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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Der Sozialismus in England

daß der politische Kampf nicht so erbittert und verbittert wurde wie in Deutsch¬
land, wo zahlreiche sozialdemokratische Blätter mit Auslagen, die für deutsche
Verhältnisse ansehnlich sind, tagtäglich das vergiftende Evangelium vom Klassen¬
kampf predigen, das in England kaum irgendwie eine Rolle spielt. Immerhin
ist die erklärt sozialistische Bewegung jetzt so weit erstarkt, daß unter der Ägide
der Inäöpenäent I^hour part^ seit Januar 1912 ein täglich erscheinendes
Blatt "l'Ks Lieder" herausgegeben wird. Eine sozialistische Tageszeitung
größeren Stils und mit einer Massenauflage wurde sicherlich die Bewegung
erheblich fördern. Indessen ist die Aufgabe, ein lebensfähiges Tagesblatt in
Konkurrenz mit den großen alten Zeirungen in London und in einigen Provinz¬
städten zu schaffen und am Leben zu erhalten, ungeheuer schwierig. Der
Kapitalismus ist in jeder Form in England noch stärker als anderswo.
Dann aber wird auch die Eifersucht der sozialistischen und gewerkschaftlichen
Organisationen untereinander den Zeitungsplan der I. L. P. von vornherein
erheblich belasten. So war kaum ruchbar geworden, daß die I. L. P. ernsthaft
mit dem Gedanken der Herausgabe einer Tageszeitung umgehe, als die sozial-
demokratische Partei ankündigte, daß auch sie demnächst eine Tageszeitung
vom Stapel lassen wollte, was aber dann nicht geschah, denn ein solches Blatt
hätte natürlich mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen.

Auf der anderen Seite wird die große, kapitalistisch organisierte Presse in
einer höchst wirkungsvollen Weise gegen den Sozialismus benutzt. Er wird
nicht etwa angegriffen, verurteilt und zu widerlegen versucht, sondern ganz
einfach totgeschwiegen. Selten finden sich in den großen englischen Blättern
grundsätzliche Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus, noch seltener eine
Polemik mit Sozialisten oder Berichte über den Fortgang der Bewegung. Seit
deren Erstarken in den letzten Jahren, namentlich seit dem großen Wahlerfolg
der Arbeiterpartei im Jahre 1906, hat dies Verfahren nicht mehr ganz so
stritte durchgeführt werden können. Aber noch die Gründung der Arbeiterpartei
im Jahre 1900 ist in den größten Blättern mit wenigen Zeilen abgetan worden.
Von der ganzen Entwicklung dieser Organisation zwischen 1900 und 1906
erfuhr das große Publikum so gut wie nichts. Um so größer war dann
natürlich die Überraschung. So hat diese Totschweigepolitik ihre zwei Seiten.

Bisher war lediglich von Hemmungen die Rede, die in den Verhältnissen
und Einrichtungen des politischen Englands liegen, also von mehr oder weniger
passiven Widerständen. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, daß dem
englischen Sozialismus nicht auch solche aktiver Natur erwachsen wären.

Jenes schrittweise Eingehen der großen Parteien auf gewisse sozialistische
Forderungen, oder besser die Berücksichtigung, die sie den diesen Forderungen
zugrunde liegenden Beschwerden immer gerade soweit angedeihen ließen, als
unvermeidlich erschien, geschah natürlich nicht um der schönen Augen der Sozialisten
willen. Diese Haltung war den Parteien von der politischen Klugheit vor-
geschrieben. Sie hat, wie gezeigt wurde, auf der einen Seite dazu geführt,


Der Sozialismus in England

daß der politische Kampf nicht so erbittert und verbittert wurde wie in Deutsch¬
land, wo zahlreiche sozialdemokratische Blätter mit Auslagen, die für deutsche
Verhältnisse ansehnlich sind, tagtäglich das vergiftende Evangelium vom Klassen¬
kampf predigen, das in England kaum irgendwie eine Rolle spielt. Immerhin
ist die erklärt sozialistische Bewegung jetzt so weit erstarkt, daß unter der Ägide
der Inäöpenäent I^hour part^ seit Januar 1912 ein täglich erscheinendes
Blatt „l'Ks Lieder" herausgegeben wird. Eine sozialistische Tageszeitung
größeren Stils und mit einer Massenauflage wurde sicherlich die Bewegung
erheblich fördern. Indessen ist die Aufgabe, ein lebensfähiges Tagesblatt in
Konkurrenz mit den großen alten Zeirungen in London und in einigen Provinz¬
städten zu schaffen und am Leben zu erhalten, ungeheuer schwierig. Der
Kapitalismus ist in jeder Form in England noch stärker als anderswo.
Dann aber wird auch die Eifersucht der sozialistischen und gewerkschaftlichen
Organisationen untereinander den Zeitungsplan der I. L. P. von vornherein
erheblich belasten. So war kaum ruchbar geworden, daß die I. L. P. ernsthaft
mit dem Gedanken der Herausgabe einer Tageszeitung umgehe, als die sozial-
demokratische Partei ankündigte, daß auch sie demnächst eine Tageszeitung
vom Stapel lassen wollte, was aber dann nicht geschah, denn ein solches Blatt
hätte natürlich mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen.

Auf der anderen Seite wird die große, kapitalistisch organisierte Presse in
einer höchst wirkungsvollen Weise gegen den Sozialismus benutzt. Er wird
nicht etwa angegriffen, verurteilt und zu widerlegen versucht, sondern ganz
einfach totgeschwiegen. Selten finden sich in den großen englischen Blättern
grundsätzliche Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus, noch seltener eine
Polemik mit Sozialisten oder Berichte über den Fortgang der Bewegung. Seit
deren Erstarken in den letzten Jahren, namentlich seit dem großen Wahlerfolg
der Arbeiterpartei im Jahre 1906, hat dies Verfahren nicht mehr ganz so
stritte durchgeführt werden können. Aber noch die Gründung der Arbeiterpartei
im Jahre 1900 ist in den größten Blättern mit wenigen Zeilen abgetan worden.
Von der ganzen Entwicklung dieser Organisation zwischen 1900 und 1906
erfuhr das große Publikum so gut wie nichts. Um so größer war dann
natürlich die Überraschung. So hat diese Totschweigepolitik ihre zwei Seiten.

Bisher war lediglich von Hemmungen die Rede, die in den Verhältnissen
und Einrichtungen des politischen Englands liegen, also von mehr oder weniger
passiven Widerständen. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, daß dem
englischen Sozialismus nicht auch solche aktiver Natur erwachsen wären.

Jenes schrittweise Eingehen der großen Parteien auf gewisse sozialistische
Forderungen, oder besser die Berücksichtigung, die sie den diesen Forderungen
zugrunde liegenden Beschwerden immer gerade soweit angedeihen ließen, als
unvermeidlich erschien, geschah natürlich nicht um der schönen Augen der Sozialisten
willen. Diese Haltung war den Parteien von der politischen Klugheit vor-
geschrieben. Sie hat, wie gezeigt wurde, auf der einen Seite dazu geführt,


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[0283] Der Sozialismus in England daß der politische Kampf nicht so erbittert und verbittert wurde wie in Deutsch¬ land, wo zahlreiche sozialdemokratische Blätter mit Auslagen, die für deutsche Verhältnisse ansehnlich sind, tagtäglich das vergiftende Evangelium vom Klassen¬ kampf predigen, das in England kaum irgendwie eine Rolle spielt. Immerhin ist die erklärt sozialistische Bewegung jetzt so weit erstarkt, daß unter der Ägide der Inäöpenäent I^hour part^ seit Januar 1912 ein täglich erscheinendes Blatt „l'Ks Lieder" herausgegeben wird. Eine sozialistische Tageszeitung größeren Stils und mit einer Massenauflage wurde sicherlich die Bewegung erheblich fördern. Indessen ist die Aufgabe, ein lebensfähiges Tagesblatt in Konkurrenz mit den großen alten Zeirungen in London und in einigen Provinz¬ städten zu schaffen und am Leben zu erhalten, ungeheuer schwierig. Der Kapitalismus ist in jeder Form in England noch stärker als anderswo. Dann aber wird auch die Eifersucht der sozialistischen und gewerkschaftlichen Organisationen untereinander den Zeitungsplan der I. L. P. von vornherein erheblich belasten. So war kaum ruchbar geworden, daß die I. L. P. ernsthaft mit dem Gedanken der Herausgabe einer Tageszeitung umgehe, als die sozial- demokratische Partei ankündigte, daß auch sie demnächst eine Tageszeitung vom Stapel lassen wollte, was aber dann nicht geschah, denn ein solches Blatt hätte natürlich mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Auf der anderen Seite wird die große, kapitalistisch organisierte Presse in einer höchst wirkungsvollen Weise gegen den Sozialismus benutzt. Er wird nicht etwa angegriffen, verurteilt und zu widerlegen versucht, sondern ganz einfach totgeschwiegen. Selten finden sich in den großen englischen Blättern grundsätzliche Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus, noch seltener eine Polemik mit Sozialisten oder Berichte über den Fortgang der Bewegung. Seit deren Erstarken in den letzten Jahren, namentlich seit dem großen Wahlerfolg der Arbeiterpartei im Jahre 1906, hat dies Verfahren nicht mehr ganz so stritte durchgeführt werden können. Aber noch die Gründung der Arbeiterpartei im Jahre 1900 ist in den größten Blättern mit wenigen Zeilen abgetan worden. Von der ganzen Entwicklung dieser Organisation zwischen 1900 und 1906 erfuhr das große Publikum so gut wie nichts. Um so größer war dann natürlich die Überraschung. So hat diese Totschweigepolitik ihre zwei Seiten. Bisher war lediglich von Hemmungen die Rede, die in den Verhältnissen und Einrichtungen des politischen Englands liegen, also von mehr oder weniger passiven Widerständen. Es wäre aber ein Irrtum zu glauben, daß dem englischen Sozialismus nicht auch solche aktiver Natur erwachsen wären. Jenes schrittweise Eingehen der großen Parteien auf gewisse sozialistische Forderungen, oder besser die Berücksichtigung, die sie den diesen Forderungen zugrunde liegenden Beschwerden immer gerade soweit angedeihen ließen, als unvermeidlich erschien, geschah natürlich nicht um der schönen Augen der Sozialisten willen. Diese Haltung war den Parteien von der politischen Klugheit vor- geschrieben. Sie hat, wie gezeigt wurde, auf der einen Seite dazu geführt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/283>, abgerufen am 29.12.2024.