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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

ja nur in einem Föderativverhältnis steht, mehr und mehr auch zu innerlichen,
bewußten und erklärten Anhängern seiner Lehre zu machen. Bis zu einem
gewissen Grade ist ihm das ja schon gelungen. Obwohl die Gewerkschaften als
solche und heute auch noch die Mehrzahl der einzelnen Gewerkschaftler ein
Bekenntnis zum Sozialismus ablehnen, und obwohl ein solches Bekenntnis aus¬
drücklich nicht zu den Erfordernissen für die Mitgliedschaft bei der Arbeiterpartei
gehört, haben die Gewerkschaften sich doch praktisch schon auf einen sozialistischen
Boden gestellt, indem sie für einen Beschluß stimmten, durch den die Arbeiter¬
partei im Januar 1908 als ihr Ziel erklärte:

"Die Sozialisiern"", der Produktionsmittel, die Kontrolle über Verteilung und Austausch
der Güter im Interesse der Gesamtheit in einem demokratischen Staat und die vollständige
Befreiung der Arbeit von der Herrschaft des Kapitals und der Grundherren, zugleich mit der
Aufrichtung sozialer und wirtschaftlicher Gleichheit zwischen den Geschlechtern."

Trotzdem sind, wie gesagt, weite Gewerkschaftskreise ehrlich der Meinung,
daß sie nicht Sozialisten sind. Daß sie es doch sind, davon diese Kreise zu
überzeugen, wird sich der organisierte Sozialismus jetzt besonders angelegen
sein lassen. Er wird aber gleichzeitig auch versuchen, die Arbeiter außerhalb
der Gewerkschaften mehr, als bisher gelungen ist, an sich heranzuziehen, ebenso
Gruppen, die sich nicht zu den Arbeitern zählen, aber doch auch zum Proletariat
im Sinne von Marx gehören. Diese Schichten zählten zum Teil bis heute
deshalb nicht, weil sie kein Wahlrecht hatten. Je näher aber das wirkliche
allgemeine Wahlrecht rückt, desto mehr wird der organisierte Sozialismus sich
für sie interessieren.

Damit kommt man zu der Frage, welche politischen Ziele der Sozialismus
in England in der nächsten Zeit verfolgen wird. Diese Frage hängt aufs engste
mit der anderen zusammen, wie sich sein Verhältnis zur liberalen Partei gestalten
wird. Das aber wiederum bestimmt sich danach, inwieweit die Liberalen den:
Sozialismus Zugeständnisse machen.

Die Stellung der Arbeiterpartei zur liberalen Negierung ist heute u priori
eine andere als im Parlament 1906 bis 1909. Damals brachte sie ihre Wünsche
vor und die Regierung befand nach Gutdünken, wenn auch stark unter dem
Eindrucke, daß mit dem neuen Faktor sehr gerechnet werden müsse. Seit dem
Januar 1910 ist die Arbeiterpartei eine der Stützen der Regierung. Das ist
sie nicht in dem Sinne, als stütze sich eine Koalitionsregierung auf sie als auf
eine der koalierten Parteien. Die Sprecher der Arbeiterpartei werden vielmehr
nicht müde, immer und überall zu erklären, daß die Partei der Regierung völlig
unabhängig gegenüberstehe, daß sie keineswegs auf die Regierungspolitik schlechthin
Rücksicht nehme, sondern daß sie nur einzelne Regierungsmaßnahmen kenne und
diese je nach Befund annehme oder ablehne. Das ist ja wohl die Absicht.
Aber das Verhältnis der Arbeiterpartei zur liberalen Partei ist doch kein so
einfaches, wie es danach den Anschein hat. Wenn die Arbeiterpartei keine andere
Politik hätte als die, abzuwarten, was die Regierung unternimmt und darin


Der Sozialismus in England

ja nur in einem Föderativverhältnis steht, mehr und mehr auch zu innerlichen,
bewußten und erklärten Anhängern seiner Lehre zu machen. Bis zu einem
gewissen Grade ist ihm das ja schon gelungen. Obwohl die Gewerkschaften als
solche und heute auch noch die Mehrzahl der einzelnen Gewerkschaftler ein
Bekenntnis zum Sozialismus ablehnen, und obwohl ein solches Bekenntnis aus¬
drücklich nicht zu den Erfordernissen für die Mitgliedschaft bei der Arbeiterpartei
gehört, haben die Gewerkschaften sich doch praktisch schon auf einen sozialistischen
Boden gestellt, indem sie für einen Beschluß stimmten, durch den die Arbeiter¬
partei im Januar 1908 als ihr Ziel erklärte:

„Die Sozialisiern»«, der Produktionsmittel, die Kontrolle über Verteilung und Austausch
der Güter im Interesse der Gesamtheit in einem demokratischen Staat und die vollständige
Befreiung der Arbeit von der Herrschaft des Kapitals und der Grundherren, zugleich mit der
Aufrichtung sozialer und wirtschaftlicher Gleichheit zwischen den Geschlechtern."

Trotzdem sind, wie gesagt, weite Gewerkschaftskreise ehrlich der Meinung,
daß sie nicht Sozialisten sind. Daß sie es doch sind, davon diese Kreise zu
überzeugen, wird sich der organisierte Sozialismus jetzt besonders angelegen
sein lassen. Er wird aber gleichzeitig auch versuchen, die Arbeiter außerhalb
der Gewerkschaften mehr, als bisher gelungen ist, an sich heranzuziehen, ebenso
Gruppen, die sich nicht zu den Arbeitern zählen, aber doch auch zum Proletariat
im Sinne von Marx gehören. Diese Schichten zählten zum Teil bis heute
deshalb nicht, weil sie kein Wahlrecht hatten. Je näher aber das wirkliche
allgemeine Wahlrecht rückt, desto mehr wird der organisierte Sozialismus sich
für sie interessieren.

Damit kommt man zu der Frage, welche politischen Ziele der Sozialismus
in England in der nächsten Zeit verfolgen wird. Diese Frage hängt aufs engste
mit der anderen zusammen, wie sich sein Verhältnis zur liberalen Partei gestalten
wird. Das aber wiederum bestimmt sich danach, inwieweit die Liberalen den:
Sozialismus Zugeständnisse machen.

Die Stellung der Arbeiterpartei zur liberalen Negierung ist heute u priori
eine andere als im Parlament 1906 bis 1909. Damals brachte sie ihre Wünsche
vor und die Regierung befand nach Gutdünken, wenn auch stark unter dem
Eindrucke, daß mit dem neuen Faktor sehr gerechnet werden müsse. Seit dem
Januar 1910 ist die Arbeiterpartei eine der Stützen der Regierung. Das ist
sie nicht in dem Sinne, als stütze sich eine Koalitionsregierung auf sie als auf
eine der koalierten Parteien. Die Sprecher der Arbeiterpartei werden vielmehr
nicht müde, immer und überall zu erklären, daß die Partei der Regierung völlig
unabhängig gegenüberstehe, daß sie keineswegs auf die Regierungspolitik schlechthin
Rücksicht nehme, sondern daß sie nur einzelne Regierungsmaßnahmen kenne und
diese je nach Befund annehme oder ablehne. Das ist ja wohl die Absicht.
Aber das Verhältnis der Arbeiterpartei zur liberalen Partei ist doch kein so
einfaches, wie es danach den Anschein hat. Wenn die Arbeiterpartei keine andere
Politik hätte als die, abzuwarten, was die Regierung unternimmt und darin


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[0336] Der Sozialismus in England ja nur in einem Föderativverhältnis steht, mehr und mehr auch zu innerlichen, bewußten und erklärten Anhängern seiner Lehre zu machen. Bis zu einem gewissen Grade ist ihm das ja schon gelungen. Obwohl die Gewerkschaften als solche und heute auch noch die Mehrzahl der einzelnen Gewerkschaftler ein Bekenntnis zum Sozialismus ablehnen, und obwohl ein solches Bekenntnis aus¬ drücklich nicht zu den Erfordernissen für die Mitgliedschaft bei der Arbeiterpartei gehört, haben die Gewerkschaften sich doch praktisch schon auf einen sozialistischen Boden gestellt, indem sie für einen Beschluß stimmten, durch den die Arbeiter¬ partei im Januar 1908 als ihr Ziel erklärte: „Die Sozialisiern»«, der Produktionsmittel, die Kontrolle über Verteilung und Austausch der Güter im Interesse der Gesamtheit in einem demokratischen Staat und die vollständige Befreiung der Arbeit von der Herrschaft des Kapitals und der Grundherren, zugleich mit der Aufrichtung sozialer und wirtschaftlicher Gleichheit zwischen den Geschlechtern." Trotzdem sind, wie gesagt, weite Gewerkschaftskreise ehrlich der Meinung, daß sie nicht Sozialisten sind. Daß sie es doch sind, davon diese Kreise zu überzeugen, wird sich der organisierte Sozialismus jetzt besonders angelegen sein lassen. Er wird aber gleichzeitig auch versuchen, die Arbeiter außerhalb der Gewerkschaften mehr, als bisher gelungen ist, an sich heranzuziehen, ebenso Gruppen, die sich nicht zu den Arbeitern zählen, aber doch auch zum Proletariat im Sinne von Marx gehören. Diese Schichten zählten zum Teil bis heute deshalb nicht, weil sie kein Wahlrecht hatten. Je näher aber das wirkliche allgemeine Wahlrecht rückt, desto mehr wird der organisierte Sozialismus sich für sie interessieren. Damit kommt man zu der Frage, welche politischen Ziele der Sozialismus in England in der nächsten Zeit verfolgen wird. Diese Frage hängt aufs engste mit der anderen zusammen, wie sich sein Verhältnis zur liberalen Partei gestalten wird. Das aber wiederum bestimmt sich danach, inwieweit die Liberalen den: Sozialismus Zugeständnisse machen. Die Stellung der Arbeiterpartei zur liberalen Negierung ist heute u priori eine andere als im Parlament 1906 bis 1909. Damals brachte sie ihre Wünsche vor und die Regierung befand nach Gutdünken, wenn auch stark unter dem Eindrucke, daß mit dem neuen Faktor sehr gerechnet werden müsse. Seit dem Januar 1910 ist die Arbeiterpartei eine der Stützen der Regierung. Das ist sie nicht in dem Sinne, als stütze sich eine Koalitionsregierung auf sie als auf eine der koalierten Parteien. Die Sprecher der Arbeiterpartei werden vielmehr nicht müde, immer und überall zu erklären, daß die Partei der Regierung völlig unabhängig gegenüberstehe, daß sie keineswegs auf die Regierungspolitik schlechthin Rücksicht nehme, sondern daß sie nur einzelne Regierungsmaßnahmen kenne und diese je nach Befund annehme oder ablehne. Das ist ja wohl die Absicht. Aber das Verhältnis der Arbeiterpartei zur liberalen Partei ist doch kein so einfaches, wie es danach den Anschein hat. Wenn die Arbeiterpartei keine andere Politik hätte als die, abzuwarten, was die Regierung unternimmt und darin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/336>, abgerufen am 27.09.2024.