Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

unser Mißgeschick entgelten lassen, im Leben der Völker richtet die Mißstimmung
sich gegen alles, was irgendwie mit staatlicher Autorität in Zusammenhang
gebracht werden könnte. Und wie der Jüngling in solcher Stimmung dem
eigennützigen "Freunde" eher glaubt als Vater und Mutter, so stürmt die Masse
hinter redegewandten Agitatoren her, die den Augenblick nutzend hier ihre
Phantastereien, dort ihren materiellen Vorteil im Auge haben.

Seit Bismarcks Genius die Mehrheit der deutschen Stämme im neuen
Reiche einte, haben die Ideen, die am 18. Januar 1871 nicht voll durchgeführt
werden konnten, nicht aufgehört zu wirken. Kaum war der Friede geschlossen,
so traten, ohne die Konsolidierung des neuen Gebildes abzuwarten, die deutschen
Nationalisten auf den Plan mit der Forderung, weiter nach außen zu wirken,
die Slawen mit deutscher Kultur zu füllen und ihre Länder dem neuen Reiche
anzugliedern. Vismarck selbst nahm, auf die Stimmung im Lande vertrauend,
den Kampf gegen den Ultramontanismus und gegen die rote Internationale
auf. Wenn auch der Sieg ausblieb, dürfen wir ihn dafür doch als Erwecker
des Volkes feiern, da er gerade durch diese Niederlage in der inneren Politik das
Gedankenleben einer großen Mehrheit der Nation tief aufwühlte und sie für
die Befruchtung mit allerhand nützlichen Ideen erst empfänglich machte. Bismarcks
Politik nach der Einigung, getragen von dem Willen, das neue Reich innerlich
zu festigen und zu einem untrennbaren Organismus zusammenwachsen zu lassen,
richtete sich mit positiven Mitteln fast ausschließlich auf die Wirtschaft. In allen
kulturellen Fragen war sie entweder zurückhaltend oder, wie auch in den sozialen,
geradezu ablehnend, negierend. Bismarck hat z. B, die Jndustriearbeiterfrage
niemals von der Seite ihrer positiven Bedeutung für die Nation behandelt,
sondern stets nur von ihrer dem Reichsorganismus abträglichen. Demgemäß
hat er auch keine Verbindung zwischen ihr und den Aufgaben einer nationalen
Politik gefunden und sich mit dem Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeit¬
nehmer als einer Naturnotwendigkeit abgefunden, deren Schärfen wohl durch
die Gesetzgebung vorsichtig gemildert werden konnten, soweit sie nach seiner Auf¬
fassung rein soziale Dinge betrafen, deren politische Nebenerscheinungen aber als
staatsgefährlich mit aller Energie unterdrückt werden mußten.

Diese Auffassungen Bismarcks, an denen wir noch heute kranken, konnten
um so mehr Gemeingut des konservativen und liberalen Bürgertums werden,
je mehr sie den herrschenden Ansichten entgegenkamen und je weniger sie einen
Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitgeber befürchten ließen. Bei
den freien Berufsständen, soweit sie nicht vom Kathedersozialismus gefangen
waren, wurde die Auffassung als nationales Gebot hingenommen: bei den
Nationalisten im Hinblick auf die internationalen Beziehungen der vielfach
jüdischen Arbeiterführer, bei den Liberalen, weil das unbedingte Vertrauen in
Bismarcks Können eine eigene, innerlich verarbeitete Stellungnahme für oder
gegen überflüssig machte. Das Beharrungsvermögen, das dem Liberalismus
nach und nach allen Aufschwung genommen, feierte auch in der Arbeiter-


unser Mißgeschick entgelten lassen, im Leben der Völker richtet die Mißstimmung
sich gegen alles, was irgendwie mit staatlicher Autorität in Zusammenhang
gebracht werden könnte. Und wie der Jüngling in solcher Stimmung dem
eigennützigen „Freunde" eher glaubt als Vater und Mutter, so stürmt die Masse
hinter redegewandten Agitatoren her, die den Augenblick nutzend hier ihre
Phantastereien, dort ihren materiellen Vorteil im Auge haben.

Seit Bismarcks Genius die Mehrheit der deutschen Stämme im neuen
Reiche einte, haben die Ideen, die am 18. Januar 1871 nicht voll durchgeführt
werden konnten, nicht aufgehört zu wirken. Kaum war der Friede geschlossen,
so traten, ohne die Konsolidierung des neuen Gebildes abzuwarten, die deutschen
Nationalisten auf den Plan mit der Forderung, weiter nach außen zu wirken,
die Slawen mit deutscher Kultur zu füllen und ihre Länder dem neuen Reiche
anzugliedern. Vismarck selbst nahm, auf die Stimmung im Lande vertrauend,
den Kampf gegen den Ultramontanismus und gegen die rote Internationale
auf. Wenn auch der Sieg ausblieb, dürfen wir ihn dafür doch als Erwecker
des Volkes feiern, da er gerade durch diese Niederlage in der inneren Politik das
Gedankenleben einer großen Mehrheit der Nation tief aufwühlte und sie für
die Befruchtung mit allerhand nützlichen Ideen erst empfänglich machte. Bismarcks
Politik nach der Einigung, getragen von dem Willen, das neue Reich innerlich
zu festigen und zu einem untrennbaren Organismus zusammenwachsen zu lassen,
richtete sich mit positiven Mitteln fast ausschließlich auf die Wirtschaft. In allen
kulturellen Fragen war sie entweder zurückhaltend oder, wie auch in den sozialen,
geradezu ablehnend, negierend. Bismarck hat z. B, die Jndustriearbeiterfrage
niemals von der Seite ihrer positiven Bedeutung für die Nation behandelt,
sondern stets nur von ihrer dem Reichsorganismus abträglichen. Demgemäß
hat er auch keine Verbindung zwischen ihr und den Aufgaben einer nationalen
Politik gefunden und sich mit dem Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeit¬
nehmer als einer Naturnotwendigkeit abgefunden, deren Schärfen wohl durch
die Gesetzgebung vorsichtig gemildert werden konnten, soweit sie nach seiner Auf¬
fassung rein soziale Dinge betrafen, deren politische Nebenerscheinungen aber als
staatsgefährlich mit aller Energie unterdrückt werden mußten.

Diese Auffassungen Bismarcks, an denen wir noch heute kranken, konnten
um so mehr Gemeingut des konservativen und liberalen Bürgertums werden,
je mehr sie den herrschenden Ansichten entgegenkamen und je weniger sie einen
Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitgeber befürchten ließen. Bei
den freien Berufsständen, soweit sie nicht vom Kathedersozialismus gefangen
waren, wurde die Auffassung als nationales Gebot hingenommen: bei den
Nationalisten im Hinblick auf die internationalen Beziehungen der vielfach
jüdischen Arbeiterführer, bei den Liberalen, weil das unbedingte Vertrauen in
Bismarcks Können eine eigene, innerlich verarbeitete Stellungnahme für oder
gegen überflüssig machte. Das Beharrungsvermögen, das dem Liberalismus
nach und nach allen Aufschwung genommen, feierte auch in der Arbeiter-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320431"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_9" prev="#ID_8"> unser Mißgeschick entgelten lassen, im Leben der Völker richtet die Mißstimmung<lb/>
sich gegen alles, was irgendwie mit staatlicher Autorität in Zusammenhang<lb/>
gebracht werden könnte. Und wie der Jüngling in solcher Stimmung dem<lb/>
eigennützigen &#x201E;Freunde" eher glaubt als Vater und Mutter, so stürmt die Masse<lb/>
hinter redegewandten Agitatoren her, die den Augenblick nutzend hier ihre<lb/>
Phantastereien, dort ihren materiellen Vorteil im Auge haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_10"> Seit Bismarcks Genius die Mehrheit der deutschen Stämme im neuen<lb/>
Reiche einte, haben die Ideen, die am 18. Januar 1871 nicht voll durchgeführt<lb/>
werden konnten, nicht aufgehört zu wirken. Kaum war der Friede geschlossen,<lb/>
so traten, ohne die Konsolidierung des neuen Gebildes abzuwarten, die deutschen<lb/>
Nationalisten auf den Plan mit der Forderung, weiter nach außen zu wirken,<lb/>
die Slawen mit deutscher Kultur zu füllen und ihre Länder dem neuen Reiche<lb/>
anzugliedern. Vismarck selbst nahm, auf die Stimmung im Lande vertrauend,<lb/>
den Kampf gegen den Ultramontanismus und gegen die rote Internationale<lb/>
auf. Wenn auch der Sieg ausblieb, dürfen wir ihn dafür doch als Erwecker<lb/>
des Volkes feiern, da er gerade durch diese Niederlage in der inneren Politik das<lb/>
Gedankenleben einer großen Mehrheit der Nation tief aufwühlte und sie für<lb/>
die Befruchtung mit allerhand nützlichen Ideen erst empfänglich machte. Bismarcks<lb/>
Politik nach der Einigung, getragen von dem Willen, das neue Reich innerlich<lb/>
zu festigen und zu einem untrennbaren Organismus zusammenwachsen zu lassen,<lb/>
richtete sich mit positiven Mitteln fast ausschließlich auf die Wirtschaft. In allen<lb/>
kulturellen Fragen war sie entweder zurückhaltend oder, wie auch in den sozialen,<lb/>
geradezu ablehnend, negierend. Bismarck hat z. B, die Jndustriearbeiterfrage<lb/>
niemals von der Seite ihrer positiven Bedeutung für die Nation behandelt,<lb/>
sondern stets nur von ihrer dem Reichsorganismus abträglichen. Demgemäß<lb/>
hat er auch keine Verbindung zwischen ihr und den Aufgaben einer nationalen<lb/>
Politik gefunden und sich mit dem Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeit¬<lb/>
nehmer als einer Naturnotwendigkeit abgefunden, deren Schärfen wohl durch<lb/>
die Gesetzgebung vorsichtig gemildert werden konnten, soweit sie nach seiner Auf¬<lb/>
fassung rein soziale Dinge betrafen, deren politische Nebenerscheinungen aber als<lb/>
staatsgefährlich mit aller Energie unterdrückt werden mußten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_11" next="#ID_12"> Diese Auffassungen Bismarcks, an denen wir noch heute kranken, konnten<lb/>
um so mehr Gemeingut des konservativen und liberalen Bürgertums werden,<lb/>
je mehr sie den herrschenden Ansichten entgegenkamen und je weniger sie einen<lb/>
Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitgeber befürchten ließen. Bei<lb/>
den freien Berufsständen, soweit sie nicht vom Kathedersozialismus gefangen<lb/>
waren, wurde die Auffassung als nationales Gebot hingenommen: bei den<lb/>
Nationalisten im Hinblick auf die internationalen Beziehungen der vielfach<lb/>
jüdischen Arbeiterführer, bei den Liberalen, weil das unbedingte Vertrauen in<lb/>
Bismarcks Können eine eigene, innerlich verarbeitete Stellungnahme für oder<lb/>
gegen überflüssig machte. Das Beharrungsvermögen, das dem Liberalismus<lb/>
nach und nach allen Aufschwung genommen, feierte auch in der Arbeiter-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] unser Mißgeschick entgelten lassen, im Leben der Völker richtet die Mißstimmung sich gegen alles, was irgendwie mit staatlicher Autorität in Zusammenhang gebracht werden könnte. Und wie der Jüngling in solcher Stimmung dem eigennützigen „Freunde" eher glaubt als Vater und Mutter, so stürmt die Masse hinter redegewandten Agitatoren her, die den Augenblick nutzend hier ihre Phantastereien, dort ihren materiellen Vorteil im Auge haben. Seit Bismarcks Genius die Mehrheit der deutschen Stämme im neuen Reiche einte, haben die Ideen, die am 18. Januar 1871 nicht voll durchgeführt werden konnten, nicht aufgehört zu wirken. Kaum war der Friede geschlossen, so traten, ohne die Konsolidierung des neuen Gebildes abzuwarten, die deutschen Nationalisten auf den Plan mit der Forderung, weiter nach außen zu wirken, die Slawen mit deutscher Kultur zu füllen und ihre Länder dem neuen Reiche anzugliedern. Vismarck selbst nahm, auf die Stimmung im Lande vertrauend, den Kampf gegen den Ultramontanismus und gegen die rote Internationale auf. Wenn auch der Sieg ausblieb, dürfen wir ihn dafür doch als Erwecker des Volkes feiern, da er gerade durch diese Niederlage in der inneren Politik das Gedankenleben einer großen Mehrheit der Nation tief aufwühlte und sie für die Befruchtung mit allerhand nützlichen Ideen erst empfänglich machte. Bismarcks Politik nach der Einigung, getragen von dem Willen, das neue Reich innerlich zu festigen und zu einem untrennbaren Organismus zusammenwachsen zu lassen, richtete sich mit positiven Mitteln fast ausschließlich auf die Wirtschaft. In allen kulturellen Fragen war sie entweder zurückhaltend oder, wie auch in den sozialen, geradezu ablehnend, negierend. Bismarck hat z. B, die Jndustriearbeiterfrage niemals von der Seite ihrer positiven Bedeutung für die Nation behandelt, sondern stets nur von ihrer dem Reichsorganismus abträglichen. Demgemäß hat er auch keine Verbindung zwischen ihr und den Aufgaben einer nationalen Politik gefunden und sich mit dem Gegensatz zwischen Arbeitgeber und Arbeit¬ nehmer als einer Naturnotwendigkeit abgefunden, deren Schärfen wohl durch die Gesetzgebung vorsichtig gemildert werden konnten, soweit sie nach seiner Auf¬ fassung rein soziale Dinge betrafen, deren politische Nebenerscheinungen aber als staatsgefährlich mit aller Energie unterdrückt werden mußten. Diese Auffassungen Bismarcks, an denen wir noch heute kranken, konnten um so mehr Gemeingut des konservativen und liberalen Bürgertums werden, je mehr sie den herrschenden Ansichten entgegenkamen und je weniger sie einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Arbeitgeber befürchten ließen. Bei den freien Berufsständen, soweit sie nicht vom Kathedersozialismus gefangen waren, wurde die Auffassung als nationales Gebot hingenommen: bei den Nationalisten im Hinblick auf die internationalen Beziehungen der vielfach jüdischen Arbeiterführer, bei den Liberalen, weil das unbedingte Vertrauen in Bismarcks Können eine eigene, innerlich verarbeitete Stellungnahme für oder gegen überflüssig machte. Das Beharrungsvermögen, das dem Liberalismus nach und nach allen Aufschwung genommen, feierte auch in der Arbeiter-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/14
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_320416/14>, abgerufen am 27.09.2024.