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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

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Aus dem Reiche der modernen Musi?

Reger den Boden für die Aufnahme ihrer Werke ganz anders vorbereitet
gefunden als die beiden Bahnbrecher Liszt und Wagner. Aber mit der öffent¬
lichen Musikpflege durch Künstler- und Orchesterkonzerte ist es schließlich allein
nicht getan, denn nur durch eigenes Studium, durch Selbstbetätigung, nicht
bloß durch Hören wird musikalische Bildung im eigentlichen Sinne erzielt
werden, eine Bildung, die, wenn sie wirklich tief ist, nicht hoch genug angeschlagen
werden kann. Wie steht es also mit der noch um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts so regen und sinnigen Pflege der Hausmusik, ist sie dementsprechend
auch intensiver geworden? Ohne zunächst eine glatte Antwort mit ja und nein
erwarten zu wollen, wird man zugeben müssen, daß sie nach einer Seite hin,
nämlich auf dem Gebiete des Trio- und Quartettspiels, eher zurückgegangen ist:
Gestalten, wie sie der sympathische Hugo Salus in seinem Gedicht "Kammermusik"
oder Karl Sohle in seinen liebenswürdigen "Musikantengeschichten" (Verlag von
L.Staackmann in Leipzig) schildert, wird man nur noch vereinzelt und mehr in kleinen
Städten antreffen. Dafür hat das Klavier dank seiner Vervollkommnung und Be¬
quemlichkeit eine weltbeherrschende Stellung gewonnen. Als das Hausorchester be¬
zeichnet es Oscar Bie in seinem Buche "Das Klavier und seine Meister", und um¬
schreibt dessen Aufgabe folgendermaßen in schöner Weise: "Ist es kein gut Ding, das
ganze Material der Töne vor seinen zehn Fingern zu haben? Hineinzugreisen, wirklich
hineinzugreifen? Und alle Nuancen aller Musik, das Singen, Springen, Flüstern,
Schreien, das Weinen und das Lachen unter den Nerven zu fühlen? Alles
freilich in den Ton des Klaviers gestimmt, alles in den epischen Ton der
modernen Kithara, der die Lyrik der Violine, die Dramatik des Orchesters in
seiner Art in sich faßt. In solcher Umsassendheit ist das Klavier drinnen im
dämmerigen Zimmer ein seltsamer und lieber Erzähler, ein Rhapsode für den
intimen Geist, der sich in ihm ganz improvisatorisch ausgeben kann, und ein
Archiv für den Historiker, dem es das ganze Leben der modernen Musik in
seiner Allerweltssprache von einem tiefen durchschnittlichen Gesichtspunkt aus
wieder aufrollt. So liebe ich das Klavier erst ganz, so ist es treu, ehrlich, echt
und allein." So von Natur zu einem Kulturfaktor par excellence berufen,
wird es durch Unbildung und Ungeschmack vielfach zum Marterinstrument herab¬
gewürdigt. Denn neben den herrlichen Blüten, unter dem goldenen Lianen¬
gerank echter Kunst wuchert das Sumpfgewächs Operette, in dessen Züchtung
Berlin und Wien um den Preis der Niedrigkeit ringen. Ist es nicht charakteristisch,
wenn namhafte Verleger darüber zu klagen beginnen, daß z. B. die ernste
Liederkomposition das unrentabelste Geschäft sei, da sie gegen die Schundmusik
der Operetten- und Varieteschlager nicht aufkomme? Es "lernt" eben heute
alles Klavier spielen, und das Klavier ist bald so gemein geworden wie die
Nähmaschine. Darum wird wohl der Kampf gegen den musikalischen Schund
noch aussichtsloser bleiben als gegen den literarischen, da das "Sichhinaufspielen"
auf ganz andere Schwierigkeiten stößt als das "Sichhinauflesen". Auch dem
besten Wollen wird mangelhaft entwickelte Technik unüberwindliche Hindernisse


Aus dem Reiche der modernen Musi?

Reger den Boden für die Aufnahme ihrer Werke ganz anders vorbereitet
gefunden als die beiden Bahnbrecher Liszt und Wagner. Aber mit der öffent¬
lichen Musikpflege durch Künstler- und Orchesterkonzerte ist es schließlich allein
nicht getan, denn nur durch eigenes Studium, durch Selbstbetätigung, nicht
bloß durch Hören wird musikalische Bildung im eigentlichen Sinne erzielt
werden, eine Bildung, die, wenn sie wirklich tief ist, nicht hoch genug angeschlagen
werden kann. Wie steht es also mit der noch um die Mitte des vorigen Jahr¬
hunderts so regen und sinnigen Pflege der Hausmusik, ist sie dementsprechend
auch intensiver geworden? Ohne zunächst eine glatte Antwort mit ja und nein
erwarten zu wollen, wird man zugeben müssen, daß sie nach einer Seite hin,
nämlich auf dem Gebiete des Trio- und Quartettspiels, eher zurückgegangen ist:
Gestalten, wie sie der sympathische Hugo Salus in seinem Gedicht „Kammermusik"
oder Karl Sohle in seinen liebenswürdigen „Musikantengeschichten" (Verlag von
L.Staackmann in Leipzig) schildert, wird man nur noch vereinzelt und mehr in kleinen
Städten antreffen. Dafür hat das Klavier dank seiner Vervollkommnung und Be¬
quemlichkeit eine weltbeherrschende Stellung gewonnen. Als das Hausorchester be¬
zeichnet es Oscar Bie in seinem Buche „Das Klavier und seine Meister", und um¬
schreibt dessen Aufgabe folgendermaßen in schöner Weise: „Ist es kein gut Ding, das
ganze Material der Töne vor seinen zehn Fingern zu haben? Hineinzugreisen, wirklich
hineinzugreifen? Und alle Nuancen aller Musik, das Singen, Springen, Flüstern,
Schreien, das Weinen und das Lachen unter den Nerven zu fühlen? Alles
freilich in den Ton des Klaviers gestimmt, alles in den epischen Ton der
modernen Kithara, der die Lyrik der Violine, die Dramatik des Orchesters in
seiner Art in sich faßt. In solcher Umsassendheit ist das Klavier drinnen im
dämmerigen Zimmer ein seltsamer und lieber Erzähler, ein Rhapsode für den
intimen Geist, der sich in ihm ganz improvisatorisch ausgeben kann, und ein
Archiv für den Historiker, dem es das ganze Leben der modernen Musik in
seiner Allerweltssprache von einem tiefen durchschnittlichen Gesichtspunkt aus
wieder aufrollt. So liebe ich das Klavier erst ganz, so ist es treu, ehrlich, echt
und allein." So von Natur zu einem Kulturfaktor par excellence berufen,
wird es durch Unbildung und Ungeschmack vielfach zum Marterinstrument herab¬
gewürdigt. Denn neben den herrlichen Blüten, unter dem goldenen Lianen¬
gerank echter Kunst wuchert das Sumpfgewächs Operette, in dessen Züchtung
Berlin und Wien um den Preis der Niedrigkeit ringen. Ist es nicht charakteristisch,
wenn namhafte Verleger darüber zu klagen beginnen, daß z. B. die ernste
Liederkomposition das unrentabelste Geschäft sei, da sie gegen die Schundmusik
der Operetten- und Varieteschlager nicht aufkomme? Es „lernt" eben heute
alles Klavier spielen, und das Klavier ist bald so gemein geworden wie die
Nähmaschine. Darum wird wohl der Kampf gegen den musikalischen Schund
noch aussichtsloser bleiben als gegen den literarischen, da das „Sichhinaufspielen"
auf ganz andere Schwierigkeiten stößt als das „Sichhinauflesen". Auch dem
besten Wollen wird mangelhaft entwickelte Technik unüberwindliche Hindernisse


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/328>, abgerufen am 22.07.2024.