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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

einer daist, derschließlichscigt:,Sosolles seinl'"
Nachdem Bismarck diegroße Machtfülle errungen
hat, hält er sie fest. Aber "sein Haß ist elementarer
als sein Wille zur Macht, sein Zorn wilder, seine
Noblesse selbstverständlicher, sein Royalismus
dogmatischer, sein Glaube notwendiger, seine
Problematik tiefer". Gerade diese tiefe proble¬
matische Natur Bismarcks kann aus der aller¬
dings nicht immer einwandfreien Darstellung ")
Ludwigs scharf und klar erkannt werden.

Was ist unter einer solchen Natur zu ver¬
stehen? Goethe meint: "Es gibt Problematische
Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in
der sie sich befinden, und denen keine genug
tut. Daraus entsteht der ungeheure Wider¬
streit, der das Leben ohne Genuß verzehrt"
(Sprüche in Prosa II, 127). Für Bismarck
kommt natürlich das "keiner Lage gewachsen"
so gut wie gar nicht in Betracht. Aber ein
Problematiker darf er deshalb genannt werden,
weil er in "ungeheurem Widerstreit" sein Leben
verzehrte. Er sagte einmal: "Faust klagt über
die zwei Seelen in seiner Brust; ich beherberge
aber eine ganze Menge, die sich zanken. Es
geht da zu, wie in einer Republik. DaS
meiste, was sie sagen, teile ich mit. Es sind
aber auch ganze Provinzen, in die ich nie einen
anderen Menschen hineinsehen lasse." Also ein
förmliches Labyrinth einer problematischen
Seckel Als Sechzigjähriger hob Bismarck im
Gespräche hervor: "Wie kann man glauben,
zum Glück geboren zu seinl Goethe hat
irgendwo gesagt, wenn er alle Sekunden seines
Lebens zusammenrechne, in denen er wirklich
glücklich gewesen, dann käme keine halbe Stunde
heraus. Und Goethe ist fast nur geliebt
worden, selten gehaßt. Und doch hat er am
Leben gehangen wie jeder ordentliche Mensch."

Wie erklärt es sich, daß Bismarck, aus
dessen gewaltsamen Temperamente wie aus
Granit die Funken sprühen, als Autodidakt
ohne jede Übung sofort die feine diplomatische
Kunst aufs meisterhafteste beherrscht? Nur
aus seiner problematischen Natur. Bei einer
solchen sind nämlich vereint Nervosität und
Stärke, Mäßigung und Leidenschaft, Tätig-

[Spaltenumbruch]

keitsdrcmg und Weltflucht, Romantik und alles
Ideologische und Dogmatische verachtender
Realismus, Heiterkeit und Melancholie, Glaube
und Aberglaube, Liebe zu einzelnen Personen
und Verachtung der über- und Gleichgeord¬
neten -- für alle diese Gegensätze finden sich
bei Ludwig recht bezeichnende Tatsachen und
Äußerungen zusammengestellt, die sich leicht
vermehren ließen. Alles kam zusammen, um
Bismarck zum Verächter zu machen: hoher
Stolz, tiefe Skepsis, Melancholie und Welt¬
flucht. So wird er Verächter der Fürsten,
ihrer Gunst und Gaben, der Diplomaten, der
Parlamente und ihrer Phrasen, der kleinen
Eitelkeiten und des großen Ruhmes. Und
dieser Verächter fragt als Greis einmal, ob
nicht vielleicht höher entwickelte Wesen als der
Mensch, der sogenannte Herr der Schöpfung,
in anderen Welten vorhanden wären, denen
er, der Problematiker, nicht angehören dürfte.
Wie oft wünscht Bismarck, Politiker mit Leib
und Seele, auf dem Lande wohnen und in
Wäldern "mit dem fernen Dufte der blauen
Berge" der Jagd obliegen zu können, anstatt
in Großstädten "wie ein Helot" sich der
"Schinderei eines Ministergeschäftes, besonders
des auswärtigen", hingeben zu müssen --
über noch 1888 geht er nicht freiwillig in
seinen Sachsenwald, sondern nimmt Nadelstiche
hin und läßt sich schließlich stürzen. Dieser
tragische Ausgang erklärt sich Psychologisch aus
seiner problematischen Natur, "deren wider¬
streitende Kräfte, früher nur sich korrigierend,
am Ende seiner Bahn sich so völlig lähmten,
daß er, zwischen Autokratie und Enttäuschung,
das Augenmaß für Mächte und Menschen
verlor -- wie jeder Problematiker, ging er
unter am Widerstreit mit sich selbst: nicht
anders als Hamlet oder Wallenstein." Der
Einsiedler, der von "unergründlicher Ver¬
bitterung" erfüllt ist, aber von der Politik
nicht lassen kann, sagt einmal: "Es geht mir
wie einem Wanderer im Schnee, er fängt all¬
mählich an zu erstarren, er sinkt nieder, und
die Schneeflocken bedecken ihn. Es ist ein
angenehmes Lustgefühl" -- Worte, bei denen
man an "Hamlet",") den gelungensten Typus
einer Problematischen Natur, denken muß.

[Ende Spaltensatz]
'") Einzelne Unklarheiten und Übertrei¬
bungen stören; Ausdrücke wie Desillusion und
Monomanie sind nicht jedem "Gebildeten" ver¬
ständlich.
") Unter allen Dramen Shakespeares hat
offenbar "Hamlet" auf Bismarck als auf eine
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

einer daist, derschließlichscigt:,Sosolles seinl'"
Nachdem Bismarck diegroße Machtfülle errungen
hat, hält er sie fest. Aber „sein Haß ist elementarer
als sein Wille zur Macht, sein Zorn wilder, seine
Noblesse selbstverständlicher, sein Royalismus
dogmatischer, sein Glaube notwendiger, seine
Problematik tiefer". Gerade diese tiefe proble¬
matische Natur Bismarcks kann aus der aller¬
dings nicht immer einwandfreien Darstellung ")
Ludwigs scharf und klar erkannt werden.

Was ist unter einer solchen Natur zu ver¬
stehen? Goethe meint: „Es gibt Problematische
Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in
der sie sich befinden, und denen keine genug
tut. Daraus entsteht der ungeheure Wider¬
streit, der das Leben ohne Genuß verzehrt"
(Sprüche in Prosa II, 127). Für Bismarck
kommt natürlich das „keiner Lage gewachsen"
so gut wie gar nicht in Betracht. Aber ein
Problematiker darf er deshalb genannt werden,
weil er in „ungeheurem Widerstreit" sein Leben
verzehrte. Er sagte einmal: „Faust klagt über
die zwei Seelen in seiner Brust; ich beherberge
aber eine ganze Menge, die sich zanken. Es
geht da zu, wie in einer Republik. DaS
meiste, was sie sagen, teile ich mit. Es sind
aber auch ganze Provinzen, in die ich nie einen
anderen Menschen hineinsehen lasse." Also ein
förmliches Labyrinth einer problematischen
Seckel Als Sechzigjähriger hob Bismarck im
Gespräche hervor: „Wie kann man glauben,
zum Glück geboren zu seinl Goethe hat
irgendwo gesagt, wenn er alle Sekunden seines
Lebens zusammenrechne, in denen er wirklich
glücklich gewesen, dann käme keine halbe Stunde
heraus. Und Goethe ist fast nur geliebt
worden, selten gehaßt. Und doch hat er am
Leben gehangen wie jeder ordentliche Mensch."

Wie erklärt es sich, daß Bismarck, aus
dessen gewaltsamen Temperamente wie aus
Granit die Funken sprühen, als Autodidakt
ohne jede Übung sofort die feine diplomatische
Kunst aufs meisterhafteste beherrscht? Nur
aus seiner problematischen Natur. Bei einer
solchen sind nämlich vereint Nervosität und
Stärke, Mäßigung und Leidenschaft, Tätig-

[Spaltenumbruch]

keitsdrcmg und Weltflucht, Romantik und alles
Ideologische und Dogmatische verachtender
Realismus, Heiterkeit und Melancholie, Glaube
und Aberglaube, Liebe zu einzelnen Personen
und Verachtung der über- und Gleichgeord¬
neten — für alle diese Gegensätze finden sich
bei Ludwig recht bezeichnende Tatsachen und
Äußerungen zusammengestellt, die sich leicht
vermehren ließen. Alles kam zusammen, um
Bismarck zum Verächter zu machen: hoher
Stolz, tiefe Skepsis, Melancholie und Welt¬
flucht. So wird er Verächter der Fürsten,
ihrer Gunst und Gaben, der Diplomaten, der
Parlamente und ihrer Phrasen, der kleinen
Eitelkeiten und des großen Ruhmes. Und
dieser Verächter fragt als Greis einmal, ob
nicht vielleicht höher entwickelte Wesen als der
Mensch, der sogenannte Herr der Schöpfung,
in anderen Welten vorhanden wären, denen
er, der Problematiker, nicht angehören dürfte.
Wie oft wünscht Bismarck, Politiker mit Leib
und Seele, auf dem Lande wohnen und in
Wäldern „mit dem fernen Dufte der blauen
Berge" der Jagd obliegen zu können, anstatt
in Großstädten „wie ein Helot" sich der
„Schinderei eines Ministergeschäftes, besonders
des auswärtigen", hingeben zu müssen —
über noch 1888 geht er nicht freiwillig in
seinen Sachsenwald, sondern nimmt Nadelstiche
hin und läßt sich schließlich stürzen. Dieser
tragische Ausgang erklärt sich Psychologisch aus
seiner problematischen Natur, „deren wider¬
streitende Kräfte, früher nur sich korrigierend,
am Ende seiner Bahn sich so völlig lähmten,
daß er, zwischen Autokratie und Enttäuschung,
das Augenmaß für Mächte und Menschen
verlor — wie jeder Problematiker, ging er
unter am Widerstreit mit sich selbst: nicht
anders als Hamlet oder Wallenstein." Der
Einsiedler, der von „unergründlicher Ver¬
bitterung" erfüllt ist, aber von der Politik
nicht lassen kann, sagt einmal: „Es geht mir
wie einem Wanderer im Schnee, er fängt all¬
mählich an zu erstarren, er sinkt nieder, und
die Schneeflocken bedecken ihn. Es ist ein
angenehmes Lustgefühl" — Worte, bei denen
man an „Hamlet",") den gelungensten Typus
einer Problematischen Natur, denken muß.

[Ende Spaltensatz]
'") Einzelne Unklarheiten und Übertrei¬
bungen stören; Ausdrücke wie Desillusion und
Monomanie sind nicht jedem „Gebildeten" ver¬
ständlich.
") Unter allen Dramen Shakespeares hat
offenbar „Hamlet" auf Bismarck als auf eine
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/400>, abgerufen am 29.12.2024.