erzielt die Gymnastik überhaupt, ihre rhyth¬
mische Schwester bringt ihr also nichts wesent¬
lich Neues. Dagegen findet die rhythmische
Gymnastik auf Grund ihres rein formalen
Charakters nur schwer wieder den Anschluß
an den anatomischen und hygienischen Gehalt
der eigentlichen Gymnastik und gerät in Ge¬
fahr, ein rhythmisches Exerzieren zu werden.

Allerdings sucht Dalcroze der rhythmischen
Gymnastik einen Gehalt zu geben, indem er
die rhythmisch ausgeführte Körperbewegung zur
Ausdrucksbewegung auszugestalten sucht, und
zwar nicht nur in der Weise, daß aus ihr
allein der Rhythmus spricht, daß sie rein
plastische Darstellung des Rhythmus wäre,
sondern er legt auch weiterreichende Gefühls-
komplexe rein menschlichen Gehalts, wie Ent¬
täuschung, Schmerz, Beschämung, Neugierde
usw. der Körperbewegung zugrunde.*) Er
will gewissermaßen rhythmische AuSdrucks-
thpen schaffen. Eine Station auf dem Wege,
den Dalcroze hier einschlägt, ist der rhyth-

[Spaltenumbruch]

misch ausdrucksvolle Tanz, das Endziel die
Begründung eines neuartigen Theaters, auf
dem die Bewegungen des Schauspielers bis
ins kleinste rhythmische Ausdrucksbewegungen
sind, die in dem rhythmisch erzogenen Zu¬
schauer einen Widerhall wecken, der uns
arhYthinischenMenschen noch unerhört erscheint.
Auch dieser Gedankengang läßt sich schlecht
Widerlegen, um so mehr, als es erst Sache
der Zukunft sein wird, seine Richtigkeit zu be¬
weisen. Hinweisen darf man aber auch hier
darauf, daß die mitreißende Gewalt der Aus¬
drucksbewegung nicht in ihrer rhythmischen Form
liegt, sondern vor allem in ihrem menschlichen
und persönlichen Gehalt und in der Art, wie
er in der Bewegung zum Ausdruck kommt.
Auch hier liefert die rhythmische Erziehung
nur die Form.

Und ans diese durchaus formale Natur
der rhythmischen Erziehung muß man auch
wieder hinweisen, wenn eS sich darum handelt,
ihre Ansprüche zu beurteilen, als eine Er¬
ziehung zur Persönlichkeit, als Willenserzie¬
hung, gewartet zu werden. Es ist unbestreit¬
bar, daß durch die Übung darin, Rhythmen
durch Körperbewegungen spontan zu reali¬
sieren, eine Willensübung, eine Übung in der
Exaktheit, der Planmäßigkeit und Spontaneität
der Willensinnervntiouen erzielt wird. Aber
auch diese Übung ist eine reine formale, sie
gibt keine Gewähr für die Bestätigung des
Willens, vor allein für die Richtung des
Willens, die dieser bei der Betätigung um
Praktischen Gegenständen, bei der Beschäftigung
mit Praktischen Werten einschlagen wird. Die
Willensleistung erfährt durch Nhythmisierung
nur eine quantitative, keine qualitative Förde¬
rung. Deshalb ist es verkehrt, daß Dr. Wolf
Dohrn in dem einleitenden Aufsatze des Jahr¬
buches von Büchners „Arbeit und Rhythmus"
sich Beweise für die bildende Kraft der
rhythmischen Erziehung zu holen sucht.

Die Erziehung zur Persönlichkeit muß auch
eine einheitliche und ständige Richtung des
Willens auf gewisse inhaltliche Werte des
menschlichen Lebens zu erwirken streben; denn
das Wesen der Persönlichkeit besteht in einem
solchen einheitlichen Willenstonus. Die rhyth¬
mische Erziehung dagegen beeinflußt auf
Grund ihres rein formalen Charakters einzig
die Form der Willensäußerung, sie übt

[Ende Spaltensatz]
*) Vgl. Methode JagueS-Dalcroze, I. Teil,
»Rhythmische Gymnastik." Paris, Neuchatel,
Leipzig. S. 264 f., S. 268 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0407" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321490"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_1740" prev="#ID_1739"> erst verhältnismäßig spät entwickelt, gelangen<lb/>
zur Wiedergabe, ja sogar zur unsymmetrischen<lb/>
Wiedergabe schwieriger Rhythmen. Man hat<lb/>
mir gesagt, daß auch das absolute Gehör<lb/>
durch die rhythmische Schulung eine be¬<lb/>
merkenswerte Ausbildung erfahre.</p>
            <p xml:id="ID_1741"> Dennoch muß darauf hingewiesen werden,<lb/>
daß es bor allem die formalen Elemente der<lb/>
Musik sind, die hier ihre Schulung, man<lb/>
möchte beinahe sagen, einen gewissen Drill er¬<lb/>
halten. Es erscheint uns schwierig, die Dal-<lb/>
crozesche Methode an den Gehalt der Musik<lb/>
heranzuführen.</p>
            <p xml:id="ID_1742"> Ferner hat Dalcroze recht, wenn er be¬<lb/>
tont, daß durch die Übung in der Darstellung<lb/>
von Rhythmen durch Körperbewegungen das<lb/>
Individuum zur bewußten, willensmäßigen<lb/>
Herrschaft über seine Körperbewegungen ge¬<lb/>
lange, daß instinktive, unbewußte MuSkel-<lb/>
innervationen dadurch in den Dienst des be¬<lb/>
wußten persönlichen Willens gestellt werden.<lb/>
DaS wäre dann der Vorteil, den die Gym¬<lb/>
nastik als solche von der rhythmischen Gym¬<lb/>
nastik ziehen könnte. Aber diese bewußte,<lb/>
willenskräftige Herrschaft über deu Körper<lb/>
erzielt die Gymnastik überhaupt, ihre rhyth¬<lb/>
mische Schwester bringt ihr also nichts wesent¬<lb/>
lich Neues. Dagegen findet die rhythmische<lb/>
Gymnastik auf Grund ihres rein formalen<lb/>
Charakters nur schwer wieder den Anschluß<lb/>
an den anatomischen und hygienischen Gehalt<lb/>
der eigentlichen Gymnastik und gerät in Ge¬<lb/>
fahr, ein rhythmisches Exerzieren zu werden.</p>
            <p xml:id="ID_1743" next="#ID_1744"> Allerdings sucht Dalcroze der rhythmischen<lb/>
Gymnastik einen Gehalt zu geben, indem er<lb/>
die rhythmisch ausgeführte Körperbewegung zur<lb/>
Ausdrucksbewegung auszugestalten sucht, und<lb/>
zwar nicht nur in der Weise, daß aus ihr<lb/>
allein der Rhythmus spricht, daß sie rein<lb/>
plastische Darstellung des Rhythmus wäre,<lb/>
sondern er legt auch weiterreichende Gefühls-<lb/>
komplexe rein menschlichen Gehalts, wie Ent¬<lb/>
täuschung, Schmerz, Beschämung, Neugierde<lb/>
usw. der Körperbewegung zugrunde.*) Er<lb/>
will gewissermaßen rhythmische AuSdrucks-<lb/>
thpen schaffen. Eine Station auf dem Wege,<lb/>
den Dalcroze hier einschlägt, ist der rhyth-</p>
            <note xml:id="FID_45" place="foot"> *) Vgl. Methode JagueS-Dalcroze, I. Teil,<lb/>
»Rhythmische Gymnastik." Paris, Neuchatel,<lb/>
Leipzig.  S. 264 f., S. 268 ff.</note>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_1744" prev="#ID_1743"> misch ausdrucksvolle Tanz, das Endziel die<lb/>
Begründung eines neuartigen Theaters, auf<lb/>
dem die Bewegungen des Schauspielers bis<lb/>
ins kleinste rhythmische Ausdrucksbewegungen<lb/>
sind, die in dem rhythmisch erzogenen Zu¬<lb/>
schauer einen Widerhall wecken, der uns<lb/>
arhYthinischenMenschen noch unerhört erscheint.<lb/>
Auch dieser Gedankengang läßt sich schlecht<lb/>
Widerlegen, um so mehr, als es erst Sache<lb/>
der Zukunft sein wird, seine Richtigkeit zu be¬<lb/>
weisen. Hinweisen darf man aber auch hier<lb/>
darauf, daß die mitreißende Gewalt der Aus¬<lb/>
drucksbewegung nicht in ihrer rhythmischen Form<lb/>
liegt, sondern vor allem in ihrem menschlichen<lb/>
und persönlichen Gehalt und in der Art, wie<lb/>
er in der Bewegung zum Ausdruck kommt.<lb/>
Auch hier liefert die rhythmische Erziehung<lb/>
nur die Form.</p>
            <p xml:id="ID_1745"> Und ans diese durchaus formale Natur<lb/>
der rhythmischen Erziehung muß man auch<lb/>
wieder hinweisen, wenn eS sich darum handelt,<lb/>
ihre Ansprüche zu beurteilen, als eine Er¬<lb/>
ziehung zur Persönlichkeit, als Willenserzie¬<lb/>
hung, gewartet zu werden. Es ist unbestreit¬<lb/>
bar, daß durch die Übung darin, Rhythmen<lb/>
durch Körperbewegungen spontan zu reali¬<lb/>
sieren, eine Willensübung, eine Übung in der<lb/>
Exaktheit, der Planmäßigkeit und Spontaneität<lb/>
der Willensinnervntiouen erzielt wird. Aber<lb/>
auch diese Übung ist eine reine formale, sie<lb/>
gibt keine Gewähr für die Bestätigung des<lb/>
Willens, vor allein für die Richtung des<lb/>
Willens, die dieser bei der Betätigung um<lb/>
Praktischen Gegenständen, bei der Beschäftigung<lb/>
mit Praktischen Werten einschlagen wird. Die<lb/>
Willensleistung erfährt durch Nhythmisierung<lb/>
nur eine quantitative, keine qualitative Förde¬<lb/>
rung. Deshalb ist es verkehrt, daß Dr. Wolf<lb/>
Dohrn in dem einleitenden Aufsatze des Jahr¬<lb/>
buches von Büchners &#x201E;Arbeit und Rhythmus"<lb/>
sich Beweise für die bildende Kraft der<lb/>
rhythmischen Erziehung zu holen sucht.</p>
            <p xml:id="ID_1746" next="#ID_1747"> Die Erziehung zur Persönlichkeit muß auch<lb/>
eine einheitliche und ständige Richtung des<lb/>
Willens auf gewisse inhaltliche Werte des<lb/>
menschlichen Lebens zu erwirken streben; denn<lb/>
das Wesen der Persönlichkeit besteht in einem<lb/>
solchen einheitlichen Willenstonus. Die rhyth¬<lb/>
mische Erziehung dagegen beeinflußt auf<lb/>
Grund ihres rein formalen Charakters einzig<lb/>
die Form der Willensäußerung,  sie übt</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0407] Maßgebliches und Unmaßgebliches erst verhältnismäßig spät entwickelt, gelangen zur Wiedergabe, ja sogar zur unsymmetrischen Wiedergabe schwieriger Rhythmen. Man hat mir gesagt, daß auch das absolute Gehör durch die rhythmische Schulung eine be¬ merkenswerte Ausbildung erfahre. Dennoch muß darauf hingewiesen werden, daß es bor allem die formalen Elemente der Musik sind, die hier ihre Schulung, man möchte beinahe sagen, einen gewissen Drill er¬ halten. Es erscheint uns schwierig, die Dal- crozesche Methode an den Gehalt der Musik heranzuführen. Ferner hat Dalcroze recht, wenn er be¬ tont, daß durch die Übung in der Darstellung von Rhythmen durch Körperbewegungen das Individuum zur bewußten, willensmäßigen Herrschaft über seine Körperbewegungen ge¬ lange, daß instinktive, unbewußte MuSkel- innervationen dadurch in den Dienst des be¬ wußten persönlichen Willens gestellt werden. DaS wäre dann der Vorteil, den die Gym¬ nastik als solche von der rhythmischen Gym¬ nastik ziehen könnte. Aber diese bewußte, willenskräftige Herrschaft über deu Körper erzielt die Gymnastik überhaupt, ihre rhyth¬ mische Schwester bringt ihr also nichts wesent¬ lich Neues. Dagegen findet die rhythmische Gymnastik auf Grund ihres rein formalen Charakters nur schwer wieder den Anschluß an den anatomischen und hygienischen Gehalt der eigentlichen Gymnastik und gerät in Ge¬ fahr, ein rhythmisches Exerzieren zu werden. Allerdings sucht Dalcroze der rhythmischen Gymnastik einen Gehalt zu geben, indem er die rhythmisch ausgeführte Körperbewegung zur Ausdrucksbewegung auszugestalten sucht, und zwar nicht nur in der Weise, daß aus ihr allein der Rhythmus spricht, daß sie rein plastische Darstellung des Rhythmus wäre, sondern er legt auch weiterreichende Gefühls- komplexe rein menschlichen Gehalts, wie Ent¬ täuschung, Schmerz, Beschämung, Neugierde usw. der Körperbewegung zugrunde.*) Er will gewissermaßen rhythmische AuSdrucks- thpen schaffen. Eine Station auf dem Wege, den Dalcroze hier einschlägt, ist der rhyth- misch ausdrucksvolle Tanz, das Endziel die Begründung eines neuartigen Theaters, auf dem die Bewegungen des Schauspielers bis ins kleinste rhythmische Ausdrucksbewegungen sind, die in dem rhythmisch erzogenen Zu¬ schauer einen Widerhall wecken, der uns arhYthinischenMenschen noch unerhört erscheint. Auch dieser Gedankengang läßt sich schlecht Widerlegen, um so mehr, als es erst Sache der Zukunft sein wird, seine Richtigkeit zu be¬ weisen. Hinweisen darf man aber auch hier darauf, daß die mitreißende Gewalt der Aus¬ drucksbewegung nicht in ihrer rhythmischen Form liegt, sondern vor allem in ihrem menschlichen und persönlichen Gehalt und in der Art, wie er in der Bewegung zum Ausdruck kommt. Auch hier liefert die rhythmische Erziehung nur die Form. Und ans diese durchaus formale Natur der rhythmischen Erziehung muß man auch wieder hinweisen, wenn eS sich darum handelt, ihre Ansprüche zu beurteilen, als eine Er¬ ziehung zur Persönlichkeit, als Willenserzie¬ hung, gewartet zu werden. Es ist unbestreit¬ bar, daß durch die Übung darin, Rhythmen durch Körperbewegungen spontan zu reali¬ sieren, eine Willensübung, eine Übung in der Exaktheit, der Planmäßigkeit und Spontaneität der Willensinnervntiouen erzielt wird. Aber auch diese Übung ist eine reine formale, sie gibt keine Gewähr für die Bestätigung des Willens, vor allein für die Richtung des Willens, die dieser bei der Betätigung um Praktischen Gegenständen, bei der Beschäftigung mit Praktischen Werten einschlagen wird. Die Willensleistung erfährt durch Nhythmisierung nur eine quantitative, keine qualitative Förde¬ rung. Deshalb ist es verkehrt, daß Dr. Wolf Dohrn in dem einleitenden Aufsatze des Jahr¬ buches von Büchners „Arbeit und Rhythmus" sich Beweise für die bildende Kraft der rhythmischen Erziehung zu holen sucht. Die Erziehung zur Persönlichkeit muß auch eine einheitliche und ständige Richtung des Willens auf gewisse inhaltliche Werte des menschlichen Lebens zu erwirken streben; denn das Wesen der Persönlichkeit besteht in einem solchen einheitlichen Willenstonus. Die rhyth¬ mische Erziehung dagegen beeinflußt auf Grund ihres rein formalen Charakters einzig die Form der Willensäußerung, sie übt *) Vgl. Methode JagueS-Dalcroze, I. Teil, »Rhythmische Gymnastik." Paris, Neuchatel, Leipzig. S. 264 f., S. 268 ff.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/407
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/407>, abgerufen am 26.06.2024.