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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Fürst Bülow hat den Versuch unternommen, die öffentliche Meinung um¬
zustimmen und in ihr Verständnis für die Politik des Kaisers zu verbreiten.
Er hat damit ein vollständiges Fiasko erlitten. Aus zwei Gründen: einmal
ignorierte er kulturelle Fragen in der Politik in noch stärkerem Maße wie Bis-
marck, und dann wagte er nicht energisch genug die Konsequenzen zu ziehen,
die sich aus seinem Versuch ergaben. Damit aber verzichtete er auch darauf,
mit modernen Mitteln auf die Entwicklung des politischen Denkens der Nation
einzuwirken. Die Schulpolitik Preußens bildet seit dem Fortgange Falls ein
trauriges Kapitel in unserer neuesten Geschichte: sie war fast ausschließlich Hilfs¬
mittel der Wirtschaftspolitik, nicht aber einer alle Regungen und Bestrebungen
der Nation umfassenden Staatspolitik. So hat die nationale Begeisterung, die
Fürst Bülow verschiedentlich für bestimmte politische Einzelaufgaben zu entfachen
vermochte, wohl recht schöne Flammen aufsteigen lassen, nicht aber dauernd die
Wärme erzeugen und in gehörigem Quantum sicherstellen können, die notwendig
ist, um große nationale Aufgaben bis zur Vollendung durchzuführen.

Die Enttäuschungen, entstanden aus falschem Verstehen und demgemäß zu
weitgehendem Wollen einerseits und dem Nicht-können oder Nicht-dürfen ander¬
seits, sie haben die seit 1890 bestehende Mißstimmung und Nervosität immer
von neuem genährt."- "




Haben wir die Krankheit erkannt, so sind wir auch auf dem Wege, sie zu
heilen, sofern wir die Macht dazu besitzen. Und da überkommt uns die Resignation.
Alle Macht liegt in den Händen der faktisch Regierenden, deren Stellung zu
den großen Kulturfragen wir die Stimmung im Lande verdanken. Die wich¬
tigsten Fragen werden nicht vom Reiche, sondern in Preußen entschieden, und
wir wissen zurzeit noch nicht, ob die preußische Regierung willens ist. im Gegen¬
satz zur preußischen Landtagsmehrheit die in der Luft hängende Schulreform
in Angriff zu nehmen, wissen nicht, ob sie an die Stelle des Enteignungs¬
gesetzes ein Kolonisationsgesetz bringen will, das geeignet wäre, aus den Industrie¬
arbeitern wieder Ströme auf das Land zu leiten, wo gegenwärtig mit der
Ausbreitung des Latifundienbesitzes die polnische Unterschicht zusehends wächst,
während deutsche Kernbeoölkerung in den Industriezentren verkümmert. Wer
in den letzten Jahren glaubte, sich an Jena und Olmütz erinnern zu müssen,
der sollte nun am Beginn des Jahres 1912 auch daran denken, daß der Weg,
den Preußens Entwicklung von Aorks Gehorsamsverweigerung bei Tauroggen
bis zur Kaiserproklamation zu Versailles zurücklegte, geebnet wurde durch die
friedliche Reformarbeit der Stein, Hardenberg und Humboldt. Die Soldaten
Scharnhorst, Roon und Moltke, sowie Bismarck waren seine Nutznießer.


G. Li.


Fürst Bülow hat den Versuch unternommen, die öffentliche Meinung um¬
zustimmen und in ihr Verständnis für die Politik des Kaisers zu verbreiten.
Er hat damit ein vollständiges Fiasko erlitten. Aus zwei Gründen: einmal
ignorierte er kulturelle Fragen in der Politik in noch stärkerem Maße wie Bis-
marck, und dann wagte er nicht energisch genug die Konsequenzen zu ziehen,
die sich aus seinem Versuch ergaben. Damit aber verzichtete er auch darauf,
mit modernen Mitteln auf die Entwicklung des politischen Denkens der Nation
einzuwirken. Die Schulpolitik Preußens bildet seit dem Fortgange Falls ein
trauriges Kapitel in unserer neuesten Geschichte: sie war fast ausschließlich Hilfs¬
mittel der Wirtschaftspolitik, nicht aber einer alle Regungen und Bestrebungen
der Nation umfassenden Staatspolitik. So hat die nationale Begeisterung, die
Fürst Bülow verschiedentlich für bestimmte politische Einzelaufgaben zu entfachen
vermochte, wohl recht schöne Flammen aufsteigen lassen, nicht aber dauernd die
Wärme erzeugen und in gehörigem Quantum sicherstellen können, die notwendig
ist, um große nationale Aufgaben bis zur Vollendung durchzuführen.

Die Enttäuschungen, entstanden aus falschem Verstehen und demgemäß zu
weitgehendem Wollen einerseits und dem Nicht-können oder Nicht-dürfen ander¬
seits, sie haben die seit 1890 bestehende Mißstimmung und Nervosität immer
von neuem genährt.«- »




Haben wir die Krankheit erkannt, so sind wir auch auf dem Wege, sie zu
heilen, sofern wir die Macht dazu besitzen. Und da überkommt uns die Resignation.
Alle Macht liegt in den Händen der faktisch Regierenden, deren Stellung zu
den großen Kulturfragen wir die Stimmung im Lande verdanken. Die wich¬
tigsten Fragen werden nicht vom Reiche, sondern in Preußen entschieden, und
wir wissen zurzeit noch nicht, ob die preußische Regierung willens ist. im Gegen¬
satz zur preußischen Landtagsmehrheit die in der Luft hängende Schulreform
in Angriff zu nehmen, wissen nicht, ob sie an die Stelle des Enteignungs¬
gesetzes ein Kolonisationsgesetz bringen will, das geeignet wäre, aus den Industrie¬
arbeitern wieder Ströme auf das Land zu leiten, wo gegenwärtig mit der
Ausbreitung des Latifundienbesitzes die polnische Unterschicht zusehends wächst,
während deutsche Kernbeoölkerung in den Industriezentren verkümmert. Wer
in den letzten Jahren glaubte, sich an Jena und Olmütz erinnern zu müssen,
der sollte nun am Beginn des Jahres 1912 auch daran denken, daß der Weg,
den Preußens Entwicklung von Aorks Gehorsamsverweigerung bei Tauroggen
bis zur Kaiserproklamation zu Versailles zurücklegte, geebnet wurde durch die
friedliche Reformarbeit der Stein, Hardenberg und Humboldt. Die Soldaten
Scharnhorst, Roon und Moltke, sowie Bismarck waren seine Nutznießer.


G. Li.


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[0016] Fürst Bülow hat den Versuch unternommen, die öffentliche Meinung um¬ zustimmen und in ihr Verständnis für die Politik des Kaisers zu verbreiten. Er hat damit ein vollständiges Fiasko erlitten. Aus zwei Gründen: einmal ignorierte er kulturelle Fragen in der Politik in noch stärkerem Maße wie Bis- marck, und dann wagte er nicht energisch genug die Konsequenzen zu ziehen, die sich aus seinem Versuch ergaben. Damit aber verzichtete er auch darauf, mit modernen Mitteln auf die Entwicklung des politischen Denkens der Nation einzuwirken. Die Schulpolitik Preußens bildet seit dem Fortgange Falls ein trauriges Kapitel in unserer neuesten Geschichte: sie war fast ausschließlich Hilfs¬ mittel der Wirtschaftspolitik, nicht aber einer alle Regungen und Bestrebungen der Nation umfassenden Staatspolitik. So hat die nationale Begeisterung, die Fürst Bülow verschiedentlich für bestimmte politische Einzelaufgaben zu entfachen vermochte, wohl recht schöne Flammen aufsteigen lassen, nicht aber dauernd die Wärme erzeugen und in gehörigem Quantum sicherstellen können, die notwendig ist, um große nationale Aufgaben bis zur Vollendung durchzuführen. Die Enttäuschungen, entstanden aus falschem Verstehen und demgemäß zu weitgehendem Wollen einerseits und dem Nicht-können oder Nicht-dürfen ander¬ seits, sie haben die seit 1890 bestehende Mißstimmung und Nervosität immer von neuem genährt.«- » Haben wir die Krankheit erkannt, so sind wir auch auf dem Wege, sie zu heilen, sofern wir die Macht dazu besitzen. Und da überkommt uns die Resignation. Alle Macht liegt in den Händen der faktisch Regierenden, deren Stellung zu den großen Kulturfragen wir die Stimmung im Lande verdanken. Die wich¬ tigsten Fragen werden nicht vom Reiche, sondern in Preußen entschieden, und wir wissen zurzeit noch nicht, ob die preußische Regierung willens ist. im Gegen¬ satz zur preußischen Landtagsmehrheit die in der Luft hängende Schulreform in Angriff zu nehmen, wissen nicht, ob sie an die Stelle des Enteignungs¬ gesetzes ein Kolonisationsgesetz bringen will, das geeignet wäre, aus den Industrie¬ arbeitern wieder Ströme auf das Land zu leiten, wo gegenwärtig mit der Ausbreitung des Latifundienbesitzes die polnische Unterschicht zusehends wächst, während deutsche Kernbeoölkerung in den Industriezentren verkümmert. Wer in den letzten Jahren glaubte, sich an Jena und Olmütz erinnern zu müssen, der sollte nun am Beginn des Jahres 1912 auch daran denken, daß der Weg, den Preußens Entwicklung von Aorks Gehorsamsverweigerung bei Tauroggen bis zur Kaiserproklamation zu Versailles zurücklegte, geebnet wurde durch die friedliche Reformarbeit der Stein, Hardenberg und Humboldt. Die Soldaten Scharnhorst, Roon und Moltke, sowie Bismarck waren seine Nutznießer. G. Li.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/16>, abgerufen am 19.10.2024.