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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Idealismus und Realismus

eine notwendige Folge seiner Vorliebe für eine Idealwelt. Aber die Gefahr
liegt für den ohne eigentliches Modell arbeitenden Künstler natürlich nahe.
Wie ein großer idealistischer Gestalter dieser Gefahr zu entgehen vermag, zeigt
Schiller als Dramatiker. Aber wie auch an den Größten das Verlassen des
Bodens der Wirklichkeit sich rächen kann, indem Unnatürlichkeiten nicht aus¬
bleiben, das geht hervor aus gewissen Schwächen von Schillers Lyrik und aus
den anatomischen Seltsamkeiten einzelner Figuren Böcklins.

Ganz einig sind übrigens die Kritiker nicht einmal in dieser Frage der
Beurteilung der Unnatur in der Darstellung des idealistischen Künstlers, nament¬
lich wenn die Unnatur als eine beabsichtigte erscheint. Daß die Gestalten
Hodlers vielfach das Mißfallen des Anatomen zu erwecken imstande sind, wird
man wohl allgemein zugeben. Aber in der Einschätzung der vom Künstler
offenbar nicht aus mangelndem Können, sondern mit voller Absicht dargestellten
Naturwidrigkeit gehen die Meinungen doch recht beträchtlich auseinander.

Auf sozialem und politischem Gebiet ist der Idealismus zunächst hervor¬
getreten in kulturphilosophischen Utopien. Diese Darstellungen von Jdealstaaten
wie Platons Republik, Campanellas Sonnenstaat oder des Thomas Morus Schrift
über den besten Staatszustand und ein neues Land Utopien haben mit einem
großen Teil der modernen sozialdemokratischen Literatur das gemeinsam, daß
auf die Darstellung der idealen Gesellschaftsordnung mehr Scharfsinn verwendet
wird als auf die Betrachtung ihrer Durchführbarkeit. Das ist ja der Grundzug
des utopistischen Idealismus, daß er sich um die Realisierbarkeit seiner Projekte
entweder gar nicht kümmert oder mit dem allgemeinen Glauben sich tröstet, das
Ideal oder die Idee werde sich schon durchsetzen. In schärfsten Gegensatz zu
den utopistischen Idealisten auf sozialem und politischem Gebiet treten die erfolg¬
reichen und nüchtern denkenden Staatsmänner und Sozialreformer, die Real¬
politiker vom Schlage eines Bismarck, Männer, die bei niedriger gesteckten Zielen
in einem Jahrzehnt mehr erreichen als die schwärmenden Ideologen mit ihrer
hochgespannter Begeisterung in einem Jahrhundert.

Freilich muß man gerade dem sozialen und politischen Idealismus das Ver¬
dienst zuerkennen, daß er. vielfach den Boden vorbereitet, auf dem Neues erstehen
soll. Man denke nur an die idealistische Bewegung, die der französischen
Revolution vorausgegangen ist, an die geistige Wiedergeburt Preußens vor den
Befreiungskriegen und an den Idealismus derer, die von deutscher Einheit und
Größe träumten, als die Zeit der Reichsgründung noch fern war.

Übrigens ist auch auf sozialem und politischem Gebiet nicht alles, was man
Idealismus nennt, gleichzusetzen mit unpraktischer Schwärmerei und akademischer
Neformbegeisterung. Viele Reformideen, wie die der Abschaffung der Sklaverei,
der Aufhebung der Leibeigenschaft, der Volkssouveränität. der Preßfreiheit, des
Schulzwangs usw., die bei ihrem ersten Auftreten auf unüberwindlichen Wider¬
stand zu stoßen schienen, haben sich als durchaus lebensfähig und durchführbar
erwiesen. Man hat deshalb gewiß nicht das Recht, diejenigen, die in der


Grenzboten I 1912 53
Idealismus und Realismus

eine notwendige Folge seiner Vorliebe für eine Idealwelt. Aber die Gefahr
liegt für den ohne eigentliches Modell arbeitenden Künstler natürlich nahe.
Wie ein großer idealistischer Gestalter dieser Gefahr zu entgehen vermag, zeigt
Schiller als Dramatiker. Aber wie auch an den Größten das Verlassen des
Bodens der Wirklichkeit sich rächen kann, indem Unnatürlichkeiten nicht aus¬
bleiben, das geht hervor aus gewissen Schwächen von Schillers Lyrik und aus
den anatomischen Seltsamkeiten einzelner Figuren Böcklins.

Ganz einig sind übrigens die Kritiker nicht einmal in dieser Frage der
Beurteilung der Unnatur in der Darstellung des idealistischen Künstlers, nament¬
lich wenn die Unnatur als eine beabsichtigte erscheint. Daß die Gestalten
Hodlers vielfach das Mißfallen des Anatomen zu erwecken imstande sind, wird
man wohl allgemein zugeben. Aber in der Einschätzung der vom Künstler
offenbar nicht aus mangelndem Können, sondern mit voller Absicht dargestellten
Naturwidrigkeit gehen die Meinungen doch recht beträchtlich auseinander.

Auf sozialem und politischem Gebiet ist der Idealismus zunächst hervor¬
getreten in kulturphilosophischen Utopien. Diese Darstellungen von Jdealstaaten
wie Platons Republik, Campanellas Sonnenstaat oder des Thomas Morus Schrift
über den besten Staatszustand und ein neues Land Utopien haben mit einem
großen Teil der modernen sozialdemokratischen Literatur das gemeinsam, daß
auf die Darstellung der idealen Gesellschaftsordnung mehr Scharfsinn verwendet
wird als auf die Betrachtung ihrer Durchführbarkeit. Das ist ja der Grundzug
des utopistischen Idealismus, daß er sich um die Realisierbarkeit seiner Projekte
entweder gar nicht kümmert oder mit dem allgemeinen Glauben sich tröstet, das
Ideal oder die Idee werde sich schon durchsetzen. In schärfsten Gegensatz zu
den utopistischen Idealisten auf sozialem und politischem Gebiet treten die erfolg¬
reichen und nüchtern denkenden Staatsmänner und Sozialreformer, die Real¬
politiker vom Schlage eines Bismarck, Männer, die bei niedriger gesteckten Zielen
in einem Jahrzehnt mehr erreichen als die schwärmenden Ideologen mit ihrer
hochgespannter Begeisterung in einem Jahrhundert.

Freilich muß man gerade dem sozialen und politischen Idealismus das Ver¬
dienst zuerkennen, daß er. vielfach den Boden vorbereitet, auf dem Neues erstehen
soll. Man denke nur an die idealistische Bewegung, die der französischen
Revolution vorausgegangen ist, an die geistige Wiedergeburt Preußens vor den
Befreiungskriegen und an den Idealismus derer, die von deutscher Einheit und
Größe träumten, als die Zeit der Reichsgründung noch fern war.

Übrigens ist auch auf sozialem und politischem Gebiet nicht alles, was man
Idealismus nennt, gleichzusetzen mit unpraktischer Schwärmerei und akademischer
Neformbegeisterung. Viele Reformideen, wie die der Abschaffung der Sklaverei,
der Aufhebung der Leibeigenschaft, der Volkssouveränität. der Preßfreiheit, des
Schulzwangs usw., die bei ihrem ersten Auftreten auf unüberwindlichen Wider¬
stand zu stoßen schienen, haben sich als durchaus lebensfähig und durchführbar
erwiesen. Man hat deshalb gewiß nicht das Recht, diejenigen, die in der


Grenzboten I 1912 53
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[0421] Idealismus und Realismus eine notwendige Folge seiner Vorliebe für eine Idealwelt. Aber die Gefahr liegt für den ohne eigentliches Modell arbeitenden Künstler natürlich nahe. Wie ein großer idealistischer Gestalter dieser Gefahr zu entgehen vermag, zeigt Schiller als Dramatiker. Aber wie auch an den Größten das Verlassen des Bodens der Wirklichkeit sich rächen kann, indem Unnatürlichkeiten nicht aus¬ bleiben, das geht hervor aus gewissen Schwächen von Schillers Lyrik und aus den anatomischen Seltsamkeiten einzelner Figuren Böcklins. Ganz einig sind übrigens die Kritiker nicht einmal in dieser Frage der Beurteilung der Unnatur in der Darstellung des idealistischen Künstlers, nament¬ lich wenn die Unnatur als eine beabsichtigte erscheint. Daß die Gestalten Hodlers vielfach das Mißfallen des Anatomen zu erwecken imstande sind, wird man wohl allgemein zugeben. Aber in der Einschätzung der vom Künstler offenbar nicht aus mangelndem Können, sondern mit voller Absicht dargestellten Naturwidrigkeit gehen die Meinungen doch recht beträchtlich auseinander. Auf sozialem und politischem Gebiet ist der Idealismus zunächst hervor¬ getreten in kulturphilosophischen Utopien. Diese Darstellungen von Jdealstaaten wie Platons Republik, Campanellas Sonnenstaat oder des Thomas Morus Schrift über den besten Staatszustand und ein neues Land Utopien haben mit einem großen Teil der modernen sozialdemokratischen Literatur das gemeinsam, daß auf die Darstellung der idealen Gesellschaftsordnung mehr Scharfsinn verwendet wird als auf die Betrachtung ihrer Durchführbarkeit. Das ist ja der Grundzug des utopistischen Idealismus, daß er sich um die Realisierbarkeit seiner Projekte entweder gar nicht kümmert oder mit dem allgemeinen Glauben sich tröstet, das Ideal oder die Idee werde sich schon durchsetzen. In schärfsten Gegensatz zu den utopistischen Idealisten auf sozialem und politischem Gebiet treten die erfolg¬ reichen und nüchtern denkenden Staatsmänner und Sozialreformer, die Real¬ politiker vom Schlage eines Bismarck, Männer, die bei niedriger gesteckten Zielen in einem Jahrzehnt mehr erreichen als die schwärmenden Ideologen mit ihrer hochgespannter Begeisterung in einem Jahrhundert. Freilich muß man gerade dem sozialen und politischen Idealismus das Ver¬ dienst zuerkennen, daß er. vielfach den Boden vorbereitet, auf dem Neues erstehen soll. Man denke nur an die idealistische Bewegung, die der französischen Revolution vorausgegangen ist, an die geistige Wiedergeburt Preußens vor den Befreiungskriegen und an den Idealismus derer, die von deutscher Einheit und Größe träumten, als die Zeit der Reichsgründung noch fern war. Übrigens ist auch auf sozialem und politischem Gebiet nicht alles, was man Idealismus nennt, gleichzusetzen mit unpraktischer Schwärmerei und akademischer Neformbegeisterung. Viele Reformideen, wie die der Abschaffung der Sklaverei, der Aufhebung der Leibeigenschaft, der Volkssouveränität. der Preßfreiheit, des Schulzwangs usw., die bei ihrem ersten Auftreten auf unüberwindlichen Wider¬ stand zu stoßen schienen, haben sich als durchaus lebensfähig und durchführbar erwiesen. Man hat deshalb gewiß nicht das Recht, diejenigen, die in der Grenzboten I 1912 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/421>, abgerufen am 27.09.2024.