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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Gottfried Haberkorfs Irrtum

Liebste! dachte er und versank eine Weile in der Erinnerung der vergangenen
Nacht. Doch plötzlich stelzte durch blauen Himmelsschein und grünes Felderwogen
dürr und klapprig das Wort Moral daher.

Wie? dachte Gottfried, du hast mir bislang keine Pein gemacht, was willst
du von mir? Haben wir uns nicht wiederholt auseinandergesetzt und wissen, was
wir voneinander zu halten haben?

Freilich, ein so nahes, gewissermaßen praktisches Verhältnis hatte er zur
Moral bislang nicht gehabt. Und nun pflanzte sie sich vor ihn hin und schuf ihm
Unruhe. Und auf dem ganzen anderthalbstündiger Wege riß er sich mit ihr herum
und wußte nicht, ob er nun Sieger war oder sie. Mißmutig zog er in dem Dorfe
ein, wo sich die Lehrerschaft der Umgegend im "Gasthaus zum grünen Jäger" ver¬
sammelte. Wie er durch die Gärten schritt, schwang sich über eine Hecke ein süßer
Goldlackduft und hauchte ihn an. Da erstand mit einem Male die schöne, warme
Wirklichkeit der vergangenen Nacht vor ihm, und das Wort Moral schnitt eine
greuliche Fratze und zog ab. Gottfried Haberkorf aber reckte sich, fühlte Säcke voll
Mut und Kraft in sich und pfiff befreit ein Lied.

In der Konferenz war er außergewöhnlich aufgeräumt, nahm verschiedentlich
das Wort zur Debatte, als ein pädagogischer Vortrag gehalten war, und hielt
hernach aus dem Stegreif ein kurzes, schneidiges Referat über das Ergebnis seiner
Liederbuchprüfung.

"Donnerwetter!" meinte Kantor Heineke, "der ist ja mächtig ausgekratzt."

"Na, ich werd' ihm gleich," antwortete der alte Hohne von Tümpelhagen,
"wenn er so'n Lied von den Kindern singen lassen will."

Es handelte sich um ein altes Volks- und Liebeslied, das in dem Lieder¬
buche stand.

"Haben Sie das Lied .Schatz, lieber Schatz' nicht bemerkt, Kollege?" fragte
er freundlich.

"Doch!" sagte Gottfried, "dies und auch die anderen Liebeslieder."

"Ssso!" sagte Kantor Hohne kurz. "Sie wollen also unsere reinen Kinder¬
seelen mit Liebesliedern füttern? Ich aber sage Ihnen, daß unsere Kinder früh
genug an zu liebeln fangen, und daß es wahrhaftig nicht nötig ist, sie darin zu
unterstützen."

Wüpp! da saß er wieder auf seinem Stuhle.

"Sie haben recht, Herr Kantor, unsere Kinderseelen sind rein und unver¬
dorben, deshalb möchte ich auch reine Liebeslieder hineinpflanzen, damit hernach
kein Raum für unsaubere bleibt."

"Das ist fein, man immer früh genug mit Schatz und Liebe und Küssen
bekannt machen -- aber -- aber --"

Er vertodderte sich, setzte sich wütend und rührte aufgeregt in seinem Kaffee.

Gottfried lächelte still und schwieg. Er war kein Streiter.

"Ich meine," rief da sein Widerpart, "wo bleibt da die Moral?"

Moral? Sieh einer, da war sie also doch wieder!

"Bitte, Herr Kantor, was ist Moral?"

"Was, waas? Was Moral ist? Das weiß jeder wahre Christ, das wissen
Sie so gut wie ich und überhaupt -- überhaupt alle."

Bums!


Grenzboten IV 1911 82
Gottfried Haberkorfs Irrtum

Liebste! dachte er und versank eine Weile in der Erinnerung der vergangenen
Nacht. Doch plötzlich stelzte durch blauen Himmelsschein und grünes Felderwogen
dürr und klapprig das Wort Moral daher.

Wie? dachte Gottfried, du hast mir bislang keine Pein gemacht, was willst
du von mir? Haben wir uns nicht wiederholt auseinandergesetzt und wissen, was
wir voneinander zu halten haben?

Freilich, ein so nahes, gewissermaßen praktisches Verhältnis hatte er zur
Moral bislang nicht gehabt. Und nun pflanzte sie sich vor ihn hin und schuf ihm
Unruhe. Und auf dem ganzen anderthalbstündiger Wege riß er sich mit ihr herum
und wußte nicht, ob er nun Sieger war oder sie. Mißmutig zog er in dem Dorfe
ein, wo sich die Lehrerschaft der Umgegend im „Gasthaus zum grünen Jäger" ver¬
sammelte. Wie er durch die Gärten schritt, schwang sich über eine Hecke ein süßer
Goldlackduft und hauchte ihn an. Da erstand mit einem Male die schöne, warme
Wirklichkeit der vergangenen Nacht vor ihm, und das Wort Moral schnitt eine
greuliche Fratze und zog ab. Gottfried Haberkorf aber reckte sich, fühlte Säcke voll
Mut und Kraft in sich und pfiff befreit ein Lied.

In der Konferenz war er außergewöhnlich aufgeräumt, nahm verschiedentlich
das Wort zur Debatte, als ein pädagogischer Vortrag gehalten war, und hielt
hernach aus dem Stegreif ein kurzes, schneidiges Referat über das Ergebnis seiner
Liederbuchprüfung.

„Donnerwetter!" meinte Kantor Heineke, „der ist ja mächtig ausgekratzt."

„Na, ich werd' ihm gleich," antwortete der alte Hohne von Tümpelhagen,
„wenn er so'n Lied von den Kindern singen lassen will."

Es handelte sich um ein altes Volks- und Liebeslied, das in dem Lieder¬
buche stand.

„Haben Sie das Lied .Schatz, lieber Schatz' nicht bemerkt, Kollege?" fragte
er freundlich.

„Doch!" sagte Gottfried, „dies und auch die anderen Liebeslieder."

„Ssso!" sagte Kantor Hohne kurz. „Sie wollen also unsere reinen Kinder¬
seelen mit Liebesliedern füttern? Ich aber sage Ihnen, daß unsere Kinder früh
genug an zu liebeln fangen, und daß es wahrhaftig nicht nötig ist, sie darin zu
unterstützen."

Wüpp! da saß er wieder auf seinem Stuhle.

„Sie haben recht, Herr Kantor, unsere Kinderseelen sind rein und unver¬
dorben, deshalb möchte ich auch reine Liebeslieder hineinpflanzen, damit hernach
kein Raum für unsaubere bleibt."

„Das ist fein, man immer früh genug mit Schatz und Liebe und Küssen
bekannt machen — aber — aber —"

Er vertodderte sich, setzte sich wütend und rührte aufgeregt in seinem Kaffee.

Gottfried lächelte still und schwieg. Er war kein Streiter.

„Ich meine," rief da sein Widerpart, „wo bleibt da die Moral?"

Moral? Sieh einer, da war sie also doch wieder!

„Bitte, Herr Kantor, was ist Moral?"

„Was, waas? Was Moral ist? Das weiß jeder wahre Christ, das wissen
Sie so gut wie ich und überhaupt — überhaupt alle."

Bums!


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[0657] Gottfried Haberkorfs Irrtum Liebste! dachte er und versank eine Weile in der Erinnerung der vergangenen Nacht. Doch plötzlich stelzte durch blauen Himmelsschein und grünes Felderwogen dürr und klapprig das Wort Moral daher. Wie? dachte Gottfried, du hast mir bislang keine Pein gemacht, was willst du von mir? Haben wir uns nicht wiederholt auseinandergesetzt und wissen, was wir voneinander zu halten haben? Freilich, ein so nahes, gewissermaßen praktisches Verhältnis hatte er zur Moral bislang nicht gehabt. Und nun pflanzte sie sich vor ihn hin und schuf ihm Unruhe. Und auf dem ganzen anderthalbstündiger Wege riß er sich mit ihr herum und wußte nicht, ob er nun Sieger war oder sie. Mißmutig zog er in dem Dorfe ein, wo sich die Lehrerschaft der Umgegend im „Gasthaus zum grünen Jäger" ver¬ sammelte. Wie er durch die Gärten schritt, schwang sich über eine Hecke ein süßer Goldlackduft und hauchte ihn an. Da erstand mit einem Male die schöne, warme Wirklichkeit der vergangenen Nacht vor ihm, und das Wort Moral schnitt eine greuliche Fratze und zog ab. Gottfried Haberkorf aber reckte sich, fühlte Säcke voll Mut und Kraft in sich und pfiff befreit ein Lied. In der Konferenz war er außergewöhnlich aufgeräumt, nahm verschiedentlich das Wort zur Debatte, als ein pädagogischer Vortrag gehalten war, und hielt hernach aus dem Stegreif ein kurzes, schneidiges Referat über das Ergebnis seiner Liederbuchprüfung. „Donnerwetter!" meinte Kantor Heineke, „der ist ja mächtig ausgekratzt." „Na, ich werd' ihm gleich," antwortete der alte Hohne von Tümpelhagen, „wenn er so'n Lied von den Kindern singen lassen will." Es handelte sich um ein altes Volks- und Liebeslied, das in dem Lieder¬ buche stand. „Haben Sie das Lied .Schatz, lieber Schatz' nicht bemerkt, Kollege?" fragte er freundlich. „Doch!" sagte Gottfried, „dies und auch die anderen Liebeslieder." „Ssso!" sagte Kantor Hohne kurz. „Sie wollen also unsere reinen Kinder¬ seelen mit Liebesliedern füttern? Ich aber sage Ihnen, daß unsere Kinder früh genug an zu liebeln fangen, und daß es wahrhaftig nicht nötig ist, sie darin zu unterstützen." Wüpp! da saß er wieder auf seinem Stuhle. „Sie haben recht, Herr Kantor, unsere Kinderseelen sind rein und unver¬ dorben, deshalb möchte ich auch reine Liebeslieder hineinpflanzen, damit hernach kein Raum für unsaubere bleibt." „Das ist fein, man immer früh genug mit Schatz und Liebe und Küssen bekannt machen — aber — aber —" Er vertodderte sich, setzte sich wütend und rührte aufgeregt in seinem Kaffee. Gottfried lächelte still und schwieg. Er war kein Streiter. „Ich meine," rief da sein Widerpart, „wo bleibt da die Moral?" Moral? Sieh einer, da war sie also doch wieder! „Bitte, Herr Kantor, was ist Moral?" „Was, waas? Was Moral ist? Das weiß jeder wahre Christ, das wissen Sie so gut wie ich und überhaupt — überhaupt alle." Bums! Grenzboten IV 1911 82

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/657>, abgerufen am 03.07.2024.