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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Philosophie [Spaltenumbruch]

eigentümlich, daß es nicht eine naturgegebene
Bahn nur einfach weiterverfolgt, sondern daß
es seine Hauptrichtung erst zu suchen, eine
Grundlage sich erst zu sichern hat: es ist ein
Kämpfen um sich selbst. Das Verhältnis zur
Natur, das den Menschen zunächst ganz ein¬
nimmt, genügt ihm nicht für die Dauer, das
Neue aber, zu dem es ihn drängt, ist nicht
ein bloßes Mehr, sondern etwas wesentlich
Anderes, das sich nur durch ein Abbrechen
und Unikehren erreichen läßt. Verlaufe zu¬
nächst unser Leben in lauter einzelnen Be¬
rührungen mit der Umgebung, so erfolgt
nunmehr eine Wendung zu einem Erfassen
der Welt von innen her und damit zugleich
ein Erleben im ganzen; das eben ist eS, was
wir Geistesleben nennen. Dieses Geistesleben
kann aber unmöglich eine Eigenschaft des
bloßen Menschen sein, d.h. insofern er in den
Naturzusammenhnng einbezogen ist, es muß
diesem gegenüber eine Selbständigkeit besitzen.
So wirkt denn das Geistesleben als selbst-
ständige und überlegene Macht in uns, und
indem es doch auch zugleich zu unserem eigenen
Leben, zu unserem eigentlichen Wesen werden
kann, ist es dasjenige, was^ vornehm¬
lich über den Charakter unseres Lebens ent¬
scheidet. Geistesleben ist eben Wirklichkeitbilden
und bannt allererst wahrhaftiges Leben. Denn
nur indem das Leben sich in sich selbst ver¬
tieft und von einem tragenden Grunde her
alle Mannigfaltigkeit der Betätigung umspannt,
kann es auf sich selber stehen, im eigenen
Bereich ein Sein entwickeln und sich so seine
Welt erzeugen. In diese Bewegung aber
mündet alle Verzweigung der Tätigkeit im
Guten, Wahren und Schönen ein, überall
gilt es, über die Leere bloß-subjektiver Er¬
regung und auch über die Äußerlichkeit aller
sich ablösenden Leistung hinauszukommen und
einen Punkt zu erreichen, wo das Leben zur
Selbstentfaltung wird und damit einen Inhalt
erzeugt. Einer solchen Selbstbetätigung wird
eine Freudigkeit innewohnen, die alles ge¬
wöhnliche Glück weit übersteigt. So fehlt es
an einem allumfassenden Ziel unserem Leben
wahrlich nicht. -- Mes einige Grundgedanken
aus dem erwähnten glänzend geschriebenen
Buche, demi Eucken vor einigen Monaten eine
Schrift hat folgen lassen: "Können wir noch
Christen sein?" Veit u. Co., Leipzig 1911.

[Ende Spaltensatz]

In seinem feinsinnigen Aussatze über
Rudolf Eucken (im August-Heft des Jahres
1908 dieser Zeitschrift) konnte Prof. P, Mein¬
hold schon davon sprechen, daß sich an den
Namen R. Eucken eine ganze, große Literatur
anschließt. Diese hat sich inzwischen nicht
unbedeutend vermehrt. Kurt Kesseler, dem
wir bereits eine kleine Schrift über "Die
Lösung der Widersprüche des Daseins durch
Kant und Eucken in ihrer religiösen Be¬
deutung" (1909) verdanken, hat seine Eucken-
Studien zu eineni wertvollen Buche zusammen¬
gefaßt, das er "Rudolf Euckcns Werk"
betitelt (Kreuschmer, Bunzlau, 1911, 131 S.,
2,50 M.) und in den: mit Recht besonders
Euckens geschichtliche und geschichtsphilo-
sophische Einsichten und seine kritischen Lei¬
stungen in den Vordergrund gerückt sind, da
sich ja erst auf dem Grunde dieser Einsichten
Euckens eigene tiefgehende systematische Über¬
zeugung erheben kann. Kann Kesselers Buch
als erste Einführung in das Denken und
Schaffen des Jenenser Philosophen gute
Dienste leisten, so wird man doch vor allem
das Bedürfnis empfinden, wenigstens eine der
Euckenschen Schriften selbst im ganzen zu
lesen. Dazu dürfte sich vor allem eignen das
jetzt bereits in dritter Auslage vorliegende
Werk: "Der Sinn und Wert des Lebens"
wie einen: Porträt. Quelle u. Meyer. Leipzig.
1911. 190 S. 3,60 M., dem das für eine Philo¬
sophische Arbeit sehr seltene Schicksal beschicken
ist, das erste Zehntausend des Absatzes in
wenigen Jahren erreicht zu haben. Es spricht
diese Tatsache dafür, daß heute doch in der
Philosophie wieder der erfrischende Hauch eines
"dem Idealismus weht, daß wir über den
bloßen Naturalismus und Materialismus
hinaus sind. Es ist nicht Euckens Art, seine
Darlegungen mit dem EntWurfe eines Bildes
der Welt um uns zu beginnen, um von da
"us Aufklärung über das Leben zu suchen,
sondern er sucht das Leben bei sich selbst zu
fassen und aus sich selbst zu verstehen, er
verfolgt es in seiner eigenen Bewegung und
Zwange so schließlich zu einem Gesamtbilde,
das zugleich eine Aufklärung über den Sinn
und Wert des Ganzen bringt. Den Inhalt
°°s Lebens gestaltet zunächst die Tatsache


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Philosophie [Spaltenumbruch]

eigentümlich, daß es nicht eine naturgegebene
Bahn nur einfach weiterverfolgt, sondern daß
es seine Hauptrichtung erst zu suchen, eine
Grundlage sich erst zu sichern hat: es ist ein
Kämpfen um sich selbst. Das Verhältnis zur
Natur, das den Menschen zunächst ganz ein¬
nimmt, genügt ihm nicht für die Dauer, das
Neue aber, zu dem es ihn drängt, ist nicht
ein bloßes Mehr, sondern etwas wesentlich
Anderes, das sich nur durch ein Abbrechen
und Unikehren erreichen läßt. Verlaufe zu¬
nächst unser Leben in lauter einzelnen Be¬
rührungen mit der Umgebung, so erfolgt
nunmehr eine Wendung zu einem Erfassen
der Welt von innen her und damit zugleich
ein Erleben im ganzen; das eben ist eS, was
wir Geistesleben nennen. Dieses Geistesleben
kann aber unmöglich eine Eigenschaft des
bloßen Menschen sein, d.h. insofern er in den
Naturzusammenhnng einbezogen ist, es muß
diesem gegenüber eine Selbständigkeit besitzen.
So wirkt denn das Geistesleben als selbst-
ständige und überlegene Macht in uns, und
indem es doch auch zugleich zu unserem eigenen
Leben, zu unserem eigentlichen Wesen werden
kann, ist es dasjenige, was^ vornehm¬
lich über den Charakter unseres Lebens ent¬
scheidet. Geistesleben ist eben Wirklichkeitbilden
und bannt allererst wahrhaftiges Leben. Denn
nur indem das Leben sich in sich selbst ver¬
tieft und von einem tragenden Grunde her
alle Mannigfaltigkeit der Betätigung umspannt,
kann es auf sich selber stehen, im eigenen
Bereich ein Sein entwickeln und sich so seine
Welt erzeugen. In diese Bewegung aber
mündet alle Verzweigung der Tätigkeit im
Guten, Wahren und Schönen ein, überall
gilt es, über die Leere bloß-subjektiver Er¬
regung und auch über die Äußerlichkeit aller
sich ablösenden Leistung hinauszukommen und
einen Punkt zu erreichen, wo das Leben zur
Selbstentfaltung wird und damit einen Inhalt
erzeugt. Einer solchen Selbstbetätigung wird
eine Freudigkeit innewohnen, die alles ge¬
wöhnliche Glück weit übersteigt. So fehlt es
an einem allumfassenden Ziel unserem Leben
wahrlich nicht. — Mes einige Grundgedanken
aus dem erwähnten glänzend geschriebenen
Buche, demi Eucken vor einigen Monaten eine
Schrift hat folgen lassen: „Können wir noch
Christen sein?" Veit u. Co., Leipzig 1911.

[Ende Spaltensatz]

In seinem feinsinnigen Aussatze über
Rudolf Eucken (im August-Heft des Jahres
1908 dieser Zeitschrift) konnte Prof. P, Mein¬
hold schon davon sprechen, daß sich an den
Namen R. Eucken eine ganze, große Literatur
anschließt. Diese hat sich inzwischen nicht
unbedeutend vermehrt. Kurt Kesseler, dem
wir bereits eine kleine Schrift über „Die
Lösung der Widersprüche des Daseins durch
Kant und Eucken in ihrer religiösen Be¬
deutung" (1909) verdanken, hat seine Eucken-
Studien zu eineni wertvollen Buche zusammen¬
gefaßt, das er „Rudolf Euckcns Werk"
betitelt (Kreuschmer, Bunzlau, 1911, 131 S.,
2,50 M.) und in den: mit Recht besonders
Euckens geschichtliche und geschichtsphilo-
sophische Einsichten und seine kritischen Lei¬
stungen in den Vordergrund gerückt sind, da
sich ja erst auf dem Grunde dieser Einsichten
Euckens eigene tiefgehende systematische Über¬
zeugung erheben kann. Kann Kesselers Buch
als erste Einführung in das Denken und
Schaffen des Jenenser Philosophen gute
Dienste leisten, so wird man doch vor allem
das Bedürfnis empfinden, wenigstens eine der
Euckenschen Schriften selbst im ganzen zu
lesen. Dazu dürfte sich vor allem eignen das
jetzt bereits in dritter Auslage vorliegende
Werk: „Der Sinn und Wert des Lebens"
wie einen: Porträt. Quelle u. Meyer. Leipzig.
1911. 190 S. 3,60 M., dem das für eine Philo¬
sophische Arbeit sehr seltene Schicksal beschicken
ist, das erste Zehntausend des Absatzes in
wenigen Jahren erreicht zu haben. Es spricht
diese Tatsache dafür, daß heute doch in der
Philosophie wieder der erfrischende Hauch eines
«dem Idealismus weht, daß wir über den
bloßen Naturalismus und Materialismus
hinaus sind. Es ist nicht Euckens Art, seine
Darlegungen mit dem EntWurfe eines Bildes
der Welt um uns zu beginnen, um von da
"us Aufklärung über das Leben zu suchen,
sondern er sucht das Leben bei sich selbst zu
fassen und aus sich selbst zu verstehen, er
verfolgt es in seiner eigenen Bewegung und
Zwange so schließlich zu einem Gesamtbilde,
das zugleich eine Aufklärung über den Sinn
und Wert des Ganzen bringt. Den Inhalt
°°s Lebens gestaltet zunächst die Tatsache


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[0405] Maßgebliches und Unmaßgebliches Philosophie eigentümlich, daß es nicht eine naturgegebene Bahn nur einfach weiterverfolgt, sondern daß es seine Hauptrichtung erst zu suchen, eine Grundlage sich erst zu sichern hat: es ist ein Kämpfen um sich selbst. Das Verhältnis zur Natur, das den Menschen zunächst ganz ein¬ nimmt, genügt ihm nicht für die Dauer, das Neue aber, zu dem es ihn drängt, ist nicht ein bloßes Mehr, sondern etwas wesentlich Anderes, das sich nur durch ein Abbrechen und Unikehren erreichen läßt. Verlaufe zu¬ nächst unser Leben in lauter einzelnen Be¬ rührungen mit der Umgebung, so erfolgt nunmehr eine Wendung zu einem Erfassen der Welt von innen her und damit zugleich ein Erleben im ganzen; das eben ist eS, was wir Geistesleben nennen. Dieses Geistesleben kann aber unmöglich eine Eigenschaft des bloßen Menschen sein, d.h. insofern er in den Naturzusammenhnng einbezogen ist, es muß diesem gegenüber eine Selbständigkeit besitzen. So wirkt denn das Geistesleben als selbst- ständige und überlegene Macht in uns, und indem es doch auch zugleich zu unserem eigenen Leben, zu unserem eigentlichen Wesen werden kann, ist es dasjenige, was^ vornehm¬ lich über den Charakter unseres Lebens ent¬ scheidet. Geistesleben ist eben Wirklichkeitbilden und bannt allererst wahrhaftiges Leben. Denn nur indem das Leben sich in sich selbst ver¬ tieft und von einem tragenden Grunde her alle Mannigfaltigkeit der Betätigung umspannt, kann es auf sich selber stehen, im eigenen Bereich ein Sein entwickeln und sich so seine Welt erzeugen. In diese Bewegung aber mündet alle Verzweigung der Tätigkeit im Guten, Wahren und Schönen ein, überall gilt es, über die Leere bloß-subjektiver Er¬ regung und auch über die Äußerlichkeit aller sich ablösenden Leistung hinauszukommen und einen Punkt zu erreichen, wo das Leben zur Selbstentfaltung wird und damit einen Inhalt erzeugt. Einer solchen Selbstbetätigung wird eine Freudigkeit innewohnen, die alles ge¬ wöhnliche Glück weit übersteigt. So fehlt es an einem allumfassenden Ziel unserem Leben wahrlich nicht. — Mes einige Grundgedanken aus dem erwähnten glänzend geschriebenen Buche, demi Eucken vor einigen Monaten eine Schrift hat folgen lassen: „Können wir noch Christen sein?" Veit u. Co., Leipzig 1911. In seinem feinsinnigen Aussatze über Rudolf Eucken (im August-Heft des Jahres 1908 dieser Zeitschrift) konnte Prof. P, Mein¬ hold schon davon sprechen, daß sich an den Namen R. Eucken eine ganze, große Literatur anschließt. Diese hat sich inzwischen nicht unbedeutend vermehrt. Kurt Kesseler, dem wir bereits eine kleine Schrift über „Die Lösung der Widersprüche des Daseins durch Kant und Eucken in ihrer religiösen Be¬ deutung" (1909) verdanken, hat seine Eucken- Studien zu eineni wertvollen Buche zusammen¬ gefaßt, das er „Rudolf Euckcns Werk" betitelt (Kreuschmer, Bunzlau, 1911, 131 S., 2,50 M.) und in den: mit Recht besonders Euckens geschichtliche und geschichtsphilo- sophische Einsichten und seine kritischen Lei¬ stungen in den Vordergrund gerückt sind, da sich ja erst auf dem Grunde dieser Einsichten Euckens eigene tiefgehende systematische Über¬ zeugung erheben kann. Kann Kesselers Buch als erste Einführung in das Denken und Schaffen des Jenenser Philosophen gute Dienste leisten, so wird man doch vor allem das Bedürfnis empfinden, wenigstens eine der Euckenschen Schriften selbst im ganzen zu lesen. Dazu dürfte sich vor allem eignen das jetzt bereits in dritter Auslage vorliegende Werk: „Der Sinn und Wert des Lebens" wie einen: Porträt. Quelle u. Meyer. Leipzig. 1911. 190 S. 3,60 M., dem das für eine Philo¬ sophische Arbeit sehr seltene Schicksal beschicken ist, das erste Zehntausend des Absatzes in wenigen Jahren erreicht zu haben. Es spricht diese Tatsache dafür, daß heute doch in der Philosophie wieder der erfrischende Hauch eines «dem Idealismus weht, daß wir über den bloßen Naturalismus und Materialismus hinaus sind. Es ist nicht Euckens Art, seine Darlegungen mit dem EntWurfe eines Bildes der Welt um uns zu beginnen, um von da "us Aufklärung über das Leben zu suchen, sondern er sucht das Leben bei sich selbst zu fassen und aus sich selbst zu verstehen, er verfolgt es in seiner eigenen Bewegung und Zwange so schließlich zu einem Gesamtbilde, das zugleich eine Aufklärung über den Sinn und Wert des Ganzen bringt. Den Inhalt °°s Lebens gestaltet zunächst die Tatsache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/405>, abgerufen am 26.06.2024.