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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Die geistig Minderwertigen

rechnungsfähigkeit" längst gerichtlich abgestempelt haben und als Schutzschild
vorhalten. Sie könnten dann nur nach den "Vorschriften über den Versuch"
bestraft werden. Todesstrafe wäre ausgeschlossen. Für den Kenner der Ver¬
hältnisse kann es gar nicht zweifelhaft sein, daß gar mancher Mörder von der
Todesstrafe nicht mehr zu erreichen wäre, und daß für zahlreiche Mitglieder des
allergefährlichsten Gesindels ein wirksames Hemmungsmittel fortfiele.

Ernste Bedenken wären gegen die Ausdehnung der Todesstrafe auf die
oben bezeichneten moralisch Entarteten unter den geistig Minderwertigen nur
unter dem Gesichtspunkt zu erheben, daß der Sachverständige sich in seiner
Diagnose irren und einen wirklich Geisteskranken lediglich als geistig minder¬
wertig begutachten könnte. Hierauf wäre zu erwidern, daß nach dem Urteil von
erfahrenen Psychiatern die Abgrenzung der "Zwischenstufen" gegen die aus¬
gesprochen Geisteskranken nicht so überaus schwierig ist. Selbstverständlich wären
in den Fällen, in denen Todesstrafe in Betracht kommt, nur die erfahrensten
Sachverständigen von anerkannter Bedeutung heranzuziehen. Wer im übrigen
die Vollstreckung der Todesstrafe an geistig Minderwertigen überhaupt nicht für
zulässig hält, übersehe nicht, daß ja nach dem zurzeit noch herrschenden Straf¬
gesetz die Individuen, um deren Kopf er so besorgt ist, größtenteils als zurech¬
nungsfähig betrachtet werden müssen, da wir die Zwischenstufe noch nicht haben.
Heute legt mancher seinen Kopf unter das Beil, der unter dem zukünftigen
Strafrecht zu der Zwischenstufe gehört. Ist's wirklich so schlimm, daß die
gefährlichsten Scheusale auch in Zukunft vernichtet werden sollen, selbst wenn
ihr Gehirn minderwertig ist?

Die Aussicht auf die ziemlich milde Strafe für die Versuchshandlung und
auf die im schlimmsten Fall darauf folgende lebenslängliche Verwahrung in
einer "Heil- und Pflegeanstalt" würde manchen nicht vom Mord zurückhalten,
der sich's bei ernsterer Gefahr doch anders überlegen würde. Die Sätze Bindings:
"Die großen Verbrecher müssen zum mindesten wissen, daß auch sie ihr Leben
einsetzen. Das Leben ihrer Opfer amtlich geringer zu werten als ihr eigenes,
wäre der denkbar größte Fehlgriff der Gesetzgebung", die so trefflich die Frage
der Berechtigung der Todesstrafe im allgemeinen beleuchten, müssen auch für die
geistig minderwertigen Mörder gelten, wenn anders dieser Strafe überhaupt
genügende Wirksamkeit gesichert bleiben soll.

Zu den Gründen, die manchen die Schaffung der strafrechtlichen Zwischen¬
stufe bedenklich erscheinen lassen, gehört in erster Linie neben dem eingangs
Mitgeteilten die Befürchtung, daß die Rechtssicherheit Not leide. Daß diese
Befürchtung durch die Formulierung des Vorentwurfs nicht gegenstandslos
geworden ist, wird nicht geleugnet werden können. Wird die Bestimmung des
Vorentwurfs Gesetz, so wird das vielfach jetzt vorhandene Mißtrauen gegen die
Psychiater wahrscheinlich noch vermehrt werden. Denn deren Sache ist es ja
nicht, sich um die etwaigen bedenklichen Folgen ihrer Gutachten zu kümmern.
Sie haben vielmehr lediglich die ihnen vorgelegten Fragen zu beantworten;


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rechnungsfähigkeit" längst gerichtlich abgestempelt haben und als Schutzschild
vorhalten. Sie könnten dann nur nach den „Vorschriften über den Versuch"
bestraft werden. Todesstrafe wäre ausgeschlossen. Für den Kenner der Ver¬
hältnisse kann es gar nicht zweifelhaft sein, daß gar mancher Mörder von der
Todesstrafe nicht mehr zu erreichen wäre, und daß für zahlreiche Mitglieder des
allergefährlichsten Gesindels ein wirksames Hemmungsmittel fortfiele.

Ernste Bedenken wären gegen die Ausdehnung der Todesstrafe auf die
oben bezeichneten moralisch Entarteten unter den geistig Minderwertigen nur
unter dem Gesichtspunkt zu erheben, daß der Sachverständige sich in seiner
Diagnose irren und einen wirklich Geisteskranken lediglich als geistig minder¬
wertig begutachten könnte. Hierauf wäre zu erwidern, daß nach dem Urteil von
erfahrenen Psychiatern die Abgrenzung der „Zwischenstufen" gegen die aus¬
gesprochen Geisteskranken nicht so überaus schwierig ist. Selbstverständlich wären
in den Fällen, in denen Todesstrafe in Betracht kommt, nur die erfahrensten
Sachverständigen von anerkannter Bedeutung heranzuziehen. Wer im übrigen
die Vollstreckung der Todesstrafe an geistig Minderwertigen überhaupt nicht für
zulässig hält, übersehe nicht, daß ja nach dem zurzeit noch herrschenden Straf¬
gesetz die Individuen, um deren Kopf er so besorgt ist, größtenteils als zurech¬
nungsfähig betrachtet werden müssen, da wir die Zwischenstufe noch nicht haben.
Heute legt mancher seinen Kopf unter das Beil, der unter dem zukünftigen
Strafrecht zu der Zwischenstufe gehört. Ist's wirklich so schlimm, daß die
gefährlichsten Scheusale auch in Zukunft vernichtet werden sollen, selbst wenn
ihr Gehirn minderwertig ist?

Die Aussicht auf die ziemlich milde Strafe für die Versuchshandlung und
auf die im schlimmsten Fall darauf folgende lebenslängliche Verwahrung in
einer „Heil- und Pflegeanstalt" würde manchen nicht vom Mord zurückhalten,
der sich's bei ernsterer Gefahr doch anders überlegen würde. Die Sätze Bindings:
„Die großen Verbrecher müssen zum mindesten wissen, daß auch sie ihr Leben
einsetzen. Das Leben ihrer Opfer amtlich geringer zu werten als ihr eigenes,
wäre der denkbar größte Fehlgriff der Gesetzgebung", die so trefflich die Frage
der Berechtigung der Todesstrafe im allgemeinen beleuchten, müssen auch für die
geistig minderwertigen Mörder gelten, wenn anders dieser Strafe überhaupt
genügende Wirksamkeit gesichert bleiben soll.

Zu den Gründen, die manchen die Schaffung der strafrechtlichen Zwischen¬
stufe bedenklich erscheinen lassen, gehört in erster Linie neben dem eingangs
Mitgeteilten die Befürchtung, daß die Rechtssicherheit Not leide. Daß diese
Befürchtung durch die Formulierung des Vorentwurfs nicht gegenstandslos
geworden ist, wird nicht geleugnet werden können. Wird die Bestimmung des
Vorentwurfs Gesetz, so wird das vielfach jetzt vorhandene Mißtrauen gegen die
Psychiater wahrscheinlich noch vermehrt werden. Denn deren Sache ist es ja
nicht, sich um die etwaigen bedenklichen Folgen ihrer Gutachten zu kümmern.
Sie haben vielmehr lediglich die ihnen vorgelegten Fragen zu beantworten;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/80>, abgerufen am 23.07.2024.