Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der lvieseuzcmn

Dieses unnahbare, selbstsichere, einer vornehmen Patrizierin nicht unwürdige
Betragen war nun aber bei der Tochter eines Bänkelsängers, der Jörg Graff
ja schließlich all seiner Kunst zum Trotze war, etwas so Unerhörtes und Auf¬
reizendes, daß sich bald ein zierliches Kränzlein verschmitzter Legenden um die
spröde Jungfrau zu bilden begann. Die verwegenste darunter mochte wohl jene
sein, die da kecklich behauptete, die Felicitas sei gar nicht des Jörgen Kind,
sondern in früher Jugend von dem wilden Landsknecht aus einem edlen Hause
gestohlen und als eigen Kind erzogen worden.

So kränkend dieses Lügengespinst für den Jörg auch sein mochte, es hatte
doch sein Gutes, indem es ihm das Nürnberger Volk in hellen Scharen zutrug,
was wieder seinem Beutel sehr zustatten kam.

Nun aber war seit einiger Zeit eine merkliche Veränderung mit der Felicitas
vor sich gegangen, die selbst dem blinden Vater nicht verborgen bleiben konnte.
Ihr Wesen war noch stiller und zurückhaltender geworden, sie sprach in kargen
Worten nur das Allem ötigste und konnte zu Hause stundenlang in einer Ecke
sitzen und vor sich hinträumen. Und so mächtig war diese Sucht nach innerster
Einsamkeit in ihr geworden, daß ihr Mitleid mit dem Vater dagegen nicht
mehr aufkam. Sie hatte ihn sonst durch mauches kindlich fröhliche Wort und
manchen liebkosenden Scherz zu erheitern gewußt; nun aber ließ sie den blinden
Mann, als würde sie selbst an aller Daseinsfreude verzweifeln, in all seinein
Jammer oft in sich versinken und wußte ihm keinen Trost.

Der Blinde aber, schwankend zwischen Groll und Bestürzung über der
Tochter vermeintliche Lieblosigkeit, begann Gefahr zu wittern, als ginge da einer
um, der ihm die Seele seines Kindes zu rauben gewillt war. Oft sprang er
in kriegerischem Ungestüm empor und verlangte, von phantastischen Träumen
erhitzt, nach seinem guten Schwert, das er grimmig zu schwingen gedachte
gegen alle, die ihn mit List oder schändlicher Gewalt um sein Liebstes bringen
wollten.

Dann hatte Felicitas genugsam zu tun, den wilderregten Mann zu beruhigen,
und sie konnte es nur, indem sie ihre zitternden Hände lange in den seinen
ließ, die sie mächtig und ungestüm umschlossen hielten, als gelte es, dem Näuber-
sinn der ganzen Welt zu trotzen.

Am meisten ängstigte den Jörg, daß ihn Felicitas von Zeit zu Zeit allein
ließ, was vormals nie geschehen war. Sie wußte dann, aufs heftigste von
ihm befragt, ihre Abwesenheit stets zu erklären, als hätte sie auf dem Markte
oder bei der Nachbarin zu tun gehabt, was ja auch zum Teil der Wirklichkeit
entsprach.

Die volle Wahrheit gestand sie dem Vater nie. In Wahrheit hatte sie
sich eilig durch allerlei Nebengassen in der Richtung nach dein Tiergärtnertor
entfernt und war, vor dem Hause Dürers angekommen, mehrmals um deu
Platz herumgegangen und hatte dabei in scheuer Verwirrung zu des Meisters
Fenster hinaufgespäht.


Der lvieseuzcmn

Dieses unnahbare, selbstsichere, einer vornehmen Patrizierin nicht unwürdige
Betragen war nun aber bei der Tochter eines Bänkelsängers, der Jörg Graff
ja schließlich all seiner Kunst zum Trotze war, etwas so Unerhörtes und Auf¬
reizendes, daß sich bald ein zierliches Kränzlein verschmitzter Legenden um die
spröde Jungfrau zu bilden begann. Die verwegenste darunter mochte wohl jene
sein, die da kecklich behauptete, die Felicitas sei gar nicht des Jörgen Kind,
sondern in früher Jugend von dem wilden Landsknecht aus einem edlen Hause
gestohlen und als eigen Kind erzogen worden.

So kränkend dieses Lügengespinst für den Jörg auch sein mochte, es hatte
doch sein Gutes, indem es ihm das Nürnberger Volk in hellen Scharen zutrug,
was wieder seinem Beutel sehr zustatten kam.

Nun aber war seit einiger Zeit eine merkliche Veränderung mit der Felicitas
vor sich gegangen, die selbst dem blinden Vater nicht verborgen bleiben konnte.
Ihr Wesen war noch stiller und zurückhaltender geworden, sie sprach in kargen
Worten nur das Allem ötigste und konnte zu Hause stundenlang in einer Ecke
sitzen und vor sich hinträumen. Und so mächtig war diese Sucht nach innerster
Einsamkeit in ihr geworden, daß ihr Mitleid mit dem Vater dagegen nicht
mehr aufkam. Sie hatte ihn sonst durch mauches kindlich fröhliche Wort und
manchen liebkosenden Scherz zu erheitern gewußt; nun aber ließ sie den blinden
Mann, als würde sie selbst an aller Daseinsfreude verzweifeln, in all seinein
Jammer oft in sich versinken und wußte ihm keinen Trost.

Der Blinde aber, schwankend zwischen Groll und Bestürzung über der
Tochter vermeintliche Lieblosigkeit, begann Gefahr zu wittern, als ginge da einer
um, der ihm die Seele seines Kindes zu rauben gewillt war. Oft sprang er
in kriegerischem Ungestüm empor und verlangte, von phantastischen Träumen
erhitzt, nach seinem guten Schwert, das er grimmig zu schwingen gedachte
gegen alle, die ihn mit List oder schändlicher Gewalt um sein Liebstes bringen
wollten.

Dann hatte Felicitas genugsam zu tun, den wilderregten Mann zu beruhigen,
und sie konnte es nur, indem sie ihre zitternden Hände lange in den seinen
ließ, die sie mächtig und ungestüm umschlossen hielten, als gelte es, dem Näuber-
sinn der ganzen Welt zu trotzen.

Am meisten ängstigte den Jörg, daß ihn Felicitas von Zeit zu Zeit allein
ließ, was vormals nie geschehen war. Sie wußte dann, aufs heftigste von
ihm befragt, ihre Abwesenheit stets zu erklären, als hätte sie auf dem Markte
oder bei der Nachbarin zu tun gehabt, was ja auch zum Teil der Wirklichkeit
entsprach.

Die volle Wahrheit gestand sie dem Vater nie. In Wahrheit hatte sie
sich eilig durch allerlei Nebengassen in der Richtung nach dein Tiergärtnertor
entfernt und war, vor dem Hause Dürers angekommen, mehrmals um deu
Platz herumgegangen und hatte dabei in scheuer Verwirrung zu des Meisters
Fenster hinaufgespäht.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0292" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321375"/>
            <fw type="header" place="top"> Der lvieseuzcmn</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1186"> Dieses unnahbare, selbstsichere, einer vornehmen Patrizierin nicht unwürdige<lb/>
Betragen war nun aber bei der Tochter eines Bänkelsängers, der Jörg Graff<lb/>
ja schließlich all seiner Kunst zum Trotze war, etwas so Unerhörtes und Auf¬<lb/>
reizendes, daß sich bald ein zierliches Kränzlein verschmitzter Legenden um die<lb/>
spröde Jungfrau zu bilden begann. Die verwegenste darunter mochte wohl jene<lb/>
sein, die da kecklich behauptete, die Felicitas sei gar nicht des Jörgen Kind,<lb/>
sondern in früher Jugend von dem wilden Landsknecht aus einem edlen Hause<lb/>
gestohlen und als eigen Kind erzogen worden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1187"> So kränkend dieses Lügengespinst für den Jörg auch sein mochte, es hatte<lb/>
doch sein Gutes, indem es ihm das Nürnberger Volk in hellen Scharen zutrug,<lb/>
was wieder seinem Beutel sehr zustatten kam.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1188"> Nun aber war seit einiger Zeit eine merkliche Veränderung mit der Felicitas<lb/>
vor sich gegangen, die selbst dem blinden Vater nicht verborgen bleiben konnte.<lb/>
Ihr Wesen war noch stiller und zurückhaltender geworden, sie sprach in kargen<lb/>
Worten nur das Allem ötigste und konnte zu Hause stundenlang in einer Ecke<lb/>
sitzen und vor sich hinträumen. Und so mächtig war diese Sucht nach innerster<lb/>
Einsamkeit in ihr geworden, daß ihr Mitleid mit dem Vater dagegen nicht<lb/>
mehr aufkam. Sie hatte ihn sonst durch mauches kindlich fröhliche Wort und<lb/>
manchen liebkosenden Scherz zu erheitern gewußt; nun aber ließ sie den blinden<lb/>
Mann, als würde sie selbst an aller Daseinsfreude verzweifeln, in all seinein<lb/>
Jammer oft in sich versinken und wußte ihm keinen Trost.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1189"> Der Blinde aber, schwankend zwischen Groll und Bestürzung über der<lb/>
Tochter vermeintliche Lieblosigkeit, begann Gefahr zu wittern, als ginge da einer<lb/>
um, der ihm die Seele seines Kindes zu rauben gewillt war. Oft sprang er<lb/>
in kriegerischem Ungestüm empor und verlangte, von phantastischen Träumen<lb/>
erhitzt, nach seinem guten Schwert, das er grimmig zu schwingen gedachte<lb/>
gegen alle, die ihn mit List oder schändlicher Gewalt um sein Liebstes bringen<lb/>
wollten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1190"> Dann hatte Felicitas genugsam zu tun, den wilderregten Mann zu beruhigen,<lb/>
und sie konnte es nur, indem sie ihre zitternden Hände lange in den seinen<lb/>
ließ, die sie mächtig und ungestüm umschlossen hielten, als gelte es, dem Näuber-<lb/>
sinn der ganzen Welt zu trotzen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1191"> Am meisten ängstigte den Jörg, daß ihn Felicitas von Zeit zu Zeit allein<lb/>
ließ, was vormals nie geschehen war. Sie wußte dann, aufs heftigste von<lb/>
ihm befragt, ihre Abwesenheit stets zu erklären, als hätte sie auf dem Markte<lb/>
oder bei der Nachbarin zu tun gehabt, was ja auch zum Teil der Wirklichkeit<lb/>
entsprach.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1192"> Die volle Wahrheit gestand sie dem Vater nie. In Wahrheit hatte sie<lb/>
sich eilig durch allerlei Nebengassen in der Richtung nach dein Tiergärtnertor<lb/>
entfernt und war, vor dem Hause Dürers angekommen, mehrmals um deu<lb/>
Platz herumgegangen und hatte dabei in scheuer Verwirrung zu des Meisters<lb/>
Fenster hinaufgespäht.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0292] Der lvieseuzcmn Dieses unnahbare, selbstsichere, einer vornehmen Patrizierin nicht unwürdige Betragen war nun aber bei der Tochter eines Bänkelsängers, der Jörg Graff ja schließlich all seiner Kunst zum Trotze war, etwas so Unerhörtes und Auf¬ reizendes, daß sich bald ein zierliches Kränzlein verschmitzter Legenden um die spröde Jungfrau zu bilden begann. Die verwegenste darunter mochte wohl jene sein, die da kecklich behauptete, die Felicitas sei gar nicht des Jörgen Kind, sondern in früher Jugend von dem wilden Landsknecht aus einem edlen Hause gestohlen und als eigen Kind erzogen worden. So kränkend dieses Lügengespinst für den Jörg auch sein mochte, es hatte doch sein Gutes, indem es ihm das Nürnberger Volk in hellen Scharen zutrug, was wieder seinem Beutel sehr zustatten kam. Nun aber war seit einiger Zeit eine merkliche Veränderung mit der Felicitas vor sich gegangen, die selbst dem blinden Vater nicht verborgen bleiben konnte. Ihr Wesen war noch stiller und zurückhaltender geworden, sie sprach in kargen Worten nur das Allem ötigste und konnte zu Hause stundenlang in einer Ecke sitzen und vor sich hinträumen. Und so mächtig war diese Sucht nach innerster Einsamkeit in ihr geworden, daß ihr Mitleid mit dem Vater dagegen nicht mehr aufkam. Sie hatte ihn sonst durch mauches kindlich fröhliche Wort und manchen liebkosenden Scherz zu erheitern gewußt; nun aber ließ sie den blinden Mann, als würde sie selbst an aller Daseinsfreude verzweifeln, in all seinein Jammer oft in sich versinken und wußte ihm keinen Trost. Der Blinde aber, schwankend zwischen Groll und Bestürzung über der Tochter vermeintliche Lieblosigkeit, begann Gefahr zu wittern, als ginge da einer um, der ihm die Seele seines Kindes zu rauben gewillt war. Oft sprang er in kriegerischem Ungestüm empor und verlangte, von phantastischen Träumen erhitzt, nach seinem guten Schwert, das er grimmig zu schwingen gedachte gegen alle, die ihn mit List oder schändlicher Gewalt um sein Liebstes bringen wollten. Dann hatte Felicitas genugsam zu tun, den wilderregten Mann zu beruhigen, und sie konnte es nur, indem sie ihre zitternden Hände lange in den seinen ließ, die sie mächtig und ungestüm umschlossen hielten, als gelte es, dem Näuber- sinn der ganzen Welt zu trotzen. Am meisten ängstigte den Jörg, daß ihn Felicitas von Zeit zu Zeit allein ließ, was vormals nie geschehen war. Sie wußte dann, aufs heftigste von ihm befragt, ihre Abwesenheit stets zu erklären, als hätte sie auf dem Markte oder bei der Nachbarin zu tun gehabt, was ja auch zum Teil der Wirklichkeit entsprach. Die volle Wahrheit gestand sie dem Vater nie. In Wahrheit hatte sie sich eilig durch allerlei Nebengassen in der Richtung nach dein Tiergärtnertor entfernt und war, vor dem Hause Dürers angekommen, mehrmals um deu Platz herumgegangen und hatte dabei in scheuer Verwirrung zu des Meisters Fenster hinaufgespäht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/292
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321082/292>, abgerufen am 26.06.2024.