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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Aus dein Königreich Hellas

Am 17. September erschien der hellenische Dampfer Spezzia, Staats¬
männer und sonstige Persönlichkeiten von Ruf an Bord, um Venizelos feierlich
von Kreta nach Athen zu geleiten. Kaum war er gelandet und im Grand
Hotel am Syntagma-(Verfassungs-)Platz angekommen, da begehrte ihn das
Volk von Athen zu sehen: ein von der Offiziersliga gut inszenierter erster Akt!
Venezilos trat auf den Balkon und riß in fesselnder Rede die Zuhörer hin.
Im Kabinett Dragumis hatte Oberst Zorbas, das Haupt der Offiziersliga,
das Kriegsministerium übernommen. Der Ministerpräsident berief dann eine
revidierende Nationalversammlung -- eine solche zählt die doppelte Anzahl der
Abgeordneten -- ein. Nachdem der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte,
konnte er (Dragumis) gehen. Bei den Verhandlungen über ein neues Kabinett
hätte nach der parlamentarischen Überlieferung der Präsident der National¬
versammlung, Herr von Hoeßlin, mit der Bildung eines neuen Kabinetts be¬
traut werden sollen, da keine andere Majorität als die von ihm repräsentierte
Kammer existierte. Theotokis schlug Venizelos zur Bildung eines neuen Kabinetts
vor. Wunderbarerweise hat bei Lösung der Kabinettsfrage ausländischer Ein¬
fluß mitwirkt. Der in Athen akkreditierte englische Gesandte Elliot trat beim
Könige sehr warm für Venizelos ein, und der König entsprach seiner Meinung.
Offiziell wird allerdings angeführt, die maßlosen Angriffe der sozusagen in
Athen über Nacht auf Kommando entstandenen Venizelospresse auf Herrn
von Hößlin hätten den König dazu veranlaßt. Sozusagen mit der roten Mappe
unter dem Arm erschien dann Venizelos als Ministerpräsident vor der revi¬
dierenden Nationalversammlung. Nach viertägiger Ministerkrisis verlangte er
von ihr ein uneingeschränktes Vertrauensvotum ohne jeden Vorbehalt, also mit
einem Worte die Erklärung, das Parlament wolle mit einem wildfremden
Staatsmanne, der das Land ja doch noch gar nicht kannte, durch "dick und
dünn" gehen: ein Unikum in der Geschichte aller Parlamente! Nur in Athen
sind derartige Parlamentsfarcen möglich. Zu diesen gehört es auch, daß am
entscheidenden Abstimmnngstage Unteroffiziere von der Liga als Zuschauer in
den Sitzungssaal der Nationalversammlung kommandiert worden waren. Sie
waren parlamentarisch genug gebildet, um im gegebenen Augenblick auf die
Abgeordneten einen sanften Druck auszuüben. Trotzdem wurde das Vertrauens¬
votum nicht einstimmig abgegeben. Auf den entsprechenden Vortrag beim Könige
wurde am 25. Oktober die Nationalversammlung aufgelöst. "Das ist ein
Praxikopima, ein Staatsstreich!" schrieen die Gegner, die Häuptlinge der alten
Parteien. Das gesamte Volk nahm aber den "Staatsstreich" sehr ruhig hin
und verhielt sich den staatsjuristischen Erörterungen desselben in der Anti-
venizelos-Presse gegenüber sehr kühl. Theotokis, Ralli und Mavromichali er¬
klärten nach Auflösung der Nationalversammlung, sie wollten sich von den
Wahlen zu einer zweiten revidierenden Volksversammlung zurückziehen, weil
dieselbe ungesetzlich sei. Diese Erklärung ist nicht ohne Bedeutung, da, wie ja
auch schon früher, die Erhebung einer Untersuchung wegen verfassungswidriger


Aus dein Königreich Hellas

Am 17. September erschien der hellenische Dampfer Spezzia, Staats¬
männer und sonstige Persönlichkeiten von Ruf an Bord, um Venizelos feierlich
von Kreta nach Athen zu geleiten. Kaum war er gelandet und im Grand
Hotel am Syntagma-(Verfassungs-)Platz angekommen, da begehrte ihn das
Volk von Athen zu sehen: ein von der Offiziersliga gut inszenierter erster Akt!
Venezilos trat auf den Balkon und riß in fesselnder Rede die Zuhörer hin.
Im Kabinett Dragumis hatte Oberst Zorbas, das Haupt der Offiziersliga,
das Kriegsministerium übernommen. Der Ministerpräsident berief dann eine
revidierende Nationalversammlung — eine solche zählt die doppelte Anzahl der
Abgeordneten — ein. Nachdem der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte,
konnte er (Dragumis) gehen. Bei den Verhandlungen über ein neues Kabinett
hätte nach der parlamentarischen Überlieferung der Präsident der National¬
versammlung, Herr von Hoeßlin, mit der Bildung eines neuen Kabinetts be¬
traut werden sollen, da keine andere Majorität als die von ihm repräsentierte
Kammer existierte. Theotokis schlug Venizelos zur Bildung eines neuen Kabinetts
vor. Wunderbarerweise hat bei Lösung der Kabinettsfrage ausländischer Ein¬
fluß mitwirkt. Der in Athen akkreditierte englische Gesandte Elliot trat beim
Könige sehr warm für Venizelos ein, und der König entsprach seiner Meinung.
Offiziell wird allerdings angeführt, die maßlosen Angriffe der sozusagen in
Athen über Nacht auf Kommando entstandenen Venizelospresse auf Herrn
von Hößlin hätten den König dazu veranlaßt. Sozusagen mit der roten Mappe
unter dem Arm erschien dann Venizelos als Ministerpräsident vor der revi¬
dierenden Nationalversammlung. Nach viertägiger Ministerkrisis verlangte er
von ihr ein uneingeschränktes Vertrauensvotum ohne jeden Vorbehalt, also mit
einem Worte die Erklärung, das Parlament wolle mit einem wildfremden
Staatsmanne, der das Land ja doch noch gar nicht kannte, durch „dick und
dünn" gehen: ein Unikum in der Geschichte aller Parlamente! Nur in Athen
sind derartige Parlamentsfarcen möglich. Zu diesen gehört es auch, daß am
entscheidenden Abstimmnngstage Unteroffiziere von der Liga als Zuschauer in
den Sitzungssaal der Nationalversammlung kommandiert worden waren. Sie
waren parlamentarisch genug gebildet, um im gegebenen Augenblick auf die
Abgeordneten einen sanften Druck auszuüben. Trotzdem wurde das Vertrauens¬
votum nicht einstimmig abgegeben. Auf den entsprechenden Vortrag beim Könige
wurde am 25. Oktober die Nationalversammlung aufgelöst. „Das ist ein
Praxikopima, ein Staatsstreich!" schrieen die Gegner, die Häuptlinge der alten
Parteien. Das gesamte Volk nahm aber den „Staatsstreich" sehr ruhig hin
und verhielt sich den staatsjuristischen Erörterungen desselben in der Anti-
venizelos-Presse gegenüber sehr kühl. Theotokis, Ralli und Mavromichali er¬
klärten nach Auflösung der Nationalversammlung, sie wollten sich von den
Wahlen zu einer zweiten revidierenden Volksversammlung zurückziehen, weil
dieselbe ungesetzlich sei. Diese Erklärung ist nicht ohne Bedeutung, da, wie ja
auch schon früher, die Erhebung einer Untersuchung wegen verfassungswidriger


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[0066] Aus dein Königreich Hellas Am 17. September erschien der hellenische Dampfer Spezzia, Staats¬ männer und sonstige Persönlichkeiten von Ruf an Bord, um Venizelos feierlich von Kreta nach Athen zu geleiten. Kaum war er gelandet und im Grand Hotel am Syntagma-(Verfassungs-)Platz angekommen, da begehrte ihn das Volk von Athen zu sehen: ein von der Offiziersliga gut inszenierter erster Akt! Venezilos trat auf den Balkon und riß in fesselnder Rede die Zuhörer hin. Im Kabinett Dragumis hatte Oberst Zorbas, das Haupt der Offiziersliga, das Kriegsministerium übernommen. Der Ministerpräsident berief dann eine revidierende Nationalversammlung — eine solche zählt die doppelte Anzahl der Abgeordneten — ein. Nachdem der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte, konnte er (Dragumis) gehen. Bei den Verhandlungen über ein neues Kabinett hätte nach der parlamentarischen Überlieferung der Präsident der National¬ versammlung, Herr von Hoeßlin, mit der Bildung eines neuen Kabinetts be¬ traut werden sollen, da keine andere Majorität als die von ihm repräsentierte Kammer existierte. Theotokis schlug Venizelos zur Bildung eines neuen Kabinetts vor. Wunderbarerweise hat bei Lösung der Kabinettsfrage ausländischer Ein¬ fluß mitwirkt. Der in Athen akkreditierte englische Gesandte Elliot trat beim Könige sehr warm für Venizelos ein, und der König entsprach seiner Meinung. Offiziell wird allerdings angeführt, die maßlosen Angriffe der sozusagen in Athen über Nacht auf Kommando entstandenen Venizelospresse auf Herrn von Hößlin hätten den König dazu veranlaßt. Sozusagen mit der roten Mappe unter dem Arm erschien dann Venizelos als Ministerpräsident vor der revi¬ dierenden Nationalversammlung. Nach viertägiger Ministerkrisis verlangte er von ihr ein uneingeschränktes Vertrauensvotum ohne jeden Vorbehalt, also mit einem Worte die Erklärung, das Parlament wolle mit einem wildfremden Staatsmanne, der das Land ja doch noch gar nicht kannte, durch „dick und dünn" gehen: ein Unikum in der Geschichte aller Parlamente! Nur in Athen sind derartige Parlamentsfarcen möglich. Zu diesen gehört es auch, daß am entscheidenden Abstimmnngstage Unteroffiziere von der Liga als Zuschauer in den Sitzungssaal der Nationalversammlung kommandiert worden waren. Sie waren parlamentarisch genug gebildet, um im gegebenen Augenblick auf die Abgeordneten einen sanften Druck auszuüben. Trotzdem wurde das Vertrauens¬ votum nicht einstimmig abgegeben. Auf den entsprechenden Vortrag beim Könige wurde am 25. Oktober die Nationalversammlung aufgelöst. „Das ist ein Praxikopima, ein Staatsstreich!" schrieen die Gegner, die Häuptlinge der alten Parteien. Das gesamte Volk nahm aber den „Staatsstreich" sehr ruhig hin und verhielt sich den staatsjuristischen Erörterungen desselben in der Anti- venizelos-Presse gegenüber sehr kühl. Theotokis, Ralli und Mavromichali er¬ klärten nach Auflösung der Nationalversammlung, sie wollten sich von den Wahlen zu einer zweiten revidierenden Volksversammlung zurückziehen, weil dieselbe ungesetzlich sei. Diese Erklärung ist nicht ohne Bedeutung, da, wie ja auch schon früher, die Erhebung einer Untersuchung wegen verfassungswidriger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/66>, abgerufen am 23.07.2024.