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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Ungarn, Deutschland und Deutschtum

Man kokettiert daher gern ein wenig mit der andersgearteten englischen und
französischen Kultur, um schließlich immer wieder zur deutschen zurückzukehren,
die das Volk und der einzelne nun einmal mit der Muttermilch eingesogen
hat, und deren Elemente integrierende Bestandteile der eigenen magyarischen
Kultur sind. Es handelt sich also um Gefühlsschwankungen, die die Haupt¬
richtung des magyarischen Verhaltens gegenüber dem Deutschtum nicht beein¬
trächtigen. Dies Verhalten ist von der Erkenntnis getragen, daß der
Deutsche wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft politisch
und kulturell die einzige Stütze und Anlehnung für den Magyaren
sein kann und sein wird. So kommt es, daß der gebildete Magyare immer
deutsch kann und heute wieder in sichtlich steigendem Maße Gewicht darauf legt,
es zu können. Hunderte magyarischer Studierender ziehen alljährlich auf deutsche
Hochschulen. Wenn der Magyare reist, ist in neun von zehn Fällen Deutsch¬
land das Ziel. Das deutsche Zeitungswesen, der deutsche Buchhandel würden
ein großes Absatzgebiet verlieren, wollten die Magyaren plötzlich aufhören,
deutsche Blätter und Bücher zu lesen. Allerdings würde dies auch von der
magyarischen Wissenschaft und Literatur auf das heftigste verspürt werden. Mit
einem Wort: es gibt sicherlich kein nichtdeutsches Volk, das sich in so hohem
Maße dem deutschen Einfluß zugänglich zeigt, so eifrig und gelehrig am deutschen
Geistesleben Anteil nimmt wie das magyarische.

Mit Bezug auf die Politik gilt hier dasselbe wie für die Kultur. Die Magyaren
sind entschiedene Anhänger des Dreibundes, das will -- mit Einschränkung -- heißen:
des Bündnisses mit dein Deutschen Reich. Daß es eine Zeit gegeben hat. wo man in
Ungarn den Sieg der Franzosen über die Deutschen herbeisehnte und die lügen¬
haften ersten Siegesberichte aus Paris jubelnd feierte, das klingt heute ganz unglaub¬
lich: es ist eine längst überwundene Verirrung der Volksempfindung, die sich in,
gegebenen Fall gewiß nicht wiederholen würde. Jedenfalls ist schon in dem Jahr-
Zehnt nach 1870 eine gründliche Sinnesänderung des Magyarentums eingetreten,
und der Minister des Äußeren Graf Julius Andrassy. der im Jahre 1879 im
Verein mit Bismarck das deutsch-österreich-ungarische Bündnis schloß, war der
unbedingten Zustimmung seiner Volksgenossen zu dem großen Werk sicher. Schon
vor dreiundzwanzig Jahren, im Februar 1889, konnten zwei Oppositionsführer
des ungarischen Abgeordnetenhauses, Graf Albert Apponyi und Ignaz Helfy,
erklären, daß es. "abgesehen von einzelnen achtungswerten, aber ganz isolierten
Stimmen, keine Parteischattierung in Ungarn gibt, die an dem Bündnis mit
Deutschland nicht festhalten und es nicht als den Kardinalpunkt ihrer Politik
ansehen würde", und "daß sich in Ungarn eine Regierung nicht ein halbes
Jahr halten könnte, die eine von der deutschen Bündnispolitik abweichende
Politik befolgen würde". Heute sind auch die "einzelnen achtungswerten, aber
ganz isolierten Stimmen" verstummt; die Haltung des Deutschen Reiches in der
serbischen Krise im Frühjahr 1909, die den Wert dieses Bundesgenossen mit
so überwältigender Klarheit veranschaulichte, hat sie endgültig zum Schweigen


Ungarn, Deutschland und Deutschtum

Man kokettiert daher gern ein wenig mit der andersgearteten englischen und
französischen Kultur, um schließlich immer wieder zur deutschen zurückzukehren,
die das Volk und der einzelne nun einmal mit der Muttermilch eingesogen
hat, und deren Elemente integrierende Bestandteile der eigenen magyarischen
Kultur sind. Es handelt sich also um Gefühlsschwankungen, die die Haupt¬
richtung des magyarischen Verhaltens gegenüber dem Deutschtum nicht beein¬
trächtigen. Dies Verhalten ist von der Erkenntnis getragen, daß der
Deutsche wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft politisch
und kulturell die einzige Stütze und Anlehnung für den Magyaren
sein kann und sein wird. So kommt es, daß der gebildete Magyare immer
deutsch kann und heute wieder in sichtlich steigendem Maße Gewicht darauf legt,
es zu können. Hunderte magyarischer Studierender ziehen alljährlich auf deutsche
Hochschulen. Wenn der Magyare reist, ist in neun von zehn Fällen Deutsch¬
land das Ziel. Das deutsche Zeitungswesen, der deutsche Buchhandel würden
ein großes Absatzgebiet verlieren, wollten die Magyaren plötzlich aufhören,
deutsche Blätter und Bücher zu lesen. Allerdings würde dies auch von der
magyarischen Wissenschaft und Literatur auf das heftigste verspürt werden. Mit
einem Wort: es gibt sicherlich kein nichtdeutsches Volk, das sich in so hohem
Maße dem deutschen Einfluß zugänglich zeigt, so eifrig und gelehrig am deutschen
Geistesleben Anteil nimmt wie das magyarische.

Mit Bezug auf die Politik gilt hier dasselbe wie für die Kultur. Die Magyaren
sind entschiedene Anhänger des Dreibundes, das will — mit Einschränkung — heißen:
des Bündnisses mit dein Deutschen Reich. Daß es eine Zeit gegeben hat. wo man in
Ungarn den Sieg der Franzosen über die Deutschen herbeisehnte und die lügen¬
haften ersten Siegesberichte aus Paris jubelnd feierte, das klingt heute ganz unglaub¬
lich: es ist eine längst überwundene Verirrung der Volksempfindung, die sich in,
gegebenen Fall gewiß nicht wiederholen würde. Jedenfalls ist schon in dem Jahr-
Zehnt nach 1870 eine gründliche Sinnesänderung des Magyarentums eingetreten,
und der Minister des Äußeren Graf Julius Andrassy. der im Jahre 1879 im
Verein mit Bismarck das deutsch-österreich-ungarische Bündnis schloß, war der
unbedingten Zustimmung seiner Volksgenossen zu dem großen Werk sicher. Schon
vor dreiundzwanzig Jahren, im Februar 1889, konnten zwei Oppositionsführer
des ungarischen Abgeordnetenhauses, Graf Albert Apponyi und Ignaz Helfy,
erklären, daß es. „abgesehen von einzelnen achtungswerten, aber ganz isolierten
Stimmen, keine Parteischattierung in Ungarn gibt, die an dem Bündnis mit
Deutschland nicht festhalten und es nicht als den Kardinalpunkt ihrer Politik
ansehen würde", und „daß sich in Ungarn eine Regierung nicht ein halbes
Jahr halten könnte, die eine von der deutschen Bündnispolitik abweichende
Politik befolgen würde". Heute sind auch die „einzelnen achtungswerten, aber
ganz isolierten Stimmen" verstummt; die Haltung des Deutschen Reiches in der
serbischen Krise im Frühjahr 1909, die den Wert dieses Bundesgenossen mit
so überwältigender Klarheit veranschaulichte, hat sie endgültig zum Schweigen


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[0511] Ungarn, Deutschland und Deutschtum Man kokettiert daher gern ein wenig mit der andersgearteten englischen und französischen Kultur, um schließlich immer wieder zur deutschen zurückzukehren, die das Volk und der einzelne nun einmal mit der Muttermilch eingesogen hat, und deren Elemente integrierende Bestandteile der eigenen magyarischen Kultur sind. Es handelt sich also um Gefühlsschwankungen, die die Haupt¬ richtung des magyarischen Verhaltens gegenüber dem Deutschtum nicht beein¬ trächtigen. Dies Verhalten ist von der Erkenntnis getragen, daß der Deutsche wie in der Vergangenheit, so auch in der Zukunft politisch und kulturell die einzige Stütze und Anlehnung für den Magyaren sein kann und sein wird. So kommt es, daß der gebildete Magyare immer deutsch kann und heute wieder in sichtlich steigendem Maße Gewicht darauf legt, es zu können. Hunderte magyarischer Studierender ziehen alljährlich auf deutsche Hochschulen. Wenn der Magyare reist, ist in neun von zehn Fällen Deutsch¬ land das Ziel. Das deutsche Zeitungswesen, der deutsche Buchhandel würden ein großes Absatzgebiet verlieren, wollten die Magyaren plötzlich aufhören, deutsche Blätter und Bücher zu lesen. Allerdings würde dies auch von der magyarischen Wissenschaft und Literatur auf das heftigste verspürt werden. Mit einem Wort: es gibt sicherlich kein nichtdeutsches Volk, das sich in so hohem Maße dem deutschen Einfluß zugänglich zeigt, so eifrig und gelehrig am deutschen Geistesleben Anteil nimmt wie das magyarische. Mit Bezug auf die Politik gilt hier dasselbe wie für die Kultur. Die Magyaren sind entschiedene Anhänger des Dreibundes, das will — mit Einschränkung — heißen: des Bündnisses mit dein Deutschen Reich. Daß es eine Zeit gegeben hat. wo man in Ungarn den Sieg der Franzosen über die Deutschen herbeisehnte und die lügen¬ haften ersten Siegesberichte aus Paris jubelnd feierte, das klingt heute ganz unglaub¬ lich: es ist eine längst überwundene Verirrung der Volksempfindung, die sich in, gegebenen Fall gewiß nicht wiederholen würde. Jedenfalls ist schon in dem Jahr- Zehnt nach 1870 eine gründliche Sinnesänderung des Magyarentums eingetreten, und der Minister des Äußeren Graf Julius Andrassy. der im Jahre 1879 im Verein mit Bismarck das deutsch-österreich-ungarische Bündnis schloß, war der unbedingten Zustimmung seiner Volksgenossen zu dem großen Werk sicher. Schon vor dreiundzwanzig Jahren, im Februar 1889, konnten zwei Oppositionsführer des ungarischen Abgeordnetenhauses, Graf Albert Apponyi und Ignaz Helfy, erklären, daß es. „abgesehen von einzelnen achtungswerten, aber ganz isolierten Stimmen, keine Parteischattierung in Ungarn gibt, die an dem Bündnis mit Deutschland nicht festhalten und es nicht als den Kardinalpunkt ihrer Politik ansehen würde", und „daß sich in Ungarn eine Regierung nicht ein halbes Jahr halten könnte, die eine von der deutschen Bündnispolitik abweichende Politik befolgen würde". Heute sind auch die „einzelnen achtungswerten, aber ganz isolierten Stimmen" verstummt; die Haltung des Deutschen Reiches in der serbischen Krise im Frühjahr 1909, die den Wert dieses Bundesgenossen mit so überwältigender Klarheit veranschaulichte, hat sie endgültig zum Schweigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/511>, abgerufen am 27.09.2024.