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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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identisch ist. Vorkommnisse in romanischen Ländern laden nicht zur Nachfolge
ein. Eine starke Verirrung der Dentschtümler ist der neulich in allem Ernste
gemachte Vorschlag, an Stelle des Griechischen auf dem Gymnasium aus
nationalen Gründen das -- Gotische einzuführen! Da dieser Sprache eine
Literatur fast gänzlich fehlt, so würde sich ja der Unterricht gerade auf die
formale Seite der Spracherlernung beschränken müssen, die von unseren Gegnern
so perhorresziert und dem Unterrichtsbetriebe des Gymnasiums zum Vorwurf
gemacht wird! "Ist es nicht deutscher Wein", lesen wir in dem oben an¬
gezogenen Bändchen von Cauer, "der an den Usern des Rheins und der Mosel
wächst? Und doch waren es südliche Trauben, die dorthin verpflanzt wurden."

Diese Beispiele mögen genügen, zu zeigen, wie recht die Schule daran tut,
jeder durchgreifenden und grundsätzlichen Änderung bewährter Einrichtungen
vorsichtig prüfend und wählend gegenüberzutreten und sich nicht dem Zeitgeist,
der oft der Herren eigener Geist ist, blindlings in die Arme zu werfen. Daß
unser Schulwesen darum nicht dem starren System huldigt und kein Petrefakt
geworden ist, hat es im Laufe des letzten Menschenalters hoffentlich zur Genüge
bewiesen. Wie schwillt die pädagogische Literatur täglich mehr an, welche
Reformvorschläge der einschneidendsten und heterogensten Art gehen nicht gerade
von Fachleuten aus! Wie haben sich der Schulbetrieb, das Verhältnis von
Lehrern und Schülern, Stoffauswahl und Methoden, Schulgebäude und Unter¬
richtsmittel verändert und vervollkommnet! Auch wir Lehrer möchten nicht, daß
heute noch Goethes Wort gelte: "Mit Philologen und Mathematikern ist kein
heiteres Verhältnis zu gewinnen"; auch wir möchten zufriedenere Eltern und
fröhliche Schüler -- aber eins können wir bei allem Verständnis für die Kindes¬
seele, bei aller Rücksicht auf veränderte Zeitumstände, neue Lebenswerte und
Lebensziele unseren Jungen nicht ersparen: ernste Arbeit. Schwache Intelligenzen
oder Charaktere, die diese nicht leisten können oder leisten wollen, dürfen dem
System nicht zur Last gelegt werden. Denn -- so lesen wir bei Th. Gautier --
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identisch ist. Vorkommnisse in romanischen Ländern laden nicht zur Nachfolge
ein. Eine starke Verirrung der Dentschtümler ist der neulich in allem Ernste
gemachte Vorschlag, an Stelle des Griechischen auf dem Gymnasium aus
nationalen Gründen das — Gotische einzuführen! Da dieser Sprache eine
Literatur fast gänzlich fehlt, so würde sich ja der Unterricht gerade auf die
formale Seite der Spracherlernung beschränken müssen, die von unseren Gegnern
so perhorresziert und dem Unterrichtsbetriebe des Gymnasiums zum Vorwurf
gemacht wird! „Ist es nicht deutscher Wein", lesen wir in dem oben an¬
gezogenen Bändchen von Cauer, „der an den Usern des Rheins und der Mosel
wächst? Und doch waren es südliche Trauben, die dorthin verpflanzt wurden."

Diese Beispiele mögen genügen, zu zeigen, wie recht die Schule daran tut,
jeder durchgreifenden und grundsätzlichen Änderung bewährter Einrichtungen
vorsichtig prüfend und wählend gegenüberzutreten und sich nicht dem Zeitgeist,
der oft der Herren eigener Geist ist, blindlings in die Arme zu werfen. Daß
unser Schulwesen darum nicht dem starren System huldigt und kein Petrefakt
geworden ist, hat es im Laufe des letzten Menschenalters hoffentlich zur Genüge
bewiesen. Wie schwillt die pädagogische Literatur täglich mehr an, welche
Reformvorschläge der einschneidendsten und heterogensten Art gehen nicht gerade
von Fachleuten aus! Wie haben sich der Schulbetrieb, das Verhältnis von
Lehrern und Schülern, Stoffauswahl und Methoden, Schulgebäude und Unter¬
richtsmittel verändert und vervollkommnet! Auch wir Lehrer möchten nicht, daß
heute noch Goethes Wort gelte: „Mit Philologen und Mathematikern ist kein
heiteres Verhältnis zu gewinnen"; auch wir möchten zufriedenere Eltern und
fröhliche Schüler — aber eins können wir bei allem Verständnis für die Kindes¬
seele, bei aller Rücksicht auf veränderte Zeitumstände, neue Lebenswerte und
Lebensziele unseren Jungen nicht ersparen: ernste Arbeit. Schwache Intelligenzen
oder Charaktere, die diese nicht leisten können oder leisten wollen, dürfen dem
System nicht zur Last gelegt werden. Denn — so lesen wir bei Th. Gautier —
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[0398] identisch ist. Vorkommnisse in romanischen Ländern laden nicht zur Nachfolge ein. Eine starke Verirrung der Dentschtümler ist der neulich in allem Ernste gemachte Vorschlag, an Stelle des Griechischen auf dem Gymnasium aus nationalen Gründen das — Gotische einzuführen! Da dieser Sprache eine Literatur fast gänzlich fehlt, so würde sich ja der Unterricht gerade auf die formale Seite der Spracherlernung beschränken müssen, die von unseren Gegnern so perhorresziert und dem Unterrichtsbetriebe des Gymnasiums zum Vorwurf gemacht wird! „Ist es nicht deutscher Wein", lesen wir in dem oben an¬ gezogenen Bändchen von Cauer, „der an den Usern des Rheins und der Mosel wächst? Und doch waren es südliche Trauben, die dorthin verpflanzt wurden." Diese Beispiele mögen genügen, zu zeigen, wie recht die Schule daran tut, jeder durchgreifenden und grundsätzlichen Änderung bewährter Einrichtungen vorsichtig prüfend und wählend gegenüberzutreten und sich nicht dem Zeitgeist, der oft der Herren eigener Geist ist, blindlings in die Arme zu werfen. Daß unser Schulwesen darum nicht dem starren System huldigt und kein Petrefakt geworden ist, hat es im Laufe des letzten Menschenalters hoffentlich zur Genüge bewiesen. Wie schwillt die pädagogische Literatur täglich mehr an, welche Reformvorschläge der einschneidendsten und heterogensten Art gehen nicht gerade von Fachleuten aus! Wie haben sich der Schulbetrieb, das Verhältnis von Lehrern und Schülern, Stoffauswahl und Methoden, Schulgebäude und Unter¬ richtsmittel verändert und vervollkommnet! Auch wir Lehrer möchten nicht, daß heute noch Goethes Wort gelte: „Mit Philologen und Mathematikern ist kein heiteres Verhältnis zu gewinnen"; auch wir möchten zufriedenere Eltern und fröhliche Schüler — aber eins können wir bei allem Verständnis für die Kindes¬ seele, bei aller Rücksicht auf veränderte Zeitumstände, neue Lebenswerte und Lebensziele unseren Jungen nicht ersparen: ernste Arbeit. Schwache Intelligenzen oder Charaktere, die diese nicht leisten können oder leisten wollen, dürfen dem System nicht zur Last gelegt werden. Denn — so lesen wir bei Th. Gautier — L S8t uns mauvai8e I-M80N Ä äonnsr pour aplariir les me>nwML8, que Je8 Ä3tKmatiqus8 ne Is8 8aur3lent Aravir,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/398>, abgerufen am 19.10.2024.