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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Zeitgeist

Schriftsteller zumal, die Form bedeutet, in die er seine Gedanken gegossen hat,
daß Wort und Wendung, Figur und Tropus, Syntax und Melodie und Rhythmus
sein eigen sind, daß ein Platon nicht nur anderes, sondern anders schreibt als
ein Thukydides, ein Tacitus anders als ein Cicero, daß auch der größte Über¬
setzungskünstler kaum mehr als den materiellen Inhalt des Autors zu vermitteln
vermag -- oder ein neues Werk in seiner Muttersprache schafft.

Das empfinden wir so recht der Übertragung eines antiken Werkes gegen¬
über. Die klassischen Sprachen, für uns Alte der Edelstein des humanistischen
Gymnasiums, sind ja der Stein des Anstoßes unserer Schul- und Weltverbesserer;
sie bilden den letzten Grund der seit einem halben Jahrhundert tobenden Schul¬
kämpfe. Sie gelten als das Unmodernste in dieser modernen Zeit, als das
Unpraktischste, das Widernatürlichste, eine Verschwendung der Volkskraft und des
Nationalvermögens, eine Qual für die Jugend, ein Tummelplatz gelehrter Spitz¬
findigkeiten, eine Quelle von Genüssen für lebensfeindliche Träumer, krampfhaft
verteidigt nur von den in ihrer Existenz bedrohten Philologen. Und wenn wir
den Gegnern die Zeiten des Gymnasialmonopols entgegenhalten, das, aus unserer
klassischen Literaturperiode geboren, den größeren Teil des vorigen Jahrhunderts
hindurch unserm Volke die geistigen Führer geliefert und damit seinen von den
kompetentesten Beurteilern -- ich nenne nur Bismarck -- ausdrücklich anerkannten
Anteil an unserm beispiellosen politischen und wirtschaftlichen Aufschwünge bewiesen
hat, dann heißt's im besten Falle: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.

Aber die Sache erscheint doch in einem anderen Lichte, wenn man, etwa
an der Hand Jmmischs (Das Erbe der Alten) oder Cauers (Das Altertum im
Leben der Gegenwart) den Lebensäußerungen der Antike in unserer Zeit nach¬
geht: ich meine, nicht nur der Laie muß staunen über die Einflüsse und die
Anziehungskraft, die das Altertum auf den mannigfachsten Gebieten der unmittel¬
baren Gegenwart ausübt. So werden denn neuerdings auch ganze Samm¬
lungen von Neuübersetzungen klassischer Autoren auf den Büchermarkt geworfen --
doch wohl, weil sie einem starken Bedürfnis des gebildeten Lesepublikums ent¬
gegenkommen. In Frankreich, wo die Schulreform von 1902 von ihren Urhebern
unbeabsichtigt, aber doch tatsächlich auf Kosten der alten Sprachen vorgenommen
ist, erheben sich jetzt zahlreiche Stimmen auch von Nichtfcichleuten, z. B. aus der
Großindustrie, die das Sinken des Niveaus der allgemeinen Bildung auf die
Vernachlässigung der alten Sprachen zurückführen. Ähnliche Stimmen weisen
in England und Amerika auf die Ewigkeitswerte der Antike hin -- ja, gerade
Amerika sieht in ihr die einzige Rettung vor völliger Vermaterialisierung seiner
Gesellschaft. "Daß man", schreibt Naumann in Graff "Schülerjahren", "später
seine Schulsprachen vergißt, wenn das Leben keine Zeit mehr läßt, sie zu pflegen,
scheint mir nicht so sehr ins Gewicht zu fallen, da es keine bessere Jugend¬
literatur gibt, als die der fertig abgeschlossenen alten Völker. Ich habe zwar
in jüngeren Jahren oft selber an der Richtigkeit dieses Grundgedankens
gezweifelt und versucht, einen Lehrplan mit deutscher und französischer


Schule und Zeitgeist

Schriftsteller zumal, die Form bedeutet, in die er seine Gedanken gegossen hat,
daß Wort und Wendung, Figur und Tropus, Syntax und Melodie und Rhythmus
sein eigen sind, daß ein Platon nicht nur anderes, sondern anders schreibt als
ein Thukydides, ein Tacitus anders als ein Cicero, daß auch der größte Über¬
setzungskünstler kaum mehr als den materiellen Inhalt des Autors zu vermitteln
vermag — oder ein neues Werk in seiner Muttersprache schafft.

Das empfinden wir so recht der Übertragung eines antiken Werkes gegen¬
über. Die klassischen Sprachen, für uns Alte der Edelstein des humanistischen
Gymnasiums, sind ja der Stein des Anstoßes unserer Schul- und Weltverbesserer;
sie bilden den letzten Grund der seit einem halben Jahrhundert tobenden Schul¬
kämpfe. Sie gelten als das Unmodernste in dieser modernen Zeit, als das
Unpraktischste, das Widernatürlichste, eine Verschwendung der Volkskraft und des
Nationalvermögens, eine Qual für die Jugend, ein Tummelplatz gelehrter Spitz¬
findigkeiten, eine Quelle von Genüssen für lebensfeindliche Träumer, krampfhaft
verteidigt nur von den in ihrer Existenz bedrohten Philologen. Und wenn wir
den Gegnern die Zeiten des Gymnasialmonopols entgegenhalten, das, aus unserer
klassischen Literaturperiode geboren, den größeren Teil des vorigen Jahrhunderts
hindurch unserm Volke die geistigen Führer geliefert und damit seinen von den
kompetentesten Beurteilern — ich nenne nur Bismarck — ausdrücklich anerkannten
Anteil an unserm beispiellosen politischen und wirtschaftlichen Aufschwünge bewiesen
hat, dann heißt's im besten Falle: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.

Aber die Sache erscheint doch in einem anderen Lichte, wenn man, etwa
an der Hand Jmmischs (Das Erbe der Alten) oder Cauers (Das Altertum im
Leben der Gegenwart) den Lebensäußerungen der Antike in unserer Zeit nach¬
geht: ich meine, nicht nur der Laie muß staunen über die Einflüsse und die
Anziehungskraft, die das Altertum auf den mannigfachsten Gebieten der unmittel¬
baren Gegenwart ausübt. So werden denn neuerdings auch ganze Samm¬
lungen von Neuübersetzungen klassischer Autoren auf den Büchermarkt geworfen —
doch wohl, weil sie einem starken Bedürfnis des gebildeten Lesepublikums ent¬
gegenkommen. In Frankreich, wo die Schulreform von 1902 von ihren Urhebern
unbeabsichtigt, aber doch tatsächlich auf Kosten der alten Sprachen vorgenommen
ist, erheben sich jetzt zahlreiche Stimmen auch von Nichtfcichleuten, z. B. aus der
Großindustrie, die das Sinken des Niveaus der allgemeinen Bildung auf die
Vernachlässigung der alten Sprachen zurückführen. Ähnliche Stimmen weisen
in England und Amerika auf die Ewigkeitswerte der Antike hin — ja, gerade
Amerika sieht in ihr die einzige Rettung vor völliger Vermaterialisierung seiner
Gesellschaft. „Daß man", schreibt Naumann in Graff „Schülerjahren", „später
seine Schulsprachen vergißt, wenn das Leben keine Zeit mehr läßt, sie zu pflegen,
scheint mir nicht so sehr ins Gewicht zu fallen, da es keine bessere Jugend¬
literatur gibt, als die der fertig abgeschlossenen alten Völker. Ich habe zwar
in jüngeren Jahren oft selber an der Richtigkeit dieses Grundgedankens
gezweifelt und versucht, einen Lehrplan mit deutscher und französischer


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[0396] Schule und Zeitgeist Schriftsteller zumal, die Form bedeutet, in die er seine Gedanken gegossen hat, daß Wort und Wendung, Figur und Tropus, Syntax und Melodie und Rhythmus sein eigen sind, daß ein Platon nicht nur anderes, sondern anders schreibt als ein Thukydides, ein Tacitus anders als ein Cicero, daß auch der größte Über¬ setzungskünstler kaum mehr als den materiellen Inhalt des Autors zu vermitteln vermag — oder ein neues Werk in seiner Muttersprache schafft. Das empfinden wir so recht der Übertragung eines antiken Werkes gegen¬ über. Die klassischen Sprachen, für uns Alte der Edelstein des humanistischen Gymnasiums, sind ja der Stein des Anstoßes unserer Schul- und Weltverbesserer; sie bilden den letzten Grund der seit einem halben Jahrhundert tobenden Schul¬ kämpfe. Sie gelten als das Unmodernste in dieser modernen Zeit, als das Unpraktischste, das Widernatürlichste, eine Verschwendung der Volkskraft und des Nationalvermögens, eine Qual für die Jugend, ein Tummelplatz gelehrter Spitz¬ findigkeiten, eine Quelle von Genüssen für lebensfeindliche Träumer, krampfhaft verteidigt nur von den in ihrer Existenz bedrohten Philologen. Und wenn wir den Gegnern die Zeiten des Gymnasialmonopols entgegenhalten, das, aus unserer klassischen Literaturperiode geboren, den größeren Teil des vorigen Jahrhunderts hindurch unserm Volke die geistigen Führer geliefert und damit seinen von den kompetentesten Beurteilern — ich nenne nur Bismarck — ausdrücklich anerkannten Anteil an unserm beispiellosen politischen und wirtschaftlichen Aufschwünge bewiesen hat, dann heißt's im besten Falle: Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Aber die Sache erscheint doch in einem anderen Lichte, wenn man, etwa an der Hand Jmmischs (Das Erbe der Alten) oder Cauers (Das Altertum im Leben der Gegenwart) den Lebensäußerungen der Antike in unserer Zeit nach¬ geht: ich meine, nicht nur der Laie muß staunen über die Einflüsse und die Anziehungskraft, die das Altertum auf den mannigfachsten Gebieten der unmittel¬ baren Gegenwart ausübt. So werden denn neuerdings auch ganze Samm¬ lungen von Neuübersetzungen klassischer Autoren auf den Büchermarkt geworfen — doch wohl, weil sie einem starken Bedürfnis des gebildeten Lesepublikums ent¬ gegenkommen. In Frankreich, wo die Schulreform von 1902 von ihren Urhebern unbeabsichtigt, aber doch tatsächlich auf Kosten der alten Sprachen vorgenommen ist, erheben sich jetzt zahlreiche Stimmen auch von Nichtfcichleuten, z. B. aus der Großindustrie, die das Sinken des Niveaus der allgemeinen Bildung auf die Vernachlässigung der alten Sprachen zurückführen. Ähnliche Stimmen weisen in England und Amerika auf die Ewigkeitswerte der Antike hin — ja, gerade Amerika sieht in ihr die einzige Rettung vor völliger Vermaterialisierung seiner Gesellschaft. „Daß man", schreibt Naumann in Graff „Schülerjahren", „später seine Schulsprachen vergißt, wenn das Leben keine Zeit mehr läßt, sie zu pflegen, scheint mir nicht so sehr ins Gewicht zu fallen, da es keine bessere Jugend¬ literatur gibt, als die der fertig abgeschlossenen alten Völker. Ich habe zwar in jüngeren Jahren oft selber an der Richtigkeit dieses Grundgedankens gezweifelt und versucht, einen Lehrplan mit deutscher und französischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/396>, abgerufen am 27.09.2024.