Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

Jungen ihre Mützen, sagten kein Wort und kamen niemals wieder. Zweierlei
war hier verfehlt: erstens, Jungen essen zwar gern Apfelreis, aber das lassen
sie nicht gern merken, und zweitens, bei ihnen zu Hause denkt niemand an
Kaisers Geburtstag. Nun ist gerade ihre Opposition gereizt. Jetzt wollen sie
zeigen, daß sie doch auch Charakter haben.

Also so geht es nicht. Aber es geht.

Wer es unternimmt, muß die LebensverlMnisse der Jungen kennen.
Sie haben meist sehr wenig freie Zeit. Wochenabends sind sie nur zu später
Stunde, zum Teil zu sehr später Stunde frei. Man kann mit ihnen allenfalls
turnen oder lesen.

Es hat mich oft in meinem Gewissen beunruhigt, daß die Jungen, die
abends überhaupt zu haben waren, erst um 9 oder 9^ Uhr erscheinend, kaum
vor 11 Uhr ins Bett kamen, also zu wenig Zeit zum Schlaf behielten. Ander¬
seits zeigen diese stets in Bewegung und Tätigkeit befindlichen Jungen sich wenig
empfänglich für geschlechtliche Verführung und überhaupt gut gewappnet gegen
die tausendfachen Reizungen der Großstadt.

In wenigen Sommerwochen ist es vielleicht noch möglich, in der Abend¬
dämmerung im Freien zu spielen. Sonntags morgens müssen viele Jungen in
die Gewerbeschule oder ins Geschäft. Und müssen sie das nicht, so haben sie
doch ihr Zeug instant zu setzen und sind auch manchmal in der elterlichen
Wohnung zu mancherlei Arbeit nötig. So bleibt nur der Sonntag nachmittag
von 2 oder 3 Uhr an frühestens. Verkäufer in Läden werden oft erst um
5 Uhr frei sein. Da kann man aus der Großstadt nicht mehr hinaus und ins
Freie kommen. Selbst auf entferntere Spielplätze sind sehr viele Jungen nicht
zu bringen. Man muß hier mit der, nur in jahrelanger Arbeit zu überwin¬
denden Schlaffheit sehr vieler Jungen rechnen. Vor allem aber soll nicht ver¬
gessen werden, daß auf diesen Jungen vom vierzehnten Jahre an die Woche
über und auch noch in so mancher Sonntagsstunde das unerbittliche Muß der
Arbeit liegt. Gibt's bei der Arbeit auch manchen Spaß und manche Bummel¬
stunde, freie Zeit für sich selbst kennen die Jungen kaum. Es ist eben nur der
Sonntag nachmittag. Also ist die Neigung sich fest zu binden, mit Recht nur
gering. Und da ist es ein sehr bedenkliches Mittel, die sportliche Leidenschaft
zu wecken, um den Mangel an Energie in diesen kurzen Freistunden um jeden
Preis zu beseitigen! Sehr viele (viel mehr als in höheren Schulen) sind
schwächlich, unterernährt, nervös. Diese müssen sozusagen langsam herangewöhnt
werden. Man sollte meinen, ein Wintermarsch von sieben bis acht Stunden
bei leichtem Frost mit Rast im Freien müßte doch möglich sein. Ich habe mich
überzeugt, daß es für manche zu viel ist. Sie müssen zwischendurch eine halbe
Stunde in einer warmen Stube ausruhen und etwa eine Tasse warmen Kaffee
haben. Wanderungen kann man überhaupt nur in längeren Zwischenräumen
unternehmen. Die Jungen müssen sich für den ganzen Sonntag frei machen
können. Im Frühjahr halte ich mit meinen Unterführern mehrfach Besprechungen,


Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?

Jungen ihre Mützen, sagten kein Wort und kamen niemals wieder. Zweierlei
war hier verfehlt: erstens, Jungen essen zwar gern Apfelreis, aber das lassen
sie nicht gern merken, und zweitens, bei ihnen zu Hause denkt niemand an
Kaisers Geburtstag. Nun ist gerade ihre Opposition gereizt. Jetzt wollen sie
zeigen, daß sie doch auch Charakter haben.

Also so geht es nicht. Aber es geht.

Wer es unternimmt, muß die LebensverlMnisse der Jungen kennen.
Sie haben meist sehr wenig freie Zeit. Wochenabends sind sie nur zu später
Stunde, zum Teil zu sehr später Stunde frei. Man kann mit ihnen allenfalls
turnen oder lesen.

Es hat mich oft in meinem Gewissen beunruhigt, daß die Jungen, die
abends überhaupt zu haben waren, erst um 9 oder 9^ Uhr erscheinend, kaum
vor 11 Uhr ins Bett kamen, also zu wenig Zeit zum Schlaf behielten. Ander¬
seits zeigen diese stets in Bewegung und Tätigkeit befindlichen Jungen sich wenig
empfänglich für geschlechtliche Verführung und überhaupt gut gewappnet gegen
die tausendfachen Reizungen der Großstadt.

In wenigen Sommerwochen ist es vielleicht noch möglich, in der Abend¬
dämmerung im Freien zu spielen. Sonntags morgens müssen viele Jungen in
die Gewerbeschule oder ins Geschäft. Und müssen sie das nicht, so haben sie
doch ihr Zeug instant zu setzen und sind auch manchmal in der elterlichen
Wohnung zu mancherlei Arbeit nötig. So bleibt nur der Sonntag nachmittag
von 2 oder 3 Uhr an frühestens. Verkäufer in Läden werden oft erst um
5 Uhr frei sein. Da kann man aus der Großstadt nicht mehr hinaus und ins
Freie kommen. Selbst auf entferntere Spielplätze sind sehr viele Jungen nicht
zu bringen. Man muß hier mit der, nur in jahrelanger Arbeit zu überwin¬
denden Schlaffheit sehr vieler Jungen rechnen. Vor allem aber soll nicht ver¬
gessen werden, daß auf diesen Jungen vom vierzehnten Jahre an die Woche
über und auch noch in so mancher Sonntagsstunde das unerbittliche Muß der
Arbeit liegt. Gibt's bei der Arbeit auch manchen Spaß und manche Bummel¬
stunde, freie Zeit für sich selbst kennen die Jungen kaum. Es ist eben nur der
Sonntag nachmittag. Also ist die Neigung sich fest zu binden, mit Recht nur
gering. Und da ist es ein sehr bedenkliches Mittel, die sportliche Leidenschaft
zu wecken, um den Mangel an Energie in diesen kurzen Freistunden um jeden
Preis zu beseitigen! Sehr viele (viel mehr als in höheren Schulen) sind
schwächlich, unterernährt, nervös. Diese müssen sozusagen langsam herangewöhnt
werden. Man sollte meinen, ein Wintermarsch von sieben bis acht Stunden
bei leichtem Frost mit Rast im Freien müßte doch möglich sein. Ich habe mich
überzeugt, daß es für manche zu viel ist. Sie müssen zwischendurch eine halbe
Stunde in einer warmen Stube ausruhen und etwa eine Tasse warmen Kaffee
haben. Wanderungen kann man überhaupt nur in längeren Zwischenräumen
unternehmen. Die Jungen müssen sich für den ganzen Sonntag frei machen
können. Im Frühjahr halte ich mit meinen Unterführern mehrfach Besprechungen,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0033" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320450"/>
          <fw type="header" place="top"> Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_71" prev="#ID_70"> Jungen ihre Mützen, sagten kein Wort und kamen niemals wieder. Zweierlei<lb/>
war hier verfehlt: erstens, Jungen essen zwar gern Apfelreis, aber das lassen<lb/>
sie nicht gern merken, und zweitens, bei ihnen zu Hause denkt niemand an<lb/>
Kaisers Geburtstag. Nun ist gerade ihre Opposition gereizt. Jetzt wollen sie<lb/>
zeigen, daß sie doch auch Charakter haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_72"> Also so geht es nicht.  Aber es geht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_73"> Wer es unternimmt, muß die LebensverlMnisse der Jungen kennen.<lb/>
Sie haben meist sehr wenig freie Zeit. Wochenabends sind sie nur zu später<lb/>
Stunde, zum Teil zu sehr später Stunde frei. Man kann mit ihnen allenfalls<lb/>
turnen oder lesen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_74"> Es hat mich oft in meinem Gewissen beunruhigt, daß die Jungen, die<lb/>
abends überhaupt zu haben waren, erst um 9 oder 9^ Uhr erscheinend, kaum<lb/>
vor 11 Uhr ins Bett kamen, also zu wenig Zeit zum Schlaf behielten. Ander¬<lb/>
seits zeigen diese stets in Bewegung und Tätigkeit befindlichen Jungen sich wenig<lb/>
empfänglich für geschlechtliche Verführung und überhaupt gut gewappnet gegen<lb/>
die tausendfachen Reizungen der Großstadt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_75" next="#ID_76"> In wenigen Sommerwochen ist es vielleicht noch möglich, in der Abend¬<lb/>
dämmerung im Freien zu spielen. Sonntags morgens müssen viele Jungen in<lb/>
die Gewerbeschule oder ins Geschäft. Und müssen sie das nicht, so haben sie<lb/>
doch ihr Zeug instant zu setzen und sind auch manchmal in der elterlichen<lb/>
Wohnung zu mancherlei Arbeit nötig. So bleibt nur der Sonntag nachmittag<lb/>
von 2 oder 3 Uhr an frühestens. Verkäufer in Läden werden oft erst um<lb/>
5 Uhr frei sein. Da kann man aus der Großstadt nicht mehr hinaus und ins<lb/>
Freie kommen. Selbst auf entferntere Spielplätze sind sehr viele Jungen nicht<lb/>
zu bringen. Man muß hier mit der, nur in jahrelanger Arbeit zu überwin¬<lb/>
denden Schlaffheit sehr vieler Jungen rechnen. Vor allem aber soll nicht ver¬<lb/>
gessen werden, daß auf diesen Jungen vom vierzehnten Jahre an die Woche<lb/>
über und auch noch in so mancher Sonntagsstunde das unerbittliche Muß der<lb/>
Arbeit liegt. Gibt's bei der Arbeit auch manchen Spaß und manche Bummel¬<lb/>
stunde, freie Zeit für sich selbst kennen die Jungen kaum. Es ist eben nur der<lb/>
Sonntag nachmittag. Also ist die Neigung sich fest zu binden, mit Recht nur<lb/>
gering. Und da ist es ein sehr bedenkliches Mittel, die sportliche Leidenschaft<lb/>
zu wecken, um den Mangel an Energie in diesen kurzen Freistunden um jeden<lb/>
Preis zu beseitigen! Sehr viele (viel mehr als in höheren Schulen) sind<lb/>
schwächlich, unterernährt, nervös. Diese müssen sozusagen langsam herangewöhnt<lb/>
werden. Man sollte meinen, ein Wintermarsch von sieben bis acht Stunden<lb/>
bei leichtem Frost mit Rast im Freien müßte doch möglich sein. Ich habe mich<lb/>
überzeugt, daß es für manche zu viel ist. Sie müssen zwischendurch eine halbe<lb/>
Stunde in einer warmen Stube ausruhen und etwa eine Tasse warmen Kaffee<lb/>
haben. Wanderungen kann man überhaupt nur in längeren Zwischenräumen<lb/>
unternehmen. Die Jungen müssen sich für den ganzen Sonntag frei machen<lb/>
können. Im Frühjahr halte ich mit meinen Unterführern mehrfach Besprechungen,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0033] Wie gewinnen wir die Arbeiterjugend? Jungen ihre Mützen, sagten kein Wort und kamen niemals wieder. Zweierlei war hier verfehlt: erstens, Jungen essen zwar gern Apfelreis, aber das lassen sie nicht gern merken, und zweitens, bei ihnen zu Hause denkt niemand an Kaisers Geburtstag. Nun ist gerade ihre Opposition gereizt. Jetzt wollen sie zeigen, daß sie doch auch Charakter haben. Also so geht es nicht. Aber es geht. Wer es unternimmt, muß die LebensverlMnisse der Jungen kennen. Sie haben meist sehr wenig freie Zeit. Wochenabends sind sie nur zu später Stunde, zum Teil zu sehr später Stunde frei. Man kann mit ihnen allenfalls turnen oder lesen. Es hat mich oft in meinem Gewissen beunruhigt, daß die Jungen, die abends überhaupt zu haben waren, erst um 9 oder 9^ Uhr erscheinend, kaum vor 11 Uhr ins Bett kamen, also zu wenig Zeit zum Schlaf behielten. Ander¬ seits zeigen diese stets in Bewegung und Tätigkeit befindlichen Jungen sich wenig empfänglich für geschlechtliche Verführung und überhaupt gut gewappnet gegen die tausendfachen Reizungen der Großstadt. In wenigen Sommerwochen ist es vielleicht noch möglich, in der Abend¬ dämmerung im Freien zu spielen. Sonntags morgens müssen viele Jungen in die Gewerbeschule oder ins Geschäft. Und müssen sie das nicht, so haben sie doch ihr Zeug instant zu setzen und sind auch manchmal in der elterlichen Wohnung zu mancherlei Arbeit nötig. So bleibt nur der Sonntag nachmittag von 2 oder 3 Uhr an frühestens. Verkäufer in Läden werden oft erst um 5 Uhr frei sein. Da kann man aus der Großstadt nicht mehr hinaus und ins Freie kommen. Selbst auf entferntere Spielplätze sind sehr viele Jungen nicht zu bringen. Man muß hier mit der, nur in jahrelanger Arbeit zu überwin¬ denden Schlaffheit sehr vieler Jungen rechnen. Vor allem aber soll nicht ver¬ gessen werden, daß auf diesen Jungen vom vierzehnten Jahre an die Woche über und auch noch in so mancher Sonntagsstunde das unerbittliche Muß der Arbeit liegt. Gibt's bei der Arbeit auch manchen Spaß und manche Bummel¬ stunde, freie Zeit für sich selbst kennen die Jungen kaum. Es ist eben nur der Sonntag nachmittag. Also ist die Neigung sich fest zu binden, mit Recht nur gering. Und da ist es ein sehr bedenkliches Mittel, die sportliche Leidenschaft zu wecken, um den Mangel an Energie in diesen kurzen Freistunden um jeden Preis zu beseitigen! Sehr viele (viel mehr als in höheren Schulen) sind schwächlich, unterernährt, nervös. Diese müssen sozusagen langsam herangewöhnt werden. Man sollte meinen, ein Wintermarsch von sieben bis acht Stunden bei leichtem Frost mit Rast im Freien müßte doch möglich sein. Ich habe mich überzeugt, daß es für manche zu viel ist. Sie müssen zwischendurch eine halbe Stunde in einer warmen Stube ausruhen und etwa eine Tasse warmen Kaffee haben. Wanderungen kann man überhaupt nur in längeren Zwischenräumen unternehmen. Die Jungen müssen sich für den ganzen Sonntag frei machen können. Im Frühjahr halte ich mit meinen Unterführern mehrfach Besprechungen,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/33
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/33>, abgerufen am 27.09.2024.