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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Die experimentale Ästhetik

sämtlich einem ungefähr gleichen Niveau ästhetischer Bildung an. Solche Tat¬
sachen geben zu denken und müssen veranlassen, die Grundlagen des ästhetischen
Lehrgebäudes zu revidieren und umzugestalten. Wir werden nicht mehr einfach
zu dekretieren haben, was gefällt und in welchem Grade das geschieht, sondern
müssen mit individuellen Voraussetzungen für die ästhetische Auffassung und
Beurteilung von Gegenständen ausdrücklich rechnen.

Der allgemeinen Gültigkeit der ästhetischen Wissenschaft erwächst daraus gar
keine Schwierigkeit, insofern die Verschiedenheit der ästhetischen Urteile durch eine
entsprechende Verschiedenheit der ästhetischen Subjekte als zureichend erklärt gelten
kann. Nur auf diesen: Wege wird sich auch eine tragfähige Grundlage für die
ästhetischen Theorien und Prinzipien schaffen lassen. Wenn man heute die
gangbarsten ästhetischen Werke über bestimmte Probleme, wie z. B. die Ein¬
fühlung oder den direkten Faktor oder das Wesen des Tragischen und des
Komischen befragt, so wird man alsbald tiefgehende Unterschiede in der Behand¬
lung und in der Beantwortung derartiger Fragen wahrnehmen. Das hat sicherlich
seinen Grund nicht bloß in der individuellen Verschiedenheit der Ästhetiker selbst,
sondern auch darin, daß verschiedene oder verschieden aufgefaßte Gegenstände
beurteilt werden und daß das Verhalten, welches mau ihnen gegenüber ein¬
schlägt, nicht überall das gleiche ist. Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse der
experimentellen Untersuchung, daß die ästhetische Wirkung nicht vom Reiz, vom
objektiven Tatbestande, sondern von dessen Auffassung abhängt. Verstimmungen,
Verzeichnungen, Disharmonien stören den Genuß nicht, wenn sie nicht gemerkt
werden. Zusammenhänge, Beziehungen, Feinheiten der Farbengebung oder
Komposition aber können gleichfalls unwirksam bleiben, sofern sie dem Betrachter
entgehen. Darum bedeutet die objektive Gleichheit der Gegenstände noch nicht,
daß sie die gleiche ästhetische Wirksamkeit ausgeübt habe". Erst auf dem Boden
einer experimentellen Ästhetik wird es möglich sein, solche Unterschiede der Auf¬
fassung nicht wegzuschaffen, sondern genau zu bestimmen und in ihrer Wirk¬
samkeit abzuschätzen. Damit wird dann auch erst die Aussicht sich eröffnen,
eine ästhetische Theorie zu entwickeln, welche sich vou voreiliger Verallgemeinerung
ebensosehr fernhält, wie von prinzipienloser Einzelbeschreibung.

Wir wollen mit dieser Hervorhebung der Lichtseiten eines experimentellen
Verfahrens nicht bestreikn, daß es auch eine andere empirische Methode gibt,
die zu sicheren und wohlbegründeten Ergebnissen führen kann, nämlich die ver¬
gleichende. Fechner hatte von ihr als einer Methode der Verwendung gesprochen,
weil sie darauf beruht, die anerkannt ästhetisch wirksamen, in Verwendung stehenden
Objekte auf ihre Bestandteile zu analysieren und nach einem gesetzmäßigen Ver¬
hältnis zwischen ihnen zu suchen. So kann man beispielsweise fragen, ob das
Metrum eines Gedichts eine nachweisbare Beziehung zu dessen Sinn hat, ob
die Tonarten mit Rücksicht auf den Ausdruck eiuer musikalische" Komposition
gewählt werden, welche "tolle die Symmetrie in der bildenden Kunst spielt u. tgi. in.
Auch von dieser Methode gilt, daß sie jederzeit nachgeprüft werden kann und


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Die experimentale Ästhetik

sämtlich einem ungefähr gleichen Niveau ästhetischer Bildung an. Solche Tat¬
sachen geben zu denken und müssen veranlassen, die Grundlagen des ästhetischen
Lehrgebäudes zu revidieren und umzugestalten. Wir werden nicht mehr einfach
zu dekretieren haben, was gefällt und in welchem Grade das geschieht, sondern
müssen mit individuellen Voraussetzungen für die ästhetische Auffassung und
Beurteilung von Gegenständen ausdrücklich rechnen.

Der allgemeinen Gültigkeit der ästhetischen Wissenschaft erwächst daraus gar
keine Schwierigkeit, insofern die Verschiedenheit der ästhetischen Urteile durch eine
entsprechende Verschiedenheit der ästhetischen Subjekte als zureichend erklärt gelten
kann. Nur auf diesen: Wege wird sich auch eine tragfähige Grundlage für die
ästhetischen Theorien und Prinzipien schaffen lassen. Wenn man heute die
gangbarsten ästhetischen Werke über bestimmte Probleme, wie z. B. die Ein¬
fühlung oder den direkten Faktor oder das Wesen des Tragischen und des
Komischen befragt, so wird man alsbald tiefgehende Unterschiede in der Behand¬
lung und in der Beantwortung derartiger Fragen wahrnehmen. Das hat sicherlich
seinen Grund nicht bloß in der individuellen Verschiedenheit der Ästhetiker selbst,
sondern auch darin, daß verschiedene oder verschieden aufgefaßte Gegenstände
beurteilt werden und daß das Verhalten, welches mau ihnen gegenüber ein¬
schlägt, nicht überall das gleiche ist. Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse der
experimentellen Untersuchung, daß die ästhetische Wirkung nicht vom Reiz, vom
objektiven Tatbestande, sondern von dessen Auffassung abhängt. Verstimmungen,
Verzeichnungen, Disharmonien stören den Genuß nicht, wenn sie nicht gemerkt
werden. Zusammenhänge, Beziehungen, Feinheiten der Farbengebung oder
Komposition aber können gleichfalls unwirksam bleiben, sofern sie dem Betrachter
entgehen. Darum bedeutet die objektive Gleichheit der Gegenstände noch nicht,
daß sie die gleiche ästhetische Wirksamkeit ausgeübt habe». Erst auf dem Boden
einer experimentellen Ästhetik wird es möglich sein, solche Unterschiede der Auf¬
fassung nicht wegzuschaffen, sondern genau zu bestimmen und in ihrer Wirk¬
samkeit abzuschätzen. Damit wird dann auch erst die Aussicht sich eröffnen,
eine ästhetische Theorie zu entwickeln, welche sich vou voreiliger Verallgemeinerung
ebensosehr fernhält, wie von prinzipienloser Einzelbeschreibung.

Wir wollen mit dieser Hervorhebung der Lichtseiten eines experimentellen
Verfahrens nicht bestreikn, daß es auch eine andere empirische Methode gibt,
die zu sicheren und wohlbegründeten Ergebnissen führen kann, nämlich die ver¬
gleichende. Fechner hatte von ihr als einer Methode der Verwendung gesprochen,
weil sie darauf beruht, die anerkannt ästhetisch wirksamen, in Verwendung stehenden
Objekte auf ihre Bestandteile zu analysieren und nach einem gesetzmäßigen Ver¬
hältnis zwischen ihnen zu suchen. So kann man beispielsweise fragen, ob das
Metrum eines Gedichts eine nachweisbare Beziehung zu dessen Sinn hat, ob
die Tonarten mit Rücksicht auf den Ausdruck eiuer musikalische« Komposition
gewählt werden, welche »tolle die Symmetrie in der bildenden Kunst spielt u. tgi. in.
Auch von dieser Methode gilt, daß sie jederzeit nachgeprüft werden kann und


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[0477] Die experimentale Ästhetik sämtlich einem ungefähr gleichen Niveau ästhetischer Bildung an. Solche Tat¬ sachen geben zu denken und müssen veranlassen, die Grundlagen des ästhetischen Lehrgebäudes zu revidieren und umzugestalten. Wir werden nicht mehr einfach zu dekretieren haben, was gefällt und in welchem Grade das geschieht, sondern müssen mit individuellen Voraussetzungen für die ästhetische Auffassung und Beurteilung von Gegenständen ausdrücklich rechnen. Der allgemeinen Gültigkeit der ästhetischen Wissenschaft erwächst daraus gar keine Schwierigkeit, insofern die Verschiedenheit der ästhetischen Urteile durch eine entsprechende Verschiedenheit der ästhetischen Subjekte als zureichend erklärt gelten kann. Nur auf diesen: Wege wird sich auch eine tragfähige Grundlage für die ästhetischen Theorien und Prinzipien schaffen lassen. Wenn man heute die gangbarsten ästhetischen Werke über bestimmte Probleme, wie z. B. die Ein¬ fühlung oder den direkten Faktor oder das Wesen des Tragischen und des Komischen befragt, so wird man alsbald tiefgehende Unterschiede in der Behand¬ lung und in der Beantwortung derartiger Fragen wahrnehmen. Das hat sicherlich seinen Grund nicht bloß in der individuellen Verschiedenheit der Ästhetiker selbst, sondern auch darin, daß verschiedene oder verschieden aufgefaßte Gegenstände beurteilt werden und daß das Verhalten, welches mau ihnen gegenüber ein¬ schlägt, nicht überall das gleiche ist. Es ist eines der wichtigsten Ergebnisse der experimentellen Untersuchung, daß die ästhetische Wirkung nicht vom Reiz, vom objektiven Tatbestande, sondern von dessen Auffassung abhängt. Verstimmungen, Verzeichnungen, Disharmonien stören den Genuß nicht, wenn sie nicht gemerkt werden. Zusammenhänge, Beziehungen, Feinheiten der Farbengebung oder Komposition aber können gleichfalls unwirksam bleiben, sofern sie dem Betrachter entgehen. Darum bedeutet die objektive Gleichheit der Gegenstände noch nicht, daß sie die gleiche ästhetische Wirksamkeit ausgeübt habe». Erst auf dem Boden einer experimentellen Ästhetik wird es möglich sein, solche Unterschiede der Auf¬ fassung nicht wegzuschaffen, sondern genau zu bestimmen und in ihrer Wirk¬ samkeit abzuschätzen. Damit wird dann auch erst die Aussicht sich eröffnen, eine ästhetische Theorie zu entwickeln, welche sich vou voreiliger Verallgemeinerung ebensosehr fernhält, wie von prinzipienloser Einzelbeschreibung. Wir wollen mit dieser Hervorhebung der Lichtseiten eines experimentellen Verfahrens nicht bestreikn, daß es auch eine andere empirische Methode gibt, die zu sicheren und wohlbegründeten Ergebnissen führen kann, nämlich die ver¬ gleichende. Fechner hatte von ihr als einer Methode der Verwendung gesprochen, weil sie darauf beruht, die anerkannt ästhetisch wirksamen, in Verwendung stehenden Objekte auf ihre Bestandteile zu analysieren und nach einem gesetzmäßigen Ver¬ hältnis zwischen ihnen zu suchen. So kann man beispielsweise fragen, ob das Metrum eines Gedichts eine nachweisbare Beziehung zu dessen Sinn hat, ob die Tonarten mit Rücksicht auf den Ausdruck eiuer musikalische« Komposition gewählt werden, welche »tolle die Symmetrie in der bildenden Kunst spielt u. tgi. in. Auch von dieser Methode gilt, daß sie jederzeit nachgeprüft werden kann und Grenzbote>i I 1912 60

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/477>, abgerufen am 29.12.2024.