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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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William James und das deutsche Geistesleben

Und noch verzerrter ist das Bild, das James neben dem deutschen Studenten
vom deutschen Professor zeichnet. "Bei einem Gegenstande wie der Philosophie,"
heißt es im "pluralistischen Weltbilde," "ist es wirklich verhängnisvoll, die
Fühlung mit der menschlichen Natur, der freien Luft zu verlieren und mit
Ladenhüterbegriffen zu denken." "In Deutschland sind die Denkformen so
kanzleimäßig geworden," daß jeder, der eine Professur erlangt und ein Buch
geschrieben hat, so verdreht und überspannt es auch sein mag, das gesetzliche
Recht erworben hat, für immer in der Geschichte dieses Gegenstandes zur Schau
zu stehen: wie eine Fliege im Bernstein. Alle späteren haben die Pflicht, ihn
anzuführen und ihre Meinungen an der seinen zu messen. Das sind die Spiel¬
regeln des Professorentums -- sie denken und schreiben voneinander und für¬
einander in ausschließlichem Wechselverkehr. Mit diesem Ausschluß der freien
Luft geht aller wahre Blick verloren. Überspanntes und verqueres Zeug zählt
gerade so viel wie gesundes und lenkt dieselbe Aufmerksamkeit auf sich. Und
wenn einer gar wagt, volkstümlich zu schreiben und unmittelbar losgeht auf
den Gegenstand selbst, dann wird es für oberflächliches Zeug und ganz unwissen¬
schaftlich gehalten."

Man sollte über ein solches Urteil um so mehr erstaunen, als die gegen¬
wärtige deutsche Philosophie im Gehalt wie in der äußeren Form unendlich
viel volkstümlicher ist als die gegenwärtig rein fachwissenschaftliche Philosophie
in Amerika. -- Aber aus William James' Farbenkasten wurde England und
Frankreich immer rosa in rosa angestrichen, und Deutschland grau in grau.
"Der englische Verstand, Gott sei Dank, und der französische," so schreibt
James, "haben immer noch ihre Abneigung gegen rohe Technik und Barbarei
behalten und sind darum den Aussichten natürlicher Wahrheit näher. Ihre
Literaturen zeigen weniger offensichtliche Fehler und Ungeheuerlichkeiten wie die
deutsche. Man denke an die deutsche Ästhetik mit der Albernheit, eine so un-
ästhetische Persönlichkeit wie Kant auf den allbeherrschender Thron zu setzen.
Man denke an deutsche Bücher über Religionsphilosophie, wo die Kämpfe des
Herzens in Begriffsjargon und aufgestützte Dialektik übersetzt werden" usw. --
"Der Rhein hat sich in die Themse ergossen." "Der Strom des deutschen
Idealismus hat sich über die akademische Welt von Großbritannien ergossen.
Allgemeines Unheill" Genug und übergeuug.

Man wird nach all den Beweisstücken, die ich erbracht habe, nicht mehr
zweifeln, daß William James für deutsches Wesen wirklich ein unverhältnis¬
mäßig geringes Verständnis hatte, ja. man wird darüber hinaus anerkennen
müssen, daß James' Verständnislosigkeit für deutsches Wesen keineswegs un¬
bedeutend und belanglos für seine philosophische Wirksamkeit gewesen ist, daß
je länger je mehr diese Verständnislosigkeit in einen offenen Gegensatz und der
Gegensatz zu einem ausdrücklichen Kampfe gegen das deutsche Geistesleben
ausartete. Der Kampf um den Pragmatismus war nicht zum kleinsten Teile ein
Kampf gegen das Deutschtum in der englischen und amerikanischen Philosophie.
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Grenzboten I 1S12
William James und das deutsche Geistesleben

Und noch verzerrter ist das Bild, das James neben dem deutschen Studenten
vom deutschen Professor zeichnet. „Bei einem Gegenstande wie der Philosophie,"
heißt es im „pluralistischen Weltbilde," „ist es wirklich verhängnisvoll, die
Fühlung mit der menschlichen Natur, der freien Luft zu verlieren und mit
Ladenhüterbegriffen zu denken." „In Deutschland sind die Denkformen so
kanzleimäßig geworden," daß jeder, der eine Professur erlangt und ein Buch
geschrieben hat, so verdreht und überspannt es auch sein mag, das gesetzliche
Recht erworben hat, für immer in der Geschichte dieses Gegenstandes zur Schau
zu stehen: wie eine Fliege im Bernstein. Alle späteren haben die Pflicht, ihn
anzuführen und ihre Meinungen an der seinen zu messen. Das sind die Spiel¬
regeln des Professorentums — sie denken und schreiben voneinander und für¬
einander in ausschließlichem Wechselverkehr. Mit diesem Ausschluß der freien
Luft geht aller wahre Blick verloren. Überspanntes und verqueres Zeug zählt
gerade so viel wie gesundes und lenkt dieselbe Aufmerksamkeit auf sich. Und
wenn einer gar wagt, volkstümlich zu schreiben und unmittelbar losgeht auf
den Gegenstand selbst, dann wird es für oberflächliches Zeug und ganz unwissen¬
schaftlich gehalten."

Man sollte über ein solches Urteil um so mehr erstaunen, als die gegen¬
wärtige deutsche Philosophie im Gehalt wie in der äußeren Form unendlich
viel volkstümlicher ist als die gegenwärtig rein fachwissenschaftliche Philosophie
in Amerika. — Aber aus William James' Farbenkasten wurde England und
Frankreich immer rosa in rosa angestrichen, und Deutschland grau in grau.
„Der englische Verstand, Gott sei Dank, und der französische," so schreibt
James, „haben immer noch ihre Abneigung gegen rohe Technik und Barbarei
behalten und sind darum den Aussichten natürlicher Wahrheit näher. Ihre
Literaturen zeigen weniger offensichtliche Fehler und Ungeheuerlichkeiten wie die
deutsche. Man denke an die deutsche Ästhetik mit der Albernheit, eine so un-
ästhetische Persönlichkeit wie Kant auf den allbeherrschender Thron zu setzen.
Man denke an deutsche Bücher über Religionsphilosophie, wo die Kämpfe des
Herzens in Begriffsjargon und aufgestützte Dialektik übersetzt werden" usw. —
„Der Rhein hat sich in die Themse ergossen." „Der Strom des deutschen
Idealismus hat sich über die akademische Welt von Großbritannien ergossen.
Allgemeines Unheill" Genug und übergeuug.

Man wird nach all den Beweisstücken, die ich erbracht habe, nicht mehr
zweifeln, daß William James für deutsches Wesen wirklich ein unverhältnis¬
mäßig geringes Verständnis hatte, ja. man wird darüber hinaus anerkennen
müssen, daß James' Verständnislosigkeit für deutsches Wesen keineswegs un¬
bedeutend und belanglos für seine philosophische Wirksamkeit gewesen ist, daß
je länger je mehr diese Verständnislosigkeit in einen offenen Gegensatz und der
Gegensatz zu einem ausdrücklichen Kampfe gegen das deutsche Geistesleben
ausartete. Der Kampf um den Pragmatismus war nicht zum kleinsten Teile ein
Kampf gegen das Deutschtum in der englischen und amerikanischen Philosophie.
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Grenzboten I 1S12
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[0225] William James und das deutsche Geistesleben Und noch verzerrter ist das Bild, das James neben dem deutschen Studenten vom deutschen Professor zeichnet. „Bei einem Gegenstande wie der Philosophie," heißt es im „pluralistischen Weltbilde," „ist es wirklich verhängnisvoll, die Fühlung mit der menschlichen Natur, der freien Luft zu verlieren und mit Ladenhüterbegriffen zu denken." „In Deutschland sind die Denkformen so kanzleimäßig geworden," daß jeder, der eine Professur erlangt und ein Buch geschrieben hat, so verdreht und überspannt es auch sein mag, das gesetzliche Recht erworben hat, für immer in der Geschichte dieses Gegenstandes zur Schau zu stehen: wie eine Fliege im Bernstein. Alle späteren haben die Pflicht, ihn anzuführen und ihre Meinungen an der seinen zu messen. Das sind die Spiel¬ regeln des Professorentums — sie denken und schreiben voneinander und für¬ einander in ausschließlichem Wechselverkehr. Mit diesem Ausschluß der freien Luft geht aller wahre Blick verloren. Überspanntes und verqueres Zeug zählt gerade so viel wie gesundes und lenkt dieselbe Aufmerksamkeit auf sich. Und wenn einer gar wagt, volkstümlich zu schreiben und unmittelbar losgeht auf den Gegenstand selbst, dann wird es für oberflächliches Zeug und ganz unwissen¬ schaftlich gehalten." Man sollte über ein solches Urteil um so mehr erstaunen, als die gegen¬ wärtige deutsche Philosophie im Gehalt wie in der äußeren Form unendlich viel volkstümlicher ist als die gegenwärtig rein fachwissenschaftliche Philosophie in Amerika. — Aber aus William James' Farbenkasten wurde England und Frankreich immer rosa in rosa angestrichen, und Deutschland grau in grau. „Der englische Verstand, Gott sei Dank, und der französische," so schreibt James, „haben immer noch ihre Abneigung gegen rohe Technik und Barbarei behalten und sind darum den Aussichten natürlicher Wahrheit näher. Ihre Literaturen zeigen weniger offensichtliche Fehler und Ungeheuerlichkeiten wie die deutsche. Man denke an die deutsche Ästhetik mit der Albernheit, eine so un- ästhetische Persönlichkeit wie Kant auf den allbeherrschender Thron zu setzen. Man denke an deutsche Bücher über Religionsphilosophie, wo die Kämpfe des Herzens in Begriffsjargon und aufgestützte Dialektik übersetzt werden" usw. — „Der Rhein hat sich in die Themse ergossen." „Der Strom des deutschen Idealismus hat sich über die akademische Welt von Großbritannien ergossen. Allgemeines Unheill" Genug und übergeuug. Man wird nach all den Beweisstücken, die ich erbracht habe, nicht mehr zweifeln, daß William James für deutsches Wesen wirklich ein unverhältnis¬ mäßig geringes Verständnis hatte, ja. man wird darüber hinaus anerkennen müssen, daß James' Verständnislosigkeit für deutsches Wesen keineswegs un¬ bedeutend und belanglos für seine philosophische Wirksamkeit gewesen ist, daß je länger je mehr diese Verständnislosigkeit in einen offenen Gegensatz und der Gegensatz zu einem ausdrücklichen Kampfe gegen das deutsche Geistesleben ausartete. Der Kampf um den Pragmatismus war nicht zum kleinsten Teile ein Kampf gegen das Deutschtum in der englischen und amerikanischen Philosophie. 28 Grenzboten I 1S12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/225>, abgerufen am 29.12.2024.