Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] von einigen Pfennigen gestohlen hat, wenn Eine stark oppositionelle Wochenschrift be¬ Wenn in Bonn eine Anzahl Korpsstudenteu Die meisten Richter taugen nichts, weil engen Verhältnissen zugebracht haben, ferner Als besonders wichtig, und zwar mit Recht, Als ein Grundpfeiler der Staatsordnung Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] von einigen Pfennigen gestohlen hat, wenn Eine stark oppositionelle Wochenschrift be¬ Wenn in Bonn eine Anzahl Korpsstudenteu Die meisten Richter taugen nichts, weil engen Verhältnissen zugebracht haben, ferner Als besonders wichtig, und zwar mit Recht, Als ein Grundpfeiler der Staatsordnung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321390"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_1282" prev="#ID_1281"> von einigen Pfennigen gestohlen hat, wenn<lb/> aber bei der Reform der Strafprozeßordnung<lb/> borgeschlagen wird, der Staatsanwaltschaft<lb/> zu gestatten, in gewissen besonders leichten<lb/> Fällen bon einer Strafverfolgung Abstand<lb/> zu nehmen, so bekämpft man es, weil es zur<lb/> Willkür führe.</p> <p xml:id="ID_1283"> Eine stark oppositionelle Wochenschrift be¬<lb/> richtet unter verschiedenen ironischen Rand¬<lb/> bemerkungen über einen Zivilprozeß, der da¬<lb/> durch jahrelang verschleppt worden ist, daß<lb/> eine Partei immer wieder neue Beweisanträge<lb/> gestellt hat. Die Zeitungen tadeln es nach<lb/> gewissen Sensationsprozessen, daß unsere<lb/> Strafprozeßordnung es einen: gewandten<lb/> Adbvkaten ermögliche, das Gericht zur Schau¬<lb/> bühne zu machen und wochenlang über Dinge<lb/> verhandeln zu lassen, die mit dein eigentlichen<lb/> Prozeßstoff wenig oder gar nichts zu tun<lb/> haben. Wenn aber die Regierung bei einer<lb/> Reform der Gesetzgebung dafür eintritt, dem<lb/> Gericht ein gewisses freies Ermessen bei der<lb/> Bestimmung des Umfanges der Beweisauf¬<lb/> nahme einzuräumen, so sind es dieselben<lb/> Politiker, die verkünden, daß damit das<lb/> sicherste Bollwerk des — natürlich stets un-<lb/> schuldigen — Angeklagten gegen richterliche<lb/> Willkür niedergerissen werde.</p> <p xml:id="ID_1284"> Wenn in Bonn eine Anzahl Korpsstudenteu<lb/> auf einer Kleinbahn Unfug treiben und schlie߬<lb/> lich angeklagt werden, weil einige der Teilneh¬<lb/> mer den Eisenbahntransport gefährdet hätten,<lb/> aber sämtlich freigesprochen werden mit der<lb/> ausdrücklichen Begründung, daß sich nicht habe<lb/> feststellen küssen, welche bon den Angeklagten<lb/> gerade die Täter gewesen seien, so ist das<lb/> natürlich ein krasses Beispiel von Klassenjustiz,<lb/> wenn aber in einen? großen Strafprozesse<lb/> wegen Landfriedenbruches gegen sozialdemo¬<lb/> kratische Arbeiter dasselbe geschieht, dann ist<lb/> das nicht etwa Gerechtigkeit, sondern eine<lb/> Blamage für die Staatsanwaltschaft und ein<lb/> Fall, der wieder einmal ein grelles Schlag¬<lb/> licht auf unseren Strafprozeß wirft, der nach<lb/> einer Reform geradezu schreit.</p> <p xml:id="ID_1285" next="#ID_1286"> Die meisten Richter taugen nichts, weil<lb/> sie zu wenig vom Praktischen Leben verstehen<lb/> und weltfremd sind. Ein besonderes Palla¬<lb/> dium der Volksfreiheit aber bildet das Schwur¬<lb/> gericht, in dem recht oft Leute sitzen, die ihr<lb/> ganzes Leben in einer kleinen Stadt unter</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_1286" prev="#ID_1285"> engen Verhältnissen zugebracht haben, ferner<lb/> Oberlehrer, Professoren, verabschiedete Offi¬<lb/> ziere usw, und über Dinge entscheiden, zu<lb/> deren Verständnis ein recht erhebliches Maß<lb/> bon Kenntnissen des kaufmännischen und in¬<lb/> dustriellen Lebens und der modernen Ver¬<lb/> hältnisse nötig ist. Man rühmt sich, daß man<lb/> den „kleinen Befähigungsnachweis" geschaffen<lb/> habe und man kämpft für den „großen",<lb/> demzufolge niemand auch nur einen Stiefel<lb/> befohlen darf, wenn er es nicht vorher ord¬<lb/> nungsmäßig gelernt und seine Kenntnisse vor<lb/> einer Prüfungskommission dargelegt hat. Nur<lb/> zu dem Amte eines Geschworenen, der unter<lb/> Umständen berufen ist, Menschen zum Tode<lb/> zu verurteilen, bedarf es keines Studiums,<lb/> keines Examens und keines Befähigungsnach¬<lb/> weises. Um vou den rein juristischen Kennt¬<lb/> nissen ganz zu schweigen: unsere Strafrichter<lb/> langen ja deswegen so wenig, weil sie nur<lb/> Juristen sind und von moderner Pshchologie<lb/> keine Ahnung haben und daher nicht imstande<lb/> sind, Zeugenaussagen richtig zu würdigen.<lb/> Die Geschworenen können eS auch ohne solche<lb/> Vorbildung — allerdings nur, wenn sie den<lb/> Angeklagten freisprechen; wenn sie einen Un¬<lb/> schuldigen verurteilen und dieser, nachdem<lb/> das arme Opfer jahrelang n» Zuchthause ge¬<lb/> sessen hat, im Wiederaufnahmeverfahren frei¬<lb/> gesprochen wird, dann sind an diesem Fehl¬<lb/> spruche natürlich nicht die Geschworenen schuld,<lb/> sondern der Borsitzende, der durch seine vor¬<lb/> eingenommene Verhandlungsleitung die Ge¬<lb/> schworenen verführt hat. Welch blutiger Hohn<lb/> auf das ganze Schwurgericht in dieser Be¬<lb/> hauptung liegt, merkt anscheinend niemand.</p> <p xml:id="ID_1287"> Als besonders wichtig, und zwar mit Recht,<lb/> erachtet man, daß die Behörden des modernen<lb/> Staates an feste gesetzliche Regeln gebunden<lb/> sind und den Staatsbürger nicht nach will¬<lb/> kürlichem Ermessen behandeln dürfen. Als<lb/> jedoch das preußische Oberverwaltungsgericht<lb/> sich in einer neueren Entscheidung auf eine<lb/> noch jetzt gültige Verordnung vom Jahre 1677<lb/> stützte, fragte eine sehr weit rechts stehende<lb/> Zeitung, ob denn diese Herren kein Gefühl<lb/> dafür hätten, wie lächerlich sie sich durch eine<lb/> solche Begründung machten.</p> <p xml:id="ID_1288" next="#ID_1289"> Als ein Grundpfeiler der Staatsordnung<lb/> wird die Unabhängigkeit des Richterstandes<lb/> geschätzt, aber, wohlverstanden, nur die Un-</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0307]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
von einigen Pfennigen gestohlen hat, wenn
aber bei der Reform der Strafprozeßordnung
borgeschlagen wird, der Staatsanwaltschaft
zu gestatten, in gewissen besonders leichten
Fällen bon einer Strafverfolgung Abstand
zu nehmen, so bekämpft man es, weil es zur
Willkür führe.
Eine stark oppositionelle Wochenschrift be¬
richtet unter verschiedenen ironischen Rand¬
bemerkungen über einen Zivilprozeß, der da¬
durch jahrelang verschleppt worden ist, daß
eine Partei immer wieder neue Beweisanträge
gestellt hat. Die Zeitungen tadeln es nach
gewissen Sensationsprozessen, daß unsere
Strafprozeßordnung es einen: gewandten
Adbvkaten ermögliche, das Gericht zur Schau¬
bühne zu machen und wochenlang über Dinge
verhandeln zu lassen, die mit dein eigentlichen
Prozeßstoff wenig oder gar nichts zu tun
haben. Wenn aber die Regierung bei einer
Reform der Gesetzgebung dafür eintritt, dem
Gericht ein gewisses freies Ermessen bei der
Bestimmung des Umfanges der Beweisauf¬
nahme einzuräumen, so sind es dieselben
Politiker, die verkünden, daß damit das
sicherste Bollwerk des — natürlich stets un-
schuldigen — Angeklagten gegen richterliche
Willkür niedergerissen werde.
Wenn in Bonn eine Anzahl Korpsstudenteu
auf einer Kleinbahn Unfug treiben und schlie߬
lich angeklagt werden, weil einige der Teilneh¬
mer den Eisenbahntransport gefährdet hätten,
aber sämtlich freigesprochen werden mit der
ausdrücklichen Begründung, daß sich nicht habe
feststellen küssen, welche bon den Angeklagten
gerade die Täter gewesen seien, so ist das
natürlich ein krasses Beispiel von Klassenjustiz,
wenn aber in einen? großen Strafprozesse
wegen Landfriedenbruches gegen sozialdemo¬
kratische Arbeiter dasselbe geschieht, dann ist
das nicht etwa Gerechtigkeit, sondern eine
Blamage für die Staatsanwaltschaft und ein
Fall, der wieder einmal ein grelles Schlag¬
licht auf unseren Strafprozeß wirft, der nach
einer Reform geradezu schreit.
Die meisten Richter taugen nichts, weil
sie zu wenig vom Praktischen Leben verstehen
und weltfremd sind. Ein besonderes Palla¬
dium der Volksfreiheit aber bildet das Schwur¬
gericht, in dem recht oft Leute sitzen, die ihr
ganzes Leben in einer kleinen Stadt unter
engen Verhältnissen zugebracht haben, ferner
Oberlehrer, Professoren, verabschiedete Offi¬
ziere usw, und über Dinge entscheiden, zu
deren Verständnis ein recht erhebliches Maß
bon Kenntnissen des kaufmännischen und in¬
dustriellen Lebens und der modernen Ver¬
hältnisse nötig ist. Man rühmt sich, daß man
den „kleinen Befähigungsnachweis" geschaffen
habe und man kämpft für den „großen",
demzufolge niemand auch nur einen Stiefel
befohlen darf, wenn er es nicht vorher ord¬
nungsmäßig gelernt und seine Kenntnisse vor
einer Prüfungskommission dargelegt hat. Nur
zu dem Amte eines Geschworenen, der unter
Umständen berufen ist, Menschen zum Tode
zu verurteilen, bedarf es keines Studiums,
keines Examens und keines Befähigungsnach¬
weises. Um vou den rein juristischen Kennt¬
nissen ganz zu schweigen: unsere Strafrichter
langen ja deswegen so wenig, weil sie nur
Juristen sind und von moderner Pshchologie
keine Ahnung haben und daher nicht imstande
sind, Zeugenaussagen richtig zu würdigen.
Die Geschworenen können eS auch ohne solche
Vorbildung — allerdings nur, wenn sie den
Angeklagten freisprechen; wenn sie einen Un¬
schuldigen verurteilen und dieser, nachdem
das arme Opfer jahrelang n» Zuchthause ge¬
sessen hat, im Wiederaufnahmeverfahren frei¬
gesprochen wird, dann sind an diesem Fehl¬
spruche natürlich nicht die Geschworenen schuld,
sondern der Borsitzende, der durch seine vor¬
eingenommene Verhandlungsleitung die Ge¬
schworenen verführt hat. Welch blutiger Hohn
auf das ganze Schwurgericht in dieser Be¬
hauptung liegt, merkt anscheinend niemand.
Als besonders wichtig, und zwar mit Recht,
erachtet man, daß die Behörden des modernen
Staates an feste gesetzliche Regeln gebunden
sind und den Staatsbürger nicht nach will¬
kürlichem Ermessen behandeln dürfen. Als
jedoch das preußische Oberverwaltungsgericht
sich in einer neueren Entscheidung auf eine
noch jetzt gültige Verordnung vom Jahre 1677
stützte, fragte eine sehr weit rechts stehende
Zeitung, ob denn diese Herren kein Gefühl
dafür hätten, wie lächerlich sie sich durch eine
solche Begründung machten.
Als ein Grundpfeiler der Staatsordnung
wird die Unabhängigkeit des Richterstandes
geschätzt, aber, wohlverstanden, nur die Un-
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