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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Jugend und die Socialdemokratie

Religion ist nicht dazu da, irgend etwas zu erzeugen, weder Staatstreue
noch unmittelbar irgend eine Tugend. Religion ist der höchste ethische Wert
an sich selbst; Religion ist das innerste Leben der Seele, ohne welches das
Menschendasein, -- sei es im Besitz aller Erkenntnis, sei es mit der Schaufel
des Erdarbeiters in der Hand, -- sinnlos und wertlos ist. Nur aus solchem
inneren Leben entstehen auf die Dauer Charakter und Pflichttreue. Aus diesem
inneren Leben aber entspringt notwendig immer aufs neue der Glaube an einen
göttlichen Willen, der in den geheimnisvollen Tiefen alles Lebens wirkt. Dieser
Glaube, in welcher Gestalt auch immer, ist bei unserem jungen großstädtischen
Geschlecht durchweg zum Spott geworden. Und darum zeigen sich so viele
dieser Jünglinge haltlos gegenüber der Phrase und gegenüber der Not und
der Sorge. Es muß nun aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gesagt
werden: städtischer und ländlicher Religionsunterricht versagen in gleicher Weise.
Eher noch erwacht im jungen Städter die Sehnsucht wieder. Der vom Lande
in die Stadt gezogene hält sich entweder voller Angst innerlich getrennt von
allem geistigen Leben seiner Umgebung, oder (und das ist bei den Männern
das gewöhnliche) es bricht alles in ihm schnell zusammen, und er verwandelt
sich in einen wütenden Glaubensfeind. Mich dünkt, unsere älteren Holsteincr
hatten noch etwas mehr Widerstandskraft. Die jetzt aus den östlicheren Pro¬
vinzen kommen, erliegen noch viel schneller, und ihre Söhne, auch nicht mehr
so straff erzogen, wie die Jungen der ersten stadtbewanderten Generation, werden
ein weiches Material für die aufklärerische Phrase. Übrigens verhalten sich auch
die östlichen Stämme verschieden. Mir scheinen Märker und ostpreutzische Litthauer
aus bäuerlichen Distrikten etwas härter, mecklenburgische Gutstagelöhner völlig
unselbständig. Geradezu rabiat werden aus dem Osten stammende Katholiken,
wenn sie von der inneren Gärung erst einmal ergriffen sind.

Ein bitter-ernstes "Wach auf!" aber ruft diese Zeit der evangelischen
Kirche zu, namentlich dort, wo sie auf alt-lutherischem Boden steht: was für
Interessen bewegen denn eigentlich unsere kirchlichen Behörden und Parteiführer?
Ich darf es wohl sagen: ich bin viele Jahre, einzig durch die Kraft des
Geistes Jesu getrieben, unserem Volke nachgegangen und habe die Seelen
befragt, wovon und wie sie leben. Blicke ich nun zurück in die Welt, von der
ich doch einst ausgegangen bin, da sehe ich Jrrlehrenprozesse, Agendensorgen,
vielleicht ein neues Gesangbuch, Disputationen, ob ein Geistlicher sich sozial
betätigen solle oder nicht, die Frage des Einzelkelches --, das alles ist ja gut
gemeint, wird auch dabei Ernst und Geist aufgeboten --, aber das eine, was
not ist, das sehe ich nicht. Wo ist die Sorge, die in den Worten des Evan¬
geliums lebt: "Ihn jammerte des Volks, denn sie waren verachtet und zerstreut
wie Schafe, die keinen Hirten haben." Da gilt es: dieses Wort Hunderten
und Tausenden wie einen Feuerbrand in die Seele zu werfen. Die Kraft der
erziehenden Liebe, die ausgeht von dem Geiste Jesu, muß unter uns ein neues
Rittertum erwecken, Menschen, ja Menschen, um unser in allem Reichtum ver-


Die Jugend und die Socialdemokratie

Religion ist nicht dazu da, irgend etwas zu erzeugen, weder Staatstreue
noch unmittelbar irgend eine Tugend. Religion ist der höchste ethische Wert
an sich selbst; Religion ist das innerste Leben der Seele, ohne welches das
Menschendasein, — sei es im Besitz aller Erkenntnis, sei es mit der Schaufel
des Erdarbeiters in der Hand, — sinnlos und wertlos ist. Nur aus solchem
inneren Leben entstehen auf die Dauer Charakter und Pflichttreue. Aus diesem
inneren Leben aber entspringt notwendig immer aufs neue der Glaube an einen
göttlichen Willen, der in den geheimnisvollen Tiefen alles Lebens wirkt. Dieser
Glaube, in welcher Gestalt auch immer, ist bei unserem jungen großstädtischen
Geschlecht durchweg zum Spott geworden. Und darum zeigen sich so viele
dieser Jünglinge haltlos gegenüber der Phrase und gegenüber der Not und
der Sorge. Es muß nun aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gesagt
werden: städtischer und ländlicher Religionsunterricht versagen in gleicher Weise.
Eher noch erwacht im jungen Städter die Sehnsucht wieder. Der vom Lande
in die Stadt gezogene hält sich entweder voller Angst innerlich getrennt von
allem geistigen Leben seiner Umgebung, oder (und das ist bei den Männern
das gewöhnliche) es bricht alles in ihm schnell zusammen, und er verwandelt
sich in einen wütenden Glaubensfeind. Mich dünkt, unsere älteren Holsteincr
hatten noch etwas mehr Widerstandskraft. Die jetzt aus den östlicheren Pro¬
vinzen kommen, erliegen noch viel schneller, und ihre Söhne, auch nicht mehr
so straff erzogen, wie die Jungen der ersten stadtbewanderten Generation, werden
ein weiches Material für die aufklärerische Phrase. Übrigens verhalten sich auch
die östlichen Stämme verschieden. Mir scheinen Märker und ostpreutzische Litthauer
aus bäuerlichen Distrikten etwas härter, mecklenburgische Gutstagelöhner völlig
unselbständig. Geradezu rabiat werden aus dem Osten stammende Katholiken,
wenn sie von der inneren Gärung erst einmal ergriffen sind.

Ein bitter-ernstes „Wach auf!" aber ruft diese Zeit der evangelischen
Kirche zu, namentlich dort, wo sie auf alt-lutherischem Boden steht: was für
Interessen bewegen denn eigentlich unsere kirchlichen Behörden und Parteiführer?
Ich darf es wohl sagen: ich bin viele Jahre, einzig durch die Kraft des
Geistes Jesu getrieben, unserem Volke nachgegangen und habe die Seelen
befragt, wovon und wie sie leben. Blicke ich nun zurück in die Welt, von der
ich doch einst ausgegangen bin, da sehe ich Jrrlehrenprozesse, Agendensorgen,
vielleicht ein neues Gesangbuch, Disputationen, ob ein Geistlicher sich sozial
betätigen solle oder nicht, die Frage des Einzelkelches —, das alles ist ja gut
gemeint, wird auch dabei Ernst und Geist aufgeboten —, aber das eine, was
not ist, das sehe ich nicht. Wo ist die Sorge, die in den Worten des Evan¬
geliums lebt: „Ihn jammerte des Volks, denn sie waren verachtet und zerstreut
wie Schafe, die keinen Hirten haben." Da gilt es: dieses Wort Hunderten
und Tausenden wie einen Feuerbrand in die Seele zu werfen. Die Kraft der
erziehenden Liebe, die ausgeht von dem Geiste Jesu, muß unter uns ein neues
Rittertum erwecken, Menschen, ja Menschen, um unser in allem Reichtum ver-


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[0534] Die Jugend und die Socialdemokratie Religion ist nicht dazu da, irgend etwas zu erzeugen, weder Staatstreue noch unmittelbar irgend eine Tugend. Religion ist der höchste ethische Wert an sich selbst; Religion ist das innerste Leben der Seele, ohne welches das Menschendasein, — sei es im Besitz aller Erkenntnis, sei es mit der Schaufel des Erdarbeiters in der Hand, — sinnlos und wertlos ist. Nur aus solchem inneren Leben entstehen auf die Dauer Charakter und Pflichttreue. Aus diesem inneren Leben aber entspringt notwendig immer aufs neue der Glaube an einen göttlichen Willen, der in den geheimnisvollen Tiefen alles Lebens wirkt. Dieser Glaube, in welcher Gestalt auch immer, ist bei unserem jungen großstädtischen Geschlecht durchweg zum Spott geworden. Und darum zeigen sich so viele dieser Jünglinge haltlos gegenüber der Phrase und gegenüber der Not und der Sorge. Es muß nun aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gesagt werden: städtischer und ländlicher Religionsunterricht versagen in gleicher Weise. Eher noch erwacht im jungen Städter die Sehnsucht wieder. Der vom Lande in die Stadt gezogene hält sich entweder voller Angst innerlich getrennt von allem geistigen Leben seiner Umgebung, oder (und das ist bei den Männern das gewöhnliche) es bricht alles in ihm schnell zusammen, und er verwandelt sich in einen wütenden Glaubensfeind. Mich dünkt, unsere älteren Holsteincr hatten noch etwas mehr Widerstandskraft. Die jetzt aus den östlicheren Pro¬ vinzen kommen, erliegen noch viel schneller, und ihre Söhne, auch nicht mehr so straff erzogen, wie die Jungen der ersten stadtbewanderten Generation, werden ein weiches Material für die aufklärerische Phrase. Übrigens verhalten sich auch die östlichen Stämme verschieden. Mir scheinen Märker und ostpreutzische Litthauer aus bäuerlichen Distrikten etwas härter, mecklenburgische Gutstagelöhner völlig unselbständig. Geradezu rabiat werden aus dem Osten stammende Katholiken, wenn sie von der inneren Gärung erst einmal ergriffen sind. Ein bitter-ernstes „Wach auf!" aber ruft diese Zeit der evangelischen Kirche zu, namentlich dort, wo sie auf alt-lutherischem Boden steht: was für Interessen bewegen denn eigentlich unsere kirchlichen Behörden und Parteiführer? Ich darf es wohl sagen: ich bin viele Jahre, einzig durch die Kraft des Geistes Jesu getrieben, unserem Volke nachgegangen und habe die Seelen befragt, wovon und wie sie leben. Blicke ich nun zurück in die Welt, von der ich doch einst ausgegangen bin, da sehe ich Jrrlehrenprozesse, Agendensorgen, vielleicht ein neues Gesangbuch, Disputationen, ob ein Geistlicher sich sozial betätigen solle oder nicht, die Frage des Einzelkelches —, das alles ist ja gut gemeint, wird auch dabei Ernst und Geist aufgeboten —, aber das eine, was not ist, das sehe ich nicht. Wo ist die Sorge, die in den Worten des Evan¬ geliums lebt: „Ihn jammerte des Volks, denn sie waren verachtet und zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben." Da gilt es: dieses Wort Hunderten und Tausenden wie einen Feuerbrand in die Seele zu werfen. Die Kraft der erziehenden Liebe, die ausgeht von dem Geiste Jesu, muß unter uns ein neues Rittertum erwecken, Menschen, ja Menschen, um unser in allem Reichtum ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/534>, abgerufen am 27.09.2024.