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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Prophet oder Künstler?

Illusion, dieses Wahrheitsbeweises, der beim Künstler an die Stelle des
wissenschaftlichen Beweises treten muß, ist die Verlegung des Christusschicksals
nach Schlesien von Bedeutung gewesen. Seine innige Bekanntschaft mit der
Heimat lieferte dem Dichter ungezwungen alle die realistischen Daten, die
er für die Belebung seines Christus brauchte, während die Überlieferung
der Evangelien das realistische Detail nur andeutet und dadurch der
evangelischen Erzählung einen gewissen strengen Ernst und eine gewisse
stilisierte Ferne verleiht.

Dabei stellt die Kritik das überlieferte Material in den Evangelien als von
verschiedenem Werte hin. Es ist ohne weiteres klar, daß nicht nur gewisse
Wunder Christi, sondern auch mancherlei anderes, z. B. sein Verhalten zu seinen
Jüngern, seine Überzeugung und seine doch widerspruchsvollen Angaben über
seine Eigenschaft als Gottessohn der Skepsis begegnen.

Für den Künstler, der diese widerspruchsvollen Daten zu einem ein¬
heitlichen Bilde zusammenschaffen wollte, der die zum Teil naiv-tatsächlichen und
zum andern Teile naiv-abergläubischen und naiv-verfälschten Überlieferungen
reinigen wollte, handelte es sich nun darum, hier nicht nur ein psychologisch¬
erklärendes, sondern auch ein unterscheidendes Prinzip zu finden, genau so wie
der Gelehrte zu einer solchen Arbeit eines kritischen Prinzipes bedarf. Während
der letzte aber ein solches auf dem Wege logisch-denkender Überlegung und der
Tatsachenforschung findet, fand der Künstler es mit Hilfe der Intuition. Er
faßte intuitio den treibenden Grundgedanken im Wesen Christi auf, den Gedanken
von der himmlischen Liebe, der Gemeinschaft und Freiheit im Geist, von der
Überwindung und Nichtigkeit des Fleisches und seiner Not. Er erkennt intuitio
in diesem Gedanken die Wurzel des Christuscharakters und des Christusschicksals
und läßt aus dieser Wurzel den neuen Christus, Emanuel Quint, mit der
Folgerichtigkeit des Naturgesetzes, wie ein natürliches Produkt in seiner schaffenden
Phantasie wieder erstehen. Dabei beweist nun die künstlerische Intuition ihre
Brauchbarkeit als erklärendes und als kritisches Prinzip gegenüber den Evangelien.
Für außerordentlich vieles, was der theologischen Forschung rätselhaft bleibt
und was sie deshalb entweder verwerfen oder gläubig als Tatsache und Wunder
hinnehmen muß, für viele solche Dinge findet der Künstler auf intuitivem Wege
die psychologische Formel, das psychologische Gesetz, und zeigt uns dadurch das.
was wir bisher verspotteten oder "glaubten", mit einem Male von einer ganz
neuen Seite, eingereiht in eine Reihe von Erscheinungen, zu denen es auf
natürliche Weise gehört, unter denen es sich natürlich und unmittelbar einleuchtend
ausnimmt. Als Beispiel diene das Gottesbewußtsein Christi; sein Bewußtsein,
Gottes Sohn zu sein, spricht sich unzweifelhaft in manchen Äußerungen aus,
andere weisen einen gegenteiligen Sinn auf; die verbindende, psychologische
Formel gibt uns Hauptmann.

Er zeigt uns den psychischen Weg, den ein solcher Gedanke zurücklegen
muß, an der Entwicklung des Gottesbewußtseins in Quint und legt uns den


Prophet oder Künstler?

Illusion, dieses Wahrheitsbeweises, der beim Künstler an die Stelle des
wissenschaftlichen Beweises treten muß, ist die Verlegung des Christusschicksals
nach Schlesien von Bedeutung gewesen. Seine innige Bekanntschaft mit der
Heimat lieferte dem Dichter ungezwungen alle die realistischen Daten, die
er für die Belebung seines Christus brauchte, während die Überlieferung
der Evangelien das realistische Detail nur andeutet und dadurch der
evangelischen Erzählung einen gewissen strengen Ernst und eine gewisse
stilisierte Ferne verleiht.

Dabei stellt die Kritik das überlieferte Material in den Evangelien als von
verschiedenem Werte hin. Es ist ohne weiteres klar, daß nicht nur gewisse
Wunder Christi, sondern auch mancherlei anderes, z. B. sein Verhalten zu seinen
Jüngern, seine Überzeugung und seine doch widerspruchsvollen Angaben über
seine Eigenschaft als Gottessohn der Skepsis begegnen.

Für den Künstler, der diese widerspruchsvollen Daten zu einem ein¬
heitlichen Bilde zusammenschaffen wollte, der die zum Teil naiv-tatsächlichen und
zum andern Teile naiv-abergläubischen und naiv-verfälschten Überlieferungen
reinigen wollte, handelte es sich nun darum, hier nicht nur ein psychologisch¬
erklärendes, sondern auch ein unterscheidendes Prinzip zu finden, genau so wie
der Gelehrte zu einer solchen Arbeit eines kritischen Prinzipes bedarf. Während
der letzte aber ein solches auf dem Wege logisch-denkender Überlegung und der
Tatsachenforschung findet, fand der Künstler es mit Hilfe der Intuition. Er
faßte intuitio den treibenden Grundgedanken im Wesen Christi auf, den Gedanken
von der himmlischen Liebe, der Gemeinschaft und Freiheit im Geist, von der
Überwindung und Nichtigkeit des Fleisches und seiner Not. Er erkennt intuitio
in diesem Gedanken die Wurzel des Christuscharakters und des Christusschicksals
und läßt aus dieser Wurzel den neuen Christus, Emanuel Quint, mit der
Folgerichtigkeit des Naturgesetzes, wie ein natürliches Produkt in seiner schaffenden
Phantasie wieder erstehen. Dabei beweist nun die künstlerische Intuition ihre
Brauchbarkeit als erklärendes und als kritisches Prinzip gegenüber den Evangelien.
Für außerordentlich vieles, was der theologischen Forschung rätselhaft bleibt
und was sie deshalb entweder verwerfen oder gläubig als Tatsache und Wunder
hinnehmen muß, für viele solche Dinge findet der Künstler auf intuitivem Wege
die psychologische Formel, das psychologische Gesetz, und zeigt uns dadurch das.
was wir bisher verspotteten oder „glaubten", mit einem Male von einer ganz
neuen Seite, eingereiht in eine Reihe von Erscheinungen, zu denen es auf
natürliche Weise gehört, unter denen es sich natürlich und unmittelbar einleuchtend
ausnimmt. Als Beispiel diene das Gottesbewußtsein Christi; sein Bewußtsein,
Gottes Sohn zu sein, spricht sich unzweifelhaft in manchen Äußerungen aus,
andere weisen einen gegenteiligen Sinn auf; die verbindende, psychologische
Formel gibt uns Hauptmann.

Er zeigt uns den psychischen Weg, den ein solcher Gedanke zurücklegen
muß, an der Entwicklung des Gottesbewußtseins in Quint und legt uns den


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[0383] Prophet oder Künstler? Illusion, dieses Wahrheitsbeweises, der beim Künstler an die Stelle des wissenschaftlichen Beweises treten muß, ist die Verlegung des Christusschicksals nach Schlesien von Bedeutung gewesen. Seine innige Bekanntschaft mit der Heimat lieferte dem Dichter ungezwungen alle die realistischen Daten, die er für die Belebung seines Christus brauchte, während die Überlieferung der Evangelien das realistische Detail nur andeutet und dadurch der evangelischen Erzählung einen gewissen strengen Ernst und eine gewisse stilisierte Ferne verleiht. Dabei stellt die Kritik das überlieferte Material in den Evangelien als von verschiedenem Werte hin. Es ist ohne weiteres klar, daß nicht nur gewisse Wunder Christi, sondern auch mancherlei anderes, z. B. sein Verhalten zu seinen Jüngern, seine Überzeugung und seine doch widerspruchsvollen Angaben über seine Eigenschaft als Gottessohn der Skepsis begegnen. Für den Künstler, der diese widerspruchsvollen Daten zu einem ein¬ heitlichen Bilde zusammenschaffen wollte, der die zum Teil naiv-tatsächlichen und zum andern Teile naiv-abergläubischen und naiv-verfälschten Überlieferungen reinigen wollte, handelte es sich nun darum, hier nicht nur ein psychologisch¬ erklärendes, sondern auch ein unterscheidendes Prinzip zu finden, genau so wie der Gelehrte zu einer solchen Arbeit eines kritischen Prinzipes bedarf. Während der letzte aber ein solches auf dem Wege logisch-denkender Überlegung und der Tatsachenforschung findet, fand der Künstler es mit Hilfe der Intuition. Er faßte intuitio den treibenden Grundgedanken im Wesen Christi auf, den Gedanken von der himmlischen Liebe, der Gemeinschaft und Freiheit im Geist, von der Überwindung und Nichtigkeit des Fleisches und seiner Not. Er erkennt intuitio in diesem Gedanken die Wurzel des Christuscharakters und des Christusschicksals und läßt aus dieser Wurzel den neuen Christus, Emanuel Quint, mit der Folgerichtigkeit des Naturgesetzes, wie ein natürliches Produkt in seiner schaffenden Phantasie wieder erstehen. Dabei beweist nun die künstlerische Intuition ihre Brauchbarkeit als erklärendes und als kritisches Prinzip gegenüber den Evangelien. Für außerordentlich vieles, was der theologischen Forschung rätselhaft bleibt und was sie deshalb entweder verwerfen oder gläubig als Tatsache und Wunder hinnehmen muß, für viele solche Dinge findet der Künstler auf intuitivem Wege die psychologische Formel, das psychologische Gesetz, und zeigt uns dadurch das. was wir bisher verspotteten oder „glaubten", mit einem Male von einer ganz neuen Seite, eingereiht in eine Reihe von Erscheinungen, zu denen es auf natürliche Weise gehört, unter denen es sich natürlich und unmittelbar einleuchtend ausnimmt. Als Beispiel diene das Gottesbewußtsein Christi; sein Bewußtsein, Gottes Sohn zu sein, spricht sich unzweifelhaft in manchen Äußerungen aus, andere weisen einen gegenteiligen Sinn auf; die verbindende, psychologische Formel gibt uns Hauptmann. Er zeigt uns den psychischen Weg, den ein solcher Gedanke zurücklegen muß, an der Entwicklung des Gottesbewußtseins in Quint und legt uns den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/383>, abgerufen am 27.09.2024.