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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Wallotbau einziehen, die Sozialdemokratie eine Schar von 90 bis 100 entsenden;
die Fähnlein aller Konservativen mögen mit 55 bis 60, die der Liberalen mit
80 bis 90 Köpfen aufwarten. Dazu käme dann noch das Treibholz der
Polen, Dänen, Lothringer, Welsen und Wilden, das häufig genug imstande
war, den Abstimmungen des Reichstages eine unerwartete Wendung zu geben.
So wird denn das gleiche Ringen, das von 1903 bis 1907 die Kräfte der
Regierung lahmlegte, von neuem beginnen, und wir werden kaum einen Ausweg
aus dem Labyrinth einander widerstrebender Wünsche und Ansprüche finden,
wenn nicht ein Alexander auftritt, den gordischen Knoten zu durchschlagen.

Die Regierung glaubt noch in letzter Stunde dem Wahlschiff einen
festen Kurs geben zu können durch den Hinweis auf die Notwendigkeit neuer
Rüstungen. Die Wähler sollen dafür sorgen, daß ein Reichstag zusammentritt,
der die bevorstehenden Mehrforderungen bewilligt. Die bürgerlichen Parteien
haben darauf keinen Einfluß mehr. Die Entscheidung über die Bewilligungs¬
freudigkeit des Reichstags liegt schon jetzt beim Zentrum und es wird daran
nichts geändert, mögen ein Dutzend Sozialdemokraten mehr oder weniger in den
Reichstag kommen. Mit dem Zentrum wird die Regierung um alles feilschen
müssen, was dem Vaterlande nottut. Was aber die Situation so außerordentlich
schwierig gestaltet, das ist die Notwendigkeit, neue Mittel aufbringen zu müssen,
die uns entweder zur Pumpwirtschaft zurückführen oder aber neue Steuern
auferlegen. Da jedoch nach verschiedenen Versicherungen der Regierung mit der
Pumpwirtschaft endgültig gebrochen wurde, bildet die Hauptbelastungsprobe des
neuen Reichstags nicht so sehr die Heeresforderung an sich -- ich kann mir
denken, daß unter gewissen Voraussetzungen die Sozialdemokraten nicht ver¬
sagen werden -- als die Deckungsfrage, das heißt die Art der neu aufzu¬
bringenden Steuern. Und damit taucht von neuem der Zankapfel auf, der im
Jahre 1908 die nationalen Parteien ausetnandertrieb. Wir dürfen von den
Konservativen nicht erwarten, daß sie heute jene Steuern bewilligen, gegen
die sie sich vor zwei Jahren so energisch wehrten, und können von Libe¬
ralen und Sozialdemokraten nicht annehmen, daß sie sich aus "nationalen
Rücksichten" zu erneuten Lasten für die großen Massen verstehen. Der inter¬
nationale Horizont sieht recht bedrohlich aus, und einer Ergänzung unserer
Wehrstreitkräfte bedürfen wir dringend. In gleichem Maße beansprucht aber
der wirtschaftliche und soziale Ausgleich in: Innern, der durch die letzte Reichs¬
finanzreform ohne Zweifel schwer erschüttert wurde, der aufmerksamsten Fürsorge.
Der Zersplitterung der Nation muß endlich Einhalt geboten werden. Wenn
also die Regierung die Mahnung an die Wähler richtet, so zu wählen, daß
die Sicherheit des Vaterlandes gewährleistet bleibt, so sei daran erinnert, daß
die Gesundheit des Reiches und demgemäß die Fähigkeit, Macht nach außen
zu entfalten, auf der Sicherheit der finanziellen und wirtschaftlichen Lage der
Nation beruht. Danach wird jeder, der seine staatsbürgerlichen Pflichten mut¬
G, Li, voll auszuüben gedenkt, bei der Stichwahl handeln müssen.


Reichsspiegel

Wallotbau einziehen, die Sozialdemokratie eine Schar von 90 bis 100 entsenden;
die Fähnlein aller Konservativen mögen mit 55 bis 60, die der Liberalen mit
80 bis 90 Köpfen aufwarten. Dazu käme dann noch das Treibholz der
Polen, Dänen, Lothringer, Welsen und Wilden, das häufig genug imstande
war, den Abstimmungen des Reichstages eine unerwartete Wendung zu geben.
So wird denn das gleiche Ringen, das von 1903 bis 1907 die Kräfte der
Regierung lahmlegte, von neuem beginnen, und wir werden kaum einen Ausweg
aus dem Labyrinth einander widerstrebender Wünsche und Ansprüche finden,
wenn nicht ein Alexander auftritt, den gordischen Knoten zu durchschlagen.

Die Regierung glaubt noch in letzter Stunde dem Wahlschiff einen
festen Kurs geben zu können durch den Hinweis auf die Notwendigkeit neuer
Rüstungen. Die Wähler sollen dafür sorgen, daß ein Reichstag zusammentritt,
der die bevorstehenden Mehrforderungen bewilligt. Die bürgerlichen Parteien
haben darauf keinen Einfluß mehr. Die Entscheidung über die Bewilligungs¬
freudigkeit des Reichstags liegt schon jetzt beim Zentrum und es wird daran
nichts geändert, mögen ein Dutzend Sozialdemokraten mehr oder weniger in den
Reichstag kommen. Mit dem Zentrum wird die Regierung um alles feilschen
müssen, was dem Vaterlande nottut. Was aber die Situation so außerordentlich
schwierig gestaltet, das ist die Notwendigkeit, neue Mittel aufbringen zu müssen,
die uns entweder zur Pumpwirtschaft zurückführen oder aber neue Steuern
auferlegen. Da jedoch nach verschiedenen Versicherungen der Regierung mit der
Pumpwirtschaft endgültig gebrochen wurde, bildet die Hauptbelastungsprobe des
neuen Reichstags nicht so sehr die Heeresforderung an sich — ich kann mir
denken, daß unter gewissen Voraussetzungen die Sozialdemokraten nicht ver¬
sagen werden — als die Deckungsfrage, das heißt die Art der neu aufzu¬
bringenden Steuern. Und damit taucht von neuem der Zankapfel auf, der im
Jahre 1908 die nationalen Parteien ausetnandertrieb. Wir dürfen von den
Konservativen nicht erwarten, daß sie heute jene Steuern bewilligen, gegen
die sie sich vor zwei Jahren so energisch wehrten, und können von Libe¬
ralen und Sozialdemokraten nicht annehmen, daß sie sich aus „nationalen
Rücksichten" zu erneuten Lasten für die großen Massen verstehen. Der inter¬
nationale Horizont sieht recht bedrohlich aus, und einer Ergänzung unserer
Wehrstreitkräfte bedürfen wir dringend. In gleichem Maße beansprucht aber
der wirtschaftliche und soziale Ausgleich in: Innern, der durch die letzte Reichs¬
finanzreform ohne Zweifel schwer erschüttert wurde, der aufmerksamsten Fürsorge.
Der Zersplitterung der Nation muß endlich Einhalt geboten werden. Wenn
also die Regierung die Mahnung an die Wähler richtet, so zu wählen, daß
die Sicherheit des Vaterlandes gewährleistet bleibt, so sei daran erinnert, daß
die Gesundheit des Reiches und demgemäß die Fähigkeit, Macht nach außen
zu entfalten, auf der Sicherheit der finanziellen und wirtschaftlichen Lage der
Nation beruht. Danach wird jeder, der seine staatsbürgerlichen Pflichten mut¬
G, Li, voll auszuüben gedenkt, bei der Stichwahl handeln müssen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/152>, abgerufen am 29.12.2024.