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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

schließlich selbst auf der Treppe zum Schul-
hof zusammengebrochen liegen, Der Knabe
ist bei vollem Bewußtsein und erzählt, daß
er sich in einer Ecke deS Schulhofs in die
Brust geschossen habe. Der Vater wird sofort
benachrichtigt, findet schon den Arzt bei seinem
Sohne und bricht in dieheftigstenSchmähungen
gegen die Schule aus. Die Schulleitung stellt
unverzüglich eine genaue Untersuchung an.
Der Vater sucht die Öffentlichkeit auf und
findet in den Kieler Neuesten Rachrichten eine
Zeitung, die kritiklos die maßlosen, dem Vater
in der Aufregung verzeihlichen Anklagen ab¬
drückt, die sachlichen Erwiderungen der Schul¬
leitung aber zum Teil unterdrückt und so ein
verzerrtes Bild an die Öffentlichkeit bringt.
Als Grund der unseligen Tat stellt sich heraus,
daß der acht Tage später an der Wunde ge¬
storbene Junge am Nachmittag eine Stunde
Arrest abzusitzen hatte.

Hier haben wir es also auf den ersten
Blick rite mit einem Schülerselbstmorde zu
tun; es ist kein Fall, bei dein die Schule von
vornherein sagen durfte: wir sind nicht daran be¬
teiligt, DerSchülerwarein schlechter Mathema¬
tiker, er hatte von vornherein wenig Aussicht, in
der Klasse mitzukommen. Das hatte die Schule
bereits bei der Versetzung im Zeugnis bemerkt.
Die Eltern hatten das nicht genügend berück¬
sichtigt, und die Leistungen in der Mathematik
wurden schlechter. Im November riet der
Klassenleiter, den Jungen nicht mehr zur Ver¬
setzung zu pressen; der Vater hat es gegen
den Rat der Schule durch Privatstunden ver¬
sucht. Der Vorwurf der Überanstrengung kann
der Schule also nicht gemacht werden

Der Mnthematikprofessor, ein siebenund-
sechzigjähriger Herr, hat, um seine Unschuld zu
erweisen, das Disziplinarverfahren gegen sich
beantragt. Man hat die Klassenkameraden
des Unglücklichen ausgefragt, und die große
Mehrzahl hat ausgesagt, der Lehrer sei nicht
ungerecht oder voreingenommen gegen den
Schüler gewesen. Vielleicht mit Recht lehnten
die K. N, N, diese Methode der Untersuchung
ab, die Schüler und auch deren Eltern ständen
zu sehr unter dein Einfluß der Schule, Man
müsse die ehemaligen Schüler des Mathematik-
Professors befragen. Diesen Borschlag befolgten
zahlreiche alte Schüler, traten aus freien
Stücken für ihren alten Lehrer ein und be-

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tönten gerade seinen ausgesprochenen Gerechtig¬
keitssinn als hervorstechenden Charakterzug,
Trotzdem muß der alte Professor die ganze
Peinlichkeit der Untersuchung über sich ergehen
lassen, in jedem Winkel seiner dreiundvierzig-
jährigen Lehrtätigkeit wird und muß natürlich
herumgestöbert werden, seine Persönlichkeit
wird in rücksichtslosester Weise an die Öffent¬
lichkeit gezerrt, und was kann im günstigsten
Falle für ihn herauskommen? Nur der negative
Bescheid, daß ihm eine Schuld nicht nach¬
zuweisen ist. So lange aber, als der Mit¬
schuldige nicht Positiv herausgefunden ist, bleibt
auf der Schule und auf ihm der Verdacht der
Schuld hasten.

Hat der Schüler, hat der einzelne be¬
troffene Lehrer kein Rechtsmittel, das Odium
von sich zu schaffen? Darf die Presse, darf
der Vater das Ansehen eines Ehrenmannes
ungestraft antasten? So häufig hört man die
Klage, daß der Schule gegenüber Eltern und
Schüler rechtlos seien. Wer ist im Kieler
Falle der Rechtlose?

Angenommen, die Disziplinaruntersuchuug
ergibt die Schuldlosigkeit des Professors, so
darf in, E, die Sache hiermit nicht abgetan
sein. Wir stehen in einem ähnlichen Ver¬
hältnis zur gedankenlosen Presse, namentlich
der Provinzpresse, wie die Richter. Trifft
diese der Vorwurf der Weltfremdheit und
Klassenjustiz, so trifft uns der Vorwurf der
Pedanterie und der Herzlosigkeit. Wie der
Deutsche Richterbnnd shstematisch derartige
Vorwürfe sammelt und in jedem einzelnen
Falle durch Appell an die gute Presse richtig
stellen läßt oder gegebenen Falles zum öffent¬
lichen Verfahren bringt, so muß auch der
Oberlehrerverein jeden einzelnen als Schüler¬
selbstmord bezeichnetenJugendselbstmord unter¬
suchen lassen und nötigenfalls bis zum öffent¬
lichen Verfahren gehen, damit eine völlige
Aufklärung allmählich den Verdacht deS Pu¬
blikums mildert und Presse und Angehörige
der Selbstmörder in ihren Äußerungen zur
Vorsicht gezwungen werden.

Im Kieler Falle scheint übrigens der Anlaß
mehr im Elternhause als in der Schule zu
liegen. Dieselben Schüler, die die Vorein¬
genommenheit des Professors in Abrede stellten,
wußten von Klagen des Kameraden über zu
strenge häusliche Behandlung zu berichten.

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Grenzboten I 191281
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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schließlich selbst auf der Treppe zum Schul-
hof zusammengebrochen liegen, Der Knabe
ist bei vollem Bewußtsein und erzählt, daß
er sich in einer Ecke deS Schulhofs in die
Brust geschossen habe. Der Vater wird sofort
benachrichtigt, findet schon den Arzt bei seinem
Sohne und bricht in dieheftigstenSchmähungen
gegen die Schule aus. Die Schulleitung stellt
unverzüglich eine genaue Untersuchung an.
Der Vater sucht die Öffentlichkeit auf und
findet in den Kieler Neuesten Rachrichten eine
Zeitung, die kritiklos die maßlosen, dem Vater
in der Aufregung verzeihlichen Anklagen ab¬
drückt, die sachlichen Erwiderungen der Schul¬
leitung aber zum Teil unterdrückt und so ein
verzerrtes Bild an die Öffentlichkeit bringt.
Als Grund der unseligen Tat stellt sich heraus,
daß der acht Tage später an der Wunde ge¬
storbene Junge am Nachmittag eine Stunde
Arrest abzusitzen hatte.

Hier haben wir es also auf den ersten
Blick rite mit einem Schülerselbstmorde zu
tun; es ist kein Fall, bei dein die Schule von
vornherein sagen durfte: wir sind nicht daran be¬
teiligt, DerSchülerwarein schlechter Mathema¬
tiker, er hatte von vornherein wenig Aussicht, in
der Klasse mitzukommen. Das hatte die Schule
bereits bei der Versetzung im Zeugnis bemerkt.
Die Eltern hatten das nicht genügend berück¬
sichtigt, und die Leistungen in der Mathematik
wurden schlechter. Im November riet der
Klassenleiter, den Jungen nicht mehr zur Ver¬
setzung zu pressen; der Vater hat es gegen
den Rat der Schule durch Privatstunden ver¬
sucht. Der Vorwurf der Überanstrengung kann
der Schule also nicht gemacht werden

Der Mnthematikprofessor, ein siebenund-
sechzigjähriger Herr, hat, um seine Unschuld zu
erweisen, das Disziplinarverfahren gegen sich
beantragt. Man hat die Klassenkameraden
des Unglücklichen ausgefragt, und die große
Mehrzahl hat ausgesagt, der Lehrer sei nicht
ungerecht oder voreingenommen gegen den
Schüler gewesen. Vielleicht mit Recht lehnten
die K. N, N, diese Methode der Untersuchung
ab, die Schüler und auch deren Eltern ständen
zu sehr unter dein Einfluß der Schule, Man
müsse die ehemaligen Schüler des Mathematik-
Professors befragen. Diesen Borschlag befolgten
zahlreiche alte Schüler, traten aus freien
Stücken für ihren alten Lehrer ein und be-

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tönten gerade seinen ausgesprochenen Gerechtig¬
keitssinn als hervorstechenden Charakterzug,
Trotzdem muß der alte Professor die ganze
Peinlichkeit der Untersuchung über sich ergehen
lassen, in jedem Winkel seiner dreiundvierzig-
jährigen Lehrtätigkeit wird und muß natürlich
herumgestöbert werden, seine Persönlichkeit
wird in rücksichtslosester Weise an die Öffent¬
lichkeit gezerrt, und was kann im günstigsten
Falle für ihn herauskommen? Nur der negative
Bescheid, daß ihm eine Schuld nicht nach¬
zuweisen ist. So lange aber, als der Mit¬
schuldige nicht Positiv herausgefunden ist, bleibt
auf der Schule und auf ihm der Verdacht der
Schuld hasten.

Hat der Schüler, hat der einzelne be¬
troffene Lehrer kein Rechtsmittel, das Odium
von sich zu schaffen? Darf die Presse, darf
der Vater das Ansehen eines Ehrenmannes
ungestraft antasten? So häufig hört man die
Klage, daß der Schule gegenüber Eltern und
Schüler rechtlos seien. Wer ist im Kieler
Falle der Rechtlose?

Angenommen, die Disziplinaruntersuchuug
ergibt die Schuldlosigkeit des Professors, so
darf in, E, die Sache hiermit nicht abgetan
sein. Wir stehen in einem ähnlichen Ver¬
hältnis zur gedankenlosen Presse, namentlich
der Provinzpresse, wie die Richter. Trifft
diese der Vorwurf der Weltfremdheit und
Klassenjustiz, so trifft uns der Vorwurf der
Pedanterie und der Herzlosigkeit. Wie der
Deutsche Richterbnnd shstematisch derartige
Vorwürfe sammelt und in jedem einzelnen
Falle durch Appell an die gute Presse richtig
stellen läßt oder gegebenen Falles zum öffent¬
lichen Verfahren bringt, so muß auch der
Oberlehrerverein jeden einzelnen als Schüler¬
selbstmord bezeichnetenJugendselbstmord unter¬
suchen lassen und nötigenfalls bis zum öffent¬
lichen Verfahren gehen, damit eine völlige
Aufklärung allmählich den Verdacht deS Pu¬
blikums mildert und Presse und Angehörige
der Selbstmörder in ihren Äußerungen zur
Vorsicht gezwungen werden.

Im Kieler Falle scheint übrigens der Anlaß
mehr im Elternhause als in der Schule zu
liegen. Dieselben Schüler, die die Vorein¬
genommenheit des Professors in Abrede stellten,
wußten von Klagen des Kameraden über zu
strenge häusliche Behandlung zu berichten.

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[0645] Maßgebliches und Unmaßgebliches schließlich selbst auf der Treppe zum Schul- hof zusammengebrochen liegen, Der Knabe ist bei vollem Bewußtsein und erzählt, daß er sich in einer Ecke deS Schulhofs in die Brust geschossen habe. Der Vater wird sofort benachrichtigt, findet schon den Arzt bei seinem Sohne und bricht in dieheftigstenSchmähungen gegen die Schule aus. Die Schulleitung stellt unverzüglich eine genaue Untersuchung an. Der Vater sucht die Öffentlichkeit auf und findet in den Kieler Neuesten Rachrichten eine Zeitung, die kritiklos die maßlosen, dem Vater in der Aufregung verzeihlichen Anklagen ab¬ drückt, die sachlichen Erwiderungen der Schul¬ leitung aber zum Teil unterdrückt und so ein verzerrtes Bild an die Öffentlichkeit bringt. Als Grund der unseligen Tat stellt sich heraus, daß der acht Tage später an der Wunde ge¬ storbene Junge am Nachmittag eine Stunde Arrest abzusitzen hatte. Hier haben wir es also auf den ersten Blick rite mit einem Schülerselbstmorde zu tun; es ist kein Fall, bei dein die Schule von vornherein sagen durfte: wir sind nicht daran be¬ teiligt, DerSchülerwarein schlechter Mathema¬ tiker, er hatte von vornherein wenig Aussicht, in der Klasse mitzukommen. Das hatte die Schule bereits bei der Versetzung im Zeugnis bemerkt. Die Eltern hatten das nicht genügend berück¬ sichtigt, und die Leistungen in der Mathematik wurden schlechter. Im November riet der Klassenleiter, den Jungen nicht mehr zur Ver¬ setzung zu pressen; der Vater hat es gegen den Rat der Schule durch Privatstunden ver¬ sucht. Der Vorwurf der Überanstrengung kann der Schule also nicht gemacht werden Der Mnthematikprofessor, ein siebenund- sechzigjähriger Herr, hat, um seine Unschuld zu erweisen, das Disziplinarverfahren gegen sich beantragt. Man hat die Klassenkameraden des Unglücklichen ausgefragt, und die große Mehrzahl hat ausgesagt, der Lehrer sei nicht ungerecht oder voreingenommen gegen den Schüler gewesen. Vielleicht mit Recht lehnten die K. N, N, diese Methode der Untersuchung ab, die Schüler und auch deren Eltern ständen zu sehr unter dein Einfluß der Schule, Man müsse die ehemaligen Schüler des Mathematik- Professors befragen. Diesen Borschlag befolgten zahlreiche alte Schüler, traten aus freien Stücken für ihren alten Lehrer ein und be- tönten gerade seinen ausgesprochenen Gerechtig¬ keitssinn als hervorstechenden Charakterzug, Trotzdem muß der alte Professor die ganze Peinlichkeit der Untersuchung über sich ergehen lassen, in jedem Winkel seiner dreiundvierzig- jährigen Lehrtätigkeit wird und muß natürlich herumgestöbert werden, seine Persönlichkeit wird in rücksichtslosester Weise an die Öffent¬ lichkeit gezerrt, und was kann im günstigsten Falle für ihn herauskommen? Nur der negative Bescheid, daß ihm eine Schuld nicht nach¬ zuweisen ist. So lange aber, als der Mit¬ schuldige nicht Positiv herausgefunden ist, bleibt auf der Schule und auf ihm der Verdacht der Schuld hasten. Hat der Schüler, hat der einzelne be¬ troffene Lehrer kein Rechtsmittel, das Odium von sich zu schaffen? Darf die Presse, darf der Vater das Ansehen eines Ehrenmannes ungestraft antasten? So häufig hört man die Klage, daß der Schule gegenüber Eltern und Schüler rechtlos seien. Wer ist im Kieler Falle der Rechtlose? Angenommen, die Disziplinaruntersuchuug ergibt die Schuldlosigkeit des Professors, so darf in, E, die Sache hiermit nicht abgetan sein. Wir stehen in einem ähnlichen Ver¬ hältnis zur gedankenlosen Presse, namentlich der Provinzpresse, wie die Richter. Trifft diese der Vorwurf der Weltfremdheit und Klassenjustiz, so trifft uns der Vorwurf der Pedanterie und der Herzlosigkeit. Wie der Deutsche Richterbnnd shstematisch derartige Vorwürfe sammelt und in jedem einzelnen Falle durch Appell an die gute Presse richtig stellen läßt oder gegebenen Falles zum öffent¬ lichen Verfahren bringt, so muß auch der Oberlehrerverein jeden einzelnen als Schüler¬ selbstmord bezeichnetenJugendselbstmord unter¬ suchen lassen und nötigenfalls bis zum öffent¬ lichen Verfahren gehen, damit eine völlige Aufklärung allmählich den Verdacht deS Pu¬ blikums mildert und Presse und Angehörige der Selbstmörder in ihren Äußerungen zur Vorsicht gezwungen werden. Im Kieler Falle scheint übrigens der Anlaß mehr im Elternhause als in der Schule zu liegen. Dieselben Schüler, die die Vorein¬ genommenheit des Professors in Abrede stellten, wußten von Klagen des Kameraden über zu strenge häusliche Behandlung zu berichten. Grenzboten I 191281

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/645>, abgerufen am 27.09.2024.