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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Lingeborencnrecht in den deutschen Kolonien

nachträglich, wenn auch nicht vollständig, wieder gut gemacht werden. Es wird
sich insbesondere empfehlen, wenigstens für die Bearbeitung der Ergebnisse in
Deutschland befindliche Eingeborenenrichter heranzuziehen, und zwar möglichst
als Referenten für dasjenige Material, das ihrem früheren Wirkungskreise und
den diesem rechtsverwandten Gebieten entstammt.

Was die praktische Verwertung des gesammelten Rechtsstoffes betrifft, so
muß vor eiuer mit Gesetzeskraft ausgestatteten Kodifikation, wie sie von beachtens¬
werter Seite noch immer verlangt wird, entschieden gewarnt werden. Ein
Bedürfnis besteht nur in der Richtung, daß wir wissen, was als Recht unter
den Eingeborenen gilt. Die systematische Zusammenfassung dieses Stoffes, die
für jedes Gebiet getrennt zu erfolgen hat, wird ein wichtiges volks- und landes¬
kundliches Hilfsmittel bedeuten, sowohl in der Hand der Beamten, wie der in
den Kolonien wirtschaftstätigen Kreise, zumal diese mehr und mehr in Beziehungen
durchaus rechtsgeschäftlichen Charakters zu den Eingeborenen treten. Eine Ein¬
kleidung in bindende Gesetzesparagraphen dagegen würde eine .Kriegserklärung
an unsere eigene Eingeborenenpolitik bedeuten, deren Ziel die allmähliche Er¬
ziehung der Eingeborenen zu unseren Rechtsanschauungen ist"). Aber auch aus
rein legislatorischen Gründen ist eine Kodifikation zu widerraten. Sobald der
Eingeborene in Beziehungen zu dem Weißen -- sei er Beamter oder Missionar,
sei er Kaufmann, Pflanzer oder Farmer -- tritt, verfällt das alte Eingeborenen¬
recht ganz von selbst einem unaufhaltsamen Umwandlungsprozeß; so würde der
Versuch der Stabilisierung ein Versuch am untauglichen Objekt, die Kodifikation
veraltet sein, noch ehe sie ins Leben getreten ist. Die Sachlage läßt sich nicht
besser schildern, als es von feiten des Bezirksamtmanns von Ponape, Fritz,
gelegentlich der Beantwortung des Fragebogens geschehen ist, in den Sätzen:

"Eine neue, fremdem Boden entsprossene Kultur trifft, zum Heil oder Unheil
der Eingeborenen, ich lasse die Frage offen, mit Zuständen zusammen, die uns
vielleicht verbesserungsbedürftig erscheinen mögen, aber durch das Alter geheiligt
sind und jedenfalls ihre Opfer in mancher Hinsicht mehr befriedigten, als jene
neue, ihrem Wesen fremde Kultur. Diese Kultur mit ihren neuen Rechtsbegriffen
setzt sich aber wohl oder übel durch, sie wirkt zunächst auflösend aus das Alte,
ohne sogleich Neues an seine Stelle zu setzen. In einem solchen Zustande des
Übergangs befinden sich die Rechtsbegriffe wohl in allen unseren Kolonien. In
einer Übergangszeit aber sollten Rechtsbegriffe, die im Schwinden oder in der
Umbildung oder im Werden begriffen sind, nicht in Paragraphen gezwängt



") Vgl. hierzu den Runderlasz des Gouverneurs von Togo, betr. die Bestrafung der
Straftaten der Eingeborenen, vom 11. Februar 1907: ". . . Wenn die Paragraphen des
Neichsstrafgesetzbuches und der übrigen Reichsgesetze nicht ohne weiteres auf die Eingeborenen
angewandt werden können, so geben sie doch immerhin einen gewissen Anhalt, und es ist
Sache der Bezirksämter und Stationen, die in diesen Gesetzen niedergelegten Rechtsanschauungen,
soweit sie auf die von den europäischen Verhältnissen immerhin abweichenden Verhältnisse des
Landes nur irgend angewendet werden können, allmählich auch in den Eingeborenen gro߬
zuziehen."
Lingeborencnrecht in den deutschen Kolonien

nachträglich, wenn auch nicht vollständig, wieder gut gemacht werden. Es wird
sich insbesondere empfehlen, wenigstens für die Bearbeitung der Ergebnisse in
Deutschland befindliche Eingeborenenrichter heranzuziehen, und zwar möglichst
als Referenten für dasjenige Material, das ihrem früheren Wirkungskreise und
den diesem rechtsverwandten Gebieten entstammt.

Was die praktische Verwertung des gesammelten Rechtsstoffes betrifft, so
muß vor eiuer mit Gesetzeskraft ausgestatteten Kodifikation, wie sie von beachtens¬
werter Seite noch immer verlangt wird, entschieden gewarnt werden. Ein
Bedürfnis besteht nur in der Richtung, daß wir wissen, was als Recht unter
den Eingeborenen gilt. Die systematische Zusammenfassung dieses Stoffes, die
für jedes Gebiet getrennt zu erfolgen hat, wird ein wichtiges volks- und landes¬
kundliches Hilfsmittel bedeuten, sowohl in der Hand der Beamten, wie der in
den Kolonien wirtschaftstätigen Kreise, zumal diese mehr und mehr in Beziehungen
durchaus rechtsgeschäftlichen Charakters zu den Eingeborenen treten. Eine Ein¬
kleidung in bindende Gesetzesparagraphen dagegen würde eine .Kriegserklärung
an unsere eigene Eingeborenenpolitik bedeuten, deren Ziel die allmähliche Er¬
ziehung der Eingeborenen zu unseren Rechtsanschauungen ist"). Aber auch aus
rein legislatorischen Gründen ist eine Kodifikation zu widerraten. Sobald der
Eingeborene in Beziehungen zu dem Weißen — sei er Beamter oder Missionar,
sei er Kaufmann, Pflanzer oder Farmer — tritt, verfällt das alte Eingeborenen¬
recht ganz von selbst einem unaufhaltsamen Umwandlungsprozeß; so würde der
Versuch der Stabilisierung ein Versuch am untauglichen Objekt, die Kodifikation
veraltet sein, noch ehe sie ins Leben getreten ist. Die Sachlage läßt sich nicht
besser schildern, als es von feiten des Bezirksamtmanns von Ponape, Fritz,
gelegentlich der Beantwortung des Fragebogens geschehen ist, in den Sätzen:

„Eine neue, fremdem Boden entsprossene Kultur trifft, zum Heil oder Unheil
der Eingeborenen, ich lasse die Frage offen, mit Zuständen zusammen, die uns
vielleicht verbesserungsbedürftig erscheinen mögen, aber durch das Alter geheiligt
sind und jedenfalls ihre Opfer in mancher Hinsicht mehr befriedigten, als jene
neue, ihrem Wesen fremde Kultur. Diese Kultur mit ihren neuen Rechtsbegriffen
setzt sich aber wohl oder übel durch, sie wirkt zunächst auflösend aus das Alte,
ohne sogleich Neues an seine Stelle zu setzen. In einem solchen Zustande des
Übergangs befinden sich die Rechtsbegriffe wohl in allen unseren Kolonien. In
einer Übergangszeit aber sollten Rechtsbegriffe, die im Schwinden oder in der
Umbildung oder im Werden begriffen sind, nicht in Paragraphen gezwängt



") Vgl. hierzu den Runderlasz des Gouverneurs von Togo, betr. die Bestrafung der
Straftaten der Eingeborenen, vom 11. Februar 1907: „. . . Wenn die Paragraphen des
Neichsstrafgesetzbuches und der übrigen Reichsgesetze nicht ohne weiteres auf die Eingeborenen
angewandt werden können, so geben sie doch immerhin einen gewissen Anhalt, und es ist
Sache der Bezirksämter und Stationen, die in diesen Gesetzen niedergelegten Rechtsanschauungen,
soweit sie auf die von den europäischen Verhältnissen immerhin abweichenden Verhältnisse des
Landes nur irgend angewendet werden können, allmählich auch in den Eingeborenen gro߬
zuziehen."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/23>, abgerufen am 29.12.2024.