Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Jugend und die Sozialdemokratie

Vergleichen wir die heranwachsende sozialdemokratische Generation mit der
nun rasch zurücktretenden, so fällt der Gegensatz auf. Die Alten waren ihrem
Glauben nach Materialisten geworden, "die Verhältnisse machen den Menschen".
Aber im Leben zeigten sie, daß sie selbst durch eine tüchtige Erziehung ehrliche
und selbständige Menschen waren. In ihren Familien hielten sie auf gute Zucht.
Dem Gegner gegenüber waren sie im persönlichen Verkehr offen und ritterlich.
Sie konnten auch einmal mutig gegen die Mehrheit stehen.

Dem neuen Geschlecht ist der Materialismus zum Charakter geworden.
Es wird wirklich das vom Wind der Agitatoren vorwärtsgetriebene unselb¬
ständige Massenvolk. Nachdem unserem Volke erst vom Bürgertum, dann ans
der eigenen Mitte gepredigt worden ist, daß es nichts Unbedingtes und Heiliges
gibt, beginnt nun die sittliche Selbständigkeit des Charakters zu schwinden.

Die sittliche Freiheit des einzelnen ist verhaßt! Kein selbständiges Gewissen
ist erlaubt, sondern der Parteiwille muß jeden Willen meistern, entschuldigt
alles, verantwortet alles. Da bin ich zum erstenmal im tiefsten Herzen erschrocken
vor der Sozialdemokratie, als ich erlebte, daß derselbe Mensch, der freundlich
und ritterlich mir begegnet war, wenige Wochen später, offenbar durch eine ihn
vorwärtstreibende Mehrheit gezwungen, mich nicht nur angriff, -- das war sein
gutes Recht --, sondern plötzlich einen leidenschaftlichen, rohen Ton anschlug
und Dinge sagte, von denen er wußte, daß sie nicht wahr waren. Wohl
tadelten einige andere Sozialdemokraten mit großer Entschlossenheit solche
Demagogie. Aber haben diese den nötigen Einfluß?

Man muß eines bedenken: Demokratie lebt schnell. Die alten Führer
bleiben zwar noch lange auf dem Plan. Aber ihre Zeitgenossen sind schon fast
alle verschwunden. Schon das zweite Geschlecht, diejenigen, welche als Jünglinge
dem Manne Bebel begeistert lauschten, gehören heute zu den Alten. Mit fünf¬
undvierzig Jahren neigt sich oft schon das Leben eines industriellen Arbeiters
einem schnellen Ende zu -- Unfall, Krankheit, Siechtum. Und die dies kritische
Alter überstehen, bleiben gern zuHaus, sehr oft verbittert gegen die Partei, manchmal
noch treu, aber doch in beschaulicher Ruhe. Wer sie besucht, kann vielleicht echte
Lebensweisheit hören. Eines kann man von solchen Alten lernen: Sie sind
gute Deutsche, aber sie haben innerlich die Versöhnung mit dein neuen Deutschen
Reiche nicht gefunden. Die Zeit des Sozialistengesetzes hat ihnen zu bittere
Erinnerungen hinterlassen. So konnten sie auch ihren Kindern keine imperialistische
Tradition vererben.

Da die ohnehin nicht zahlreichen Alten also die Volksversammlung meist
nicht lieben, so herrschen hier die Jungen. Wie sind nun diese?

Viele begabte Arbeitersöhne setzen, dank der trefflichen Erziehung, die gerade
die alten Sozialdemokraten ihren Kindern gegeben haben, ihre Kraft in ihrem
Berufe ein, kommen in diesem vorwärts und erleben in ganzer Schärfe den
sonderbaren Konflikt, daß der, der ein außerordentlich tüchtiger Arbeiter ist, um
dessentwillen noch gar nichts gilt. Beruf ist aber die stärkste Macht in diesen


Die Jugend und die Sozialdemokratie

Vergleichen wir die heranwachsende sozialdemokratische Generation mit der
nun rasch zurücktretenden, so fällt der Gegensatz auf. Die Alten waren ihrem
Glauben nach Materialisten geworden, „die Verhältnisse machen den Menschen".
Aber im Leben zeigten sie, daß sie selbst durch eine tüchtige Erziehung ehrliche
und selbständige Menschen waren. In ihren Familien hielten sie auf gute Zucht.
Dem Gegner gegenüber waren sie im persönlichen Verkehr offen und ritterlich.
Sie konnten auch einmal mutig gegen die Mehrheit stehen.

Dem neuen Geschlecht ist der Materialismus zum Charakter geworden.
Es wird wirklich das vom Wind der Agitatoren vorwärtsgetriebene unselb¬
ständige Massenvolk. Nachdem unserem Volke erst vom Bürgertum, dann ans
der eigenen Mitte gepredigt worden ist, daß es nichts Unbedingtes und Heiliges
gibt, beginnt nun die sittliche Selbständigkeit des Charakters zu schwinden.

Die sittliche Freiheit des einzelnen ist verhaßt! Kein selbständiges Gewissen
ist erlaubt, sondern der Parteiwille muß jeden Willen meistern, entschuldigt
alles, verantwortet alles. Da bin ich zum erstenmal im tiefsten Herzen erschrocken
vor der Sozialdemokratie, als ich erlebte, daß derselbe Mensch, der freundlich
und ritterlich mir begegnet war, wenige Wochen später, offenbar durch eine ihn
vorwärtstreibende Mehrheit gezwungen, mich nicht nur angriff, — das war sein
gutes Recht —, sondern plötzlich einen leidenschaftlichen, rohen Ton anschlug
und Dinge sagte, von denen er wußte, daß sie nicht wahr waren. Wohl
tadelten einige andere Sozialdemokraten mit großer Entschlossenheit solche
Demagogie. Aber haben diese den nötigen Einfluß?

Man muß eines bedenken: Demokratie lebt schnell. Die alten Führer
bleiben zwar noch lange auf dem Plan. Aber ihre Zeitgenossen sind schon fast
alle verschwunden. Schon das zweite Geschlecht, diejenigen, welche als Jünglinge
dem Manne Bebel begeistert lauschten, gehören heute zu den Alten. Mit fünf¬
undvierzig Jahren neigt sich oft schon das Leben eines industriellen Arbeiters
einem schnellen Ende zu — Unfall, Krankheit, Siechtum. Und die dies kritische
Alter überstehen, bleiben gern zuHaus, sehr oft verbittert gegen die Partei, manchmal
noch treu, aber doch in beschaulicher Ruhe. Wer sie besucht, kann vielleicht echte
Lebensweisheit hören. Eines kann man von solchen Alten lernen: Sie sind
gute Deutsche, aber sie haben innerlich die Versöhnung mit dein neuen Deutschen
Reiche nicht gefunden. Die Zeit des Sozialistengesetzes hat ihnen zu bittere
Erinnerungen hinterlassen. So konnten sie auch ihren Kindern keine imperialistische
Tradition vererben.

Da die ohnehin nicht zahlreichen Alten also die Volksversammlung meist
nicht lieben, so herrschen hier die Jungen. Wie sind nun diese?

Viele begabte Arbeitersöhne setzen, dank der trefflichen Erziehung, die gerade
die alten Sozialdemokraten ihren Kindern gegeben haben, ihre Kraft in ihrem
Berufe ein, kommen in diesem vorwärts und erleben in ganzer Schärfe den
sonderbaren Konflikt, daß der, der ein außerordentlich tüchtiger Arbeiter ist, um
dessentwillen noch gar nichts gilt. Beruf ist aber die stärkste Macht in diesen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0528" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320945"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Jugend und die Sozialdemokratie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2257"> Vergleichen wir die heranwachsende sozialdemokratische Generation mit der<lb/>
nun rasch zurücktretenden, so fällt der Gegensatz auf. Die Alten waren ihrem<lb/>
Glauben nach Materialisten geworden, &#x201E;die Verhältnisse machen den Menschen".<lb/>
Aber im Leben zeigten sie, daß sie selbst durch eine tüchtige Erziehung ehrliche<lb/>
und selbständige Menschen waren. In ihren Familien hielten sie auf gute Zucht.<lb/>
Dem Gegner gegenüber waren sie im persönlichen Verkehr offen und ritterlich.<lb/>
Sie konnten auch einmal mutig gegen die Mehrheit stehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2258"> Dem neuen Geschlecht ist der Materialismus zum Charakter geworden.<lb/>
Es wird wirklich das vom Wind der Agitatoren vorwärtsgetriebene unselb¬<lb/>
ständige Massenvolk. Nachdem unserem Volke erst vom Bürgertum, dann ans<lb/>
der eigenen Mitte gepredigt worden ist, daß es nichts Unbedingtes und Heiliges<lb/>
gibt, beginnt nun die sittliche Selbständigkeit des Charakters zu schwinden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2259"> Die sittliche Freiheit des einzelnen ist verhaßt! Kein selbständiges Gewissen<lb/>
ist erlaubt, sondern der Parteiwille muß jeden Willen meistern, entschuldigt<lb/>
alles, verantwortet alles. Da bin ich zum erstenmal im tiefsten Herzen erschrocken<lb/>
vor der Sozialdemokratie, als ich erlebte, daß derselbe Mensch, der freundlich<lb/>
und ritterlich mir begegnet war, wenige Wochen später, offenbar durch eine ihn<lb/>
vorwärtstreibende Mehrheit gezwungen, mich nicht nur angriff, &#x2014; das war sein<lb/>
gutes Recht &#x2014;, sondern plötzlich einen leidenschaftlichen, rohen Ton anschlug<lb/>
und Dinge sagte, von denen er wußte, daß sie nicht wahr waren. Wohl<lb/>
tadelten einige andere Sozialdemokraten mit großer Entschlossenheit solche<lb/>
Demagogie.  Aber haben diese den nötigen Einfluß?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2260"> Man muß eines bedenken: Demokratie lebt schnell. Die alten Führer<lb/>
bleiben zwar noch lange auf dem Plan. Aber ihre Zeitgenossen sind schon fast<lb/>
alle verschwunden. Schon das zweite Geschlecht, diejenigen, welche als Jünglinge<lb/>
dem Manne Bebel begeistert lauschten, gehören heute zu den Alten. Mit fünf¬<lb/>
undvierzig Jahren neigt sich oft schon das Leben eines industriellen Arbeiters<lb/>
einem schnellen Ende zu &#x2014; Unfall, Krankheit, Siechtum. Und die dies kritische<lb/>
Alter überstehen, bleiben gern zuHaus, sehr oft verbittert gegen die Partei, manchmal<lb/>
noch treu, aber doch in beschaulicher Ruhe. Wer sie besucht, kann vielleicht echte<lb/>
Lebensweisheit hören. Eines kann man von solchen Alten lernen: Sie sind<lb/>
gute Deutsche, aber sie haben innerlich die Versöhnung mit dein neuen Deutschen<lb/>
Reiche nicht gefunden. Die Zeit des Sozialistengesetzes hat ihnen zu bittere<lb/>
Erinnerungen hinterlassen. So konnten sie auch ihren Kindern keine imperialistische<lb/>
Tradition vererben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2261"> Da die ohnehin nicht zahlreichen Alten also die Volksversammlung meist<lb/>
nicht lieben, so herrschen hier die Jungen.  Wie sind nun diese?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2262" next="#ID_2263"> Viele begabte Arbeitersöhne setzen, dank der trefflichen Erziehung, die gerade<lb/>
die alten Sozialdemokraten ihren Kindern gegeben haben, ihre Kraft in ihrem<lb/>
Berufe ein, kommen in diesem vorwärts und erleben in ganzer Schärfe den<lb/>
sonderbaren Konflikt, daß der, der ein außerordentlich tüchtiger Arbeiter ist, um<lb/>
dessentwillen noch gar nichts gilt.  Beruf ist aber die stärkste Macht in diesen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0528] Die Jugend und die Sozialdemokratie Vergleichen wir die heranwachsende sozialdemokratische Generation mit der nun rasch zurücktretenden, so fällt der Gegensatz auf. Die Alten waren ihrem Glauben nach Materialisten geworden, „die Verhältnisse machen den Menschen". Aber im Leben zeigten sie, daß sie selbst durch eine tüchtige Erziehung ehrliche und selbständige Menschen waren. In ihren Familien hielten sie auf gute Zucht. Dem Gegner gegenüber waren sie im persönlichen Verkehr offen und ritterlich. Sie konnten auch einmal mutig gegen die Mehrheit stehen. Dem neuen Geschlecht ist der Materialismus zum Charakter geworden. Es wird wirklich das vom Wind der Agitatoren vorwärtsgetriebene unselb¬ ständige Massenvolk. Nachdem unserem Volke erst vom Bürgertum, dann ans der eigenen Mitte gepredigt worden ist, daß es nichts Unbedingtes und Heiliges gibt, beginnt nun die sittliche Selbständigkeit des Charakters zu schwinden. Die sittliche Freiheit des einzelnen ist verhaßt! Kein selbständiges Gewissen ist erlaubt, sondern der Parteiwille muß jeden Willen meistern, entschuldigt alles, verantwortet alles. Da bin ich zum erstenmal im tiefsten Herzen erschrocken vor der Sozialdemokratie, als ich erlebte, daß derselbe Mensch, der freundlich und ritterlich mir begegnet war, wenige Wochen später, offenbar durch eine ihn vorwärtstreibende Mehrheit gezwungen, mich nicht nur angriff, — das war sein gutes Recht —, sondern plötzlich einen leidenschaftlichen, rohen Ton anschlug und Dinge sagte, von denen er wußte, daß sie nicht wahr waren. Wohl tadelten einige andere Sozialdemokraten mit großer Entschlossenheit solche Demagogie. Aber haben diese den nötigen Einfluß? Man muß eines bedenken: Demokratie lebt schnell. Die alten Führer bleiben zwar noch lange auf dem Plan. Aber ihre Zeitgenossen sind schon fast alle verschwunden. Schon das zweite Geschlecht, diejenigen, welche als Jünglinge dem Manne Bebel begeistert lauschten, gehören heute zu den Alten. Mit fünf¬ undvierzig Jahren neigt sich oft schon das Leben eines industriellen Arbeiters einem schnellen Ende zu — Unfall, Krankheit, Siechtum. Und die dies kritische Alter überstehen, bleiben gern zuHaus, sehr oft verbittert gegen die Partei, manchmal noch treu, aber doch in beschaulicher Ruhe. Wer sie besucht, kann vielleicht echte Lebensweisheit hören. Eines kann man von solchen Alten lernen: Sie sind gute Deutsche, aber sie haben innerlich die Versöhnung mit dein neuen Deutschen Reiche nicht gefunden. Die Zeit des Sozialistengesetzes hat ihnen zu bittere Erinnerungen hinterlassen. So konnten sie auch ihren Kindern keine imperialistische Tradition vererben. Da die ohnehin nicht zahlreichen Alten also die Volksversammlung meist nicht lieben, so herrschen hier die Jungen. Wie sind nun diese? Viele begabte Arbeitersöhne setzen, dank der trefflichen Erziehung, die gerade die alten Sozialdemokraten ihren Kindern gegeben haben, ihre Kraft in ihrem Berufe ein, kommen in diesem vorwärts und erleben in ganzer Schärfe den sonderbaren Konflikt, daß der, der ein außerordentlich tüchtiger Arbeiter ist, um dessentwillen noch gar nichts gilt. Beruf ist aber die stärkste Macht in diesen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/528
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/528>, abgerufen am 19.10.2024.