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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die Jugend und die Sozialdemokratie

das von Zeit zu Zeit gescholten wird. Wehe uns, wenn erst diese Kinder
groß sind.

Die jetzige Generation der Jugend hat noch eine leidliche Portion Leiden¬
schaft in den Gliedern, aber erstaunlich geringe Urteilskraft. Man frage nur
tüchtige Lehrer im Arbeiterquartier, das dreißig Jahre alt ist. Reizbar und
grenzenlos unsozial im Privatleben ist diese Jugend. Und all dies Übel --,
es hat seine Ursache eben doch in der jammervollen geistigen Armut dieser
Menschen. Freilich, jetzt wirken auch die furchtbaren Kasernenstraßen, in denen
dieses Geschlecht aufwächst: keine Sonne, keinen reinen Himmel, keinen Erd¬
boden unter den Füßen kennt dies Geschlecht. In solcher Umgebung, in solcher
Enge der Wohnungen wird jede Tradition in der Familie erstickt.

Das ist nun der Boden, aus dem die Masse der sozialdemokratischen
Jugend emporwächst. Das ist eine andere Art Volk als jenes, welches vor
dreißig Jahren die Arbeiterpartei gründete. Es ist schwer zu entscheiden, ob
dies Massenvolk für Speise und Kleidung heute mehr Geld zur Verfügung hat
als vor dreißig Jahren. Wahrscheinlich ist das so. Aber die furchtbare
Zusammendrängung, die Einförmigkeit des Daseins, das hastige Tempo der
Arbeit und vor allem die Abnahme der Familienkraft hebt die gewonnenen Vor¬
teile wieder auf.

Diese Veränderung in der Natur des Volkes sieht die Sozialdemokratie selbst
noch nicht. Ihr Gedanke, die neugeborenen Massen selbst zu bilden und zu
erziehen, ist ein großer Gedanke, aus deutschem Idealismus geboren.

Man hätte erwarten können, daß die Arbeiterschaft von selbst sozial¬
demokratisch wird, denn es heißt: "In seiner politischen Orientierung ist jeder Mensch
von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig. Man braucht nur den Samen
des Sozialismus unter die Lohnarbeiter auszustreuen, und sie werden Sozial¬
demokraten." Dann müssen diese neuen Sozialdemokraten erzogen werden.
Allerdings kennt man zunächst nur ein Bildungsideal, das einzig den Verstand
aufklären und so den Charakter bilden will. Dieser Aufklärungsidealismus, der
Herz und Willen vernachlässigt, ist keine spezifisch sozialdemokratische Sünde. Den
hat die Sozialdemokratie von anderen gelernt. Selbst in unseren Lehrerbildungs¬
seminaren spukt noch zuweilen dieser Geist. Aber die erhoffte Bildungsarbeit
kann überhaupt nicht recht ins Leben treten. Denn die neue Volksart will
Sensation; in ihr pulst das rasche Großstadtblut. Die wollen nicht erkennen
und denken. Man will belehren, und vermag schließlich in der Masse doch nur
den Haß zu reizen. *) Und das kann man selbst mit dein konsequenten Materialismus
noch leisten, welcher nicht nur als ökonomische Theorie, sondern als allgemeine
Weltanschauung vorgetragen wird. Eigentlich pädagogische und ethische Sorgen
gestattet ja eine Weltanschauung nicht, nach welcher das Individuum einzig ein
Produkt der Verhältnisse ist.



") Siehe Dr. Heinz Marx: "Die sozialistische Jugendbewegung". Hamburg, Verlag
"Kinderschutz und Jugendwohl".
Die Jugend und die Sozialdemokratie

das von Zeit zu Zeit gescholten wird. Wehe uns, wenn erst diese Kinder
groß sind.

Die jetzige Generation der Jugend hat noch eine leidliche Portion Leiden¬
schaft in den Gliedern, aber erstaunlich geringe Urteilskraft. Man frage nur
tüchtige Lehrer im Arbeiterquartier, das dreißig Jahre alt ist. Reizbar und
grenzenlos unsozial im Privatleben ist diese Jugend. Und all dies Übel —,
es hat seine Ursache eben doch in der jammervollen geistigen Armut dieser
Menschen. Freilich, jetzt wirken auch die furchtbaren Kasernenstraßen, in denen
dieses Geschlecht aufwächst: keine Sonne, keinen reinen Himmel, keinen Erd¬
boden unter den Füßen kennt dies Geschlecht. In solcher Umgebung, in solcher
Enge der Wohnungen wird jede Tradition in der Familie erstickt.

Das ist nun der Boden, aus dem die Masse der sozialdemokratischen
Jugend emporwächst. Das ist eine andere Art Volk als jenes, welches vor
dreißig Jahren die Arbeiterpartei gründete. Es ist schwer zu entscheiden, ob
dies Massenvolk für Speise und Kleidung heute mehr Geld zur Verfügung hat
als vor dreißig Jahren. Wahrscheinlich ist das so. Aber die furchtbare
Zusammendrängung, die Einförmigkeit des Daseins, das hastige Tempo der
Arbeit und vor allem die Abnahme der Familienkraft hebt die gewonnenen Vor¬
teile wieder auf.

Diese Veränderung in der Natur des Volkes sieht die Sozialdemokratie selbst
noch nicht. Ihr Gedanke, die neugeborenen Massen selbst zu bilden und zu
erziehen, ist ein großer Gedanke, aus deutschem Idealismus geboren.

Man hätte erwarten können, daß die Arbeiterschaft von selbst sozial¬
demokratisch wird, denn es heißt: „In seiner politischen Orientierung ist jeder Mensch
von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig. Man braucht nur den Samen
des Sozialismus unter die Lohnarbeiter auszustreuen, und sie werden Sozial¬
demokraten." Dann müssen diese neuen Sozialdemokraten erzogen werden.
Allerdings kennt man zunächst nur ein Bildungsideal, das einzig den Verstand
aufklären und so den Charakter bilden will. Dieser Aufklärungsidealismus, der
Herz und Willen vernachlässigt, ist keine spezifisch sozialdemokratische Sünde. Den
hat die Sozialdemokratie von anderen gelernt. Selbst in unseren Lehrerbildungs¬
seminaren spukt noch zuweilen dieser Geist. Aber die erhoffte Bildungsarbeit
kann überhaupt nicht recht ins Leben treten. Denn die neue Volksart will
Sensation; in ihr pulst das rasche Großstadtblut. Die wollen nicht erkennen
und denken. Man will belehren, und vermag schließlich in der Masse doch nur
den Haß zu reizen. *) Und das kann man selbst mit dein konsequenten Materialismus
noch leisten, welcher nicht nur als ökonomische Theorie, sondern als allgemeine
Weltanschauung vorgetragen wird. Eigentlich pädagogische und ethische Sorgen
gestattet ja eine Weltanschauung nicht, nach welcher das Individuum einzig ein
Produkt der Verhältnisse ist.



") Siehe Dr. Heinz Marx: „Die sozialistische Jugendbewegung". Hamburg, Verlag
„Kinderschutz und Jugendwohl".
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[0530] Die Jugend und die Sozialdemokratie das von Zeit zu Zeit gescholten wird. Wehe uns, wenn erst diese Kinder groß sind. Die jetzige Generation der Jugend hat noch eine leidliche Portion Leiden¬ schaft in den Gliedern, aber erstaunlich geringe Urteilskraft. Man frage nur tüchtige Lehrer im Arbeiterquartier, das dreißig Jahre alt ist. Reizbar und grenzenlos unsozial im Privatleben ist diese Jugend. Und all dies Übel —, es hat seine Ursache eben doch in der jammervollen geistigen Armut dieser Menschen. Freilich, jetzt wirken auch die furchtbaren Kasernenstraßen, in denen dieses Geschlecht aufwächst: keine Sonne, keinen reinen Himmel, keinen Erd¬ boden unter den Füßen kennt dies Geschlecht. In solcher Umgebung, in solcher Enge der Wohnungen wird jede Tradition in der Familie erstickt. Das ist nun der Boden, aus dem die Masse der sozialdemokratischen Jugend emporwächst. Das ist eine andere Art Volk als jenes, welches vor dreißig Jahren die Arbeiterpartei gründete. Es ist schwer zu entscheiden, ob dies Massenvolk für Speise und Kleidung heute mehr Geld zur Verfügung hat als vor dreißig Jahren. Wahrscheinlich ist das so. Aber die furchtbare Zusammendrängung, die Einförmigkeit des Daseins, das hastige Tempo der Arbeit und vor allem die Abnahme der Familienkraft hebt die gewonnenen Vor¬ teile wieder auf. Diese Veränderung in der Natur des Volkes sieht die Sozialdemokratie selbst noch nicht. Ihr Gedanke, die neugeborenen Massen selbst zu bilden und zu erziehen, ist ein großer Gedanke, aus deutschem Idealismus geboren. Man hätte erwarten können, daß die Arbeiterschaft von selbst sozial¬ demokratisch wird, denn es heißt: „In seiner politischen Orientierung ist jeder Mensch von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen abhängig. Man braucht nur den Samen des Sozialismus unter die Lohnarbeiter auszustreuen, und sie werden Sozial¬ demokraten." Dann müssen diese neuen Sozialdemokraten erzogen werden. Allerdings kennt man zunächst nur ein Bildungsideal, das einzig den Verstand aufklären und so den Charakter bilden will. Dieser Aufklärungsidealismus, der Herz und Willen vernachlässigt, ist keine spezifisch sozialdemokratische Sünde. Den hat die Sozialdemokratie von anderen gelernt. Selbst in unseren Lehrerbildungs¬ seminaren spukt noch zuweilen dieser Geist. Aber die erhoffte Bildungsarbeit kann überhaupt nicht recht ins Leben treten. Denn die neue Volksart will Sensation; in ihr pulst das rasche Großstadtblut. Die wollen nicht erkennen und denken. Man will belehren, und vermag schließlich in der Masse doch nur den Haß zu reizen. *) Und das kann man selbst mit dein konsequenten Materialismus noch leisten, welcher nicht nur als ökonomische Theorie, sondern als allgemeine Weltanschauung vorgetragen wird. Eigentlich pädagogische und ethische Sorgen gestattet ja eine Weltanschauung nicht, nach welcher das Individuum einzig ein Produkt der Verhältnisse ist. ") Siehe Dr. Heinz Marx: „Die sozialistische Jugendbewegung". Hamburg, Verlag „Kinderschutz und Jugendwohl".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/530>, abgerufen am 27.09.2024.