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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Persien

lische Unterstützung? Sem bekannter Brief an die Times, in dein er die Russen
scharf angriff, läßt diesen Schluß zu. Dann hätte er aber anders auftreten, sich
nicht Rußland und England in gleicher Weise zu Feinden machen sollen. Da¬
durch, daß er beide Interessenten vor den Kopf stieß, zwang er England auf
die Seite Rußlands. Es war nur eine logische Folge seines Auftretens, daß
die Ententemächte, um eine Wiederholung solcher Zwischenfälle zu verhüten, von
Persien verlangten, es dürfe von nun ab fremde Ratgeber nur mit ihrer Ein¬
willigung anstellen.

Wie die Entwicklung der Dinge beweist, hat Morgan Shuster durch seinen
unzeitgemäßer Eifer dem Lande, anstatt ihm zu helfen (was er sicher ehrlich
wollte), einen recht schlechten Dienst erwiesen und es -- die sür Persien glimpf¬
lichste Wendung angenommen -- in ein kostspieliges und demütigendes Abenteuer
gestürzt. Wie sich die heutigen Schwierigkeiten lösen werden, ist schwer zu sagen.
Drei Möglichkeiten kommen in Frage:

1. Beide Mächte gehen nach Erreichung ihres Zweckes (Beruhigung des
Landes?) in ihre alten Stellungen zurück.

2. Es wird unter Aufrechterhaltung der Entente eine Änderung der über
Persien bestehenden Abmachungen herbeigeführt, durch die den Ententemächten
die in ihren Interessensphären liegenden Gebiete Perstens zufallen.

3. Rußland glaubt sich wieder stark genug, um einen Vorstoß in Richtung
auf den Persischen Golf unter allen Umständen -- eventuell auch ohne Rücksicht
auf die Entente -- machen zu können. Daß der in unnatürlicher Weise vom
Meer abgeschlossene russische Koloß auch nach allen Rückschlägen immer wieder
versuchen muß, sich den Weg zum Meer zu bahnen, ist eine alte Wahrheit.
Ferner entspricht es einem Naturgesetze, daß dieser Vorstoß immer aus der Linie
des geringsten Widerstandes erfolgen muß. Auch der Weg zum Persischen Golf
ist nicht dornenlos, aber Gebirge und Wüsten sind seine Haupthindernisse, während
der Weg nach Port Arthur und Konstantinopel durch Armeen gesperrt ist.

England war bisher mit Erfolg bemüht, die Russen durch das Bereiten
stets neuer Hindernisse nie zum richtigen Vordringen kommen zu lassen. Bleibt
es seinen Grundsätzen treu, so muß es deu Rückzug beider Parteien hinter die
alten Grenzlinien anstreben. Das wäre vom englischen Standpunkte aus zweifellos
das Rationellste. Allerdings richtet man sich in letzter Zeit in der Politik meist
weniger nach dem, was die Vernunft fordert, als nach dem, was der großen
Masse gefällt, und daher ist anzunehmen, daß England fortfahren wird, wie
hypnotisiert über die Nordsee zu starren, und darüber kaum merken wird, daß
eine große Militärmacht um 500 Kilometer näher an das indische Einsalltor
Kandahar herangerückt ist. Wir stehen also möglicherweise vor einer neuen
Auflage der Marokkotragödie.




Briefe aus Persien

lische Unterstützung? Sem bekannter Brief an die Times, in dein er die Russen
scharf angriff, läßt diesen Schluß zu. Dann hätte er aber anders auftreten, sich
nicht Rußland und England in gleicher Weise zu Feinden machen sollen. Da¬
durch, daß er beide Interessenten vor den Kopf stieß, zwang er England auf
die Seite Rußlands. Es war nur eine logische Folge seines Auftretens, daß
die Ententemächte, um eine Wiederholung solcher Zwischenfälle zu verhüten, von
Persien verlangten, es dürfe von nun ab fremde Ratgeber nur mit ihrer Ein¬
willigung anstellen.

Wie die Entwicklung der Dinge beweist, hat Morgan Shuster durch seinen
unzeitgemäßer Eifer dem Lande, anstatt ihm zu helfen (was er sicher ehrlich
wollte), einen recht schlechten Dienst erwiesen und es — die sür Persien glimpf¬
lichste Wendung angenommen — in ein kostspieliges und demütigendes Abenteuer
gestürzt. Wie sich die heutigen Schwierigkeiten lösen werden, ist schwer zu sagen.
Drei Möglichkeiten kommen in Frage:

1. Beide Mächte gehen nach Erreichung ihres Zweckes (Beruhigung des
Landes?) in ihre alten Stellungen zurück.

2. Es wird unter Aufrechterhaltung der Entente eine Änderung der über
Persien bestehenden Abmachungen herbeigeführt, durch die den Ententemächten
die in ihren Interessensphären liegenden Gebiete Perstens zufallen.

3. Rußland glaubt sich wieder stark genug, um einen Vorstoß in Richtung
auf den Persischen Golf unter allen Umständen — eventuell auch ohne Rücksicht
auf die Entente — machen zu können. Daß der in unnatürlicher Weise vom
Meer abgeschlossene russische Koloß auch nach allen Rückschlägen immer wieder
versuchen muß, sich den Weg zum Meer zu bahnen, ist eine alte Wahrheit.
Ferner entspricht es einem Naturgesetze, daß dieser Vorstoß immer aus der Linie
des geringsten Widerstandes erfolgen muß. Auch der Weg zum Persischen Golf
ist nicht dornenlos, aber Gebirge und Wüsten sind seine Haupthindernisse, während
der Weg nach Port Arthur und Konstantinopel durch Armeen gesperrt ist.

England war bisher mit Erfolg bemüht, die Russen durch das Bereiten
stets neuer Hindernisse nie zum richtigen Vordringen kommen zu lassen. Bleibt
es seinen Grundsätzen treu, so muß es deu Rückzug beider Parteien hinter die
alten Grenzlinien anstreben. Das wäre vom englischen Standpunkte aus zweifellos
das Rationellste. Allerdings richtet man sich in letzter Zeit in der Politik meist
weniger nach dem, was die Vernunft fordert, als nach dem, was der großen
Masse gefällt, und daher ist anzunehmen, daß England fortfahren wird, wie
hypnotisiert über die Nordsee zu starren, und darüber kaum merken wird, daß
eine große Militärmacht um 500 Kilometer näher an das indische Einsalltor
Kandahar herangerückt ist. Wir stehen also möglicherweise vor einer neuen
Auflage der Marokkotragödie.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/190>, abgerufen am 29.12.2024.