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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Alte Klagen, neue Fragen

würde darin bestehen, daß die je fünf Stunden Mathematik und Naturwissen¬
schaften in den Oberklassen des Realgymnasiums auf je vier beschränkt würden,
was nach den obigen Ausführungen denkbar ist, und daß anderseits für das
Gymnasium noch zwei Stunden Naturwissenschaft, d. h. Chemie und Biologie
in den Oberklassen gewonnen würden. Diese müßte dann allerdings das
Griechische hergeben, und das dürfte auch angängig sein, wenn man das Haupt¬
gewicht auf die Lektüre legt und diese sorgfältig auswählt. Die sechs Wochen¬
stunden in den mittleren Klassen müssen schon jetzt sür die grammatische Grund¬
legung ausreichen; es kann sich also in den Oberklassen nur um die Ausdehnung
und die größere oder geringere Schwierigkeit der Lektüre handeln. Und da läßt
sich ein Modus finden, z. B. wenn einige schwierigere Werke des Plato oder des
Thukydides in guten Übersetzungen gelesen werden.

Demnach könnte sich ein Lehrplan ergeben, der sür Gymnasium und Real¬
gymnasium in Religion, Deutsch, Latein, Geschichte, Erdkunde, Rechnen, Mathe¬
matik und Naturwissenschaften völlig gleich wäre; die Verschiedenheit würde mit
U III einsetzen derart, daß Parallelklassen errichtet werden, von denen die gym¬
nasialen in den Mittelklassen sechs Stunden Griechisch, die realgymnasialen statt
dessen etwa vier Stunden Englisch und zwei Stunden mehr Französisch, in den
Oberklassen die gymnasialen vier Stunden Griechisch, drei Stunden Französisch
bzw. Englisch, die realgymnasialen vier Stunden Französisch und drei Stunden
Englisch (oder umgekehrt) erhalten. Diese Verfassung müßte, wenn möglich,
jede gymnasiale und realgymnasiale Anstalt erhalten, dann wäre die unerfreu¬
liche Zwitterstellung des Realgymnasiums beseitigt und die Notstände des
Schulwechsels hörten wenigstens für Gymnasium und Realgymnasium auf.
Natürlich wäre es auch denkbar, daß Gymnasien und Realgymnasien mit dieser
Verfassung für sich existierten; dann wären die Wechselnöte zwar nicht ganz
beseitigt, aber doch auch außerordentlich gemildert.

Neben diesem vereinigten Gymnasium und Realgymnasium gäbe es dann
nur noch die Oberrealschule, die in ihrer ebenfalls einheitlich durchgebildeten
Eigenart insbesondere der Vorbereitung auf technische Berufe dient und das
Latein nur als praktisches Hilfsmittel aufnimmt, was allerdings die oben berührte
Entlastung der Naturwissenschaften notwendig machen würde.

Vorstehende Ausfährungen find für die Anstalten alten Stils gemacht.
Sie lassen sich aber auch auf die Neformanstalten anwenden, und wenn vor¬
geschlagen ist, die Vereinfachung der Schularten durch obligatorische Einführung
der Reformanstalten für Gymnasien und Realgymnasien herbeizuführen, so würde
ich nur den Wunsch hinzufügen, daß eben nur eine Reformschule geschaffen
würde mit der Gabelung in Griechisch und neuere Sprachen*).





Auch Friedrich Paulsen hat an die Möglichkeit einer Vereinfachung der Organisation
unserer höheren Schulen gedacht. In seinem Buch "Das deutsche Bildungswesen in seiner
geschichtlichen Entwicklung" (B, G. Teubner in Leipzig, S, Aufl. 19"g) äußert er, dasz vielleicht
eine Verschmelzung von Oberrealschule und Realgymnasium zu schaffen wäre: ein realistisches
Die Schriftltg. Einheitsgymnasium mit fakultativen Lnteinklassen,
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würde darin bestehen, daß die je fünf Stunden Mathematik und Naturwissen¬
schaften in den Oberklassen des Realgymnasiums auf je vier beschränkt würden,
was nach den obigen Ausführungen denkbar ist, und daß anderseits für das
Gymnasium noch zwei Stunden Naturwissenschaft, d. h. Chemie und Biologie
in den Oberklassen gewonnen würden. Diese müßte dann allerdings das
Griechische hergeben, und das dürfte auch angängig sein, wenn man das Haupt¬
gewicht auf die Lektüre legt und diese sorgfältig auswählt. Die sechs Wochen¬
stunden in den mittleren Klassen müssen schon jetzt sür die grammatische Grund¬
legung ausreichen; es kann sich also in den Oberklassen nur um die Ausdehnung
und die größere oder geringere Schwierigkeit der Lektüre handeln. Und da läßt
sich ein Modus finden, z. B. wenn einige schwierigere Werke des Plato oder des
Thukydides in guten Übersetzungen gelesen werden.

Demnach könnte sich ein Lehrplan ergeben, der sür Gymnasium und Real¬
gymnasium in Religion, Deutsch, Latein, Geschichte, Erdkunde, Rechnen, Mathe¬
matik und Naturwissenschaften völlig gleich wäre; die Verschiedenheit würde mit
U III einsetzen derart, daß Parallelklassen errichtet werden, von denen die gym¬
nasialen in den Mittelklassen sechs Stunden Griechisch, die realgymnasialen statt
dessen etwa vier Stunden Englisch und zwei Stunden mehr Französisch, in den
Oberklassen die gymnasialen vier Stunden Griechisch, drei Stunden Französisch
bzw. Englisch, die realgymnasialen vier Stunden Französisch und drei Stunden
Englisch (oder umgekehrt) erhalten. Diese Verfassung müßte, wenn möglich,
jede gymnasiale und realgymnasiale Anstalt erhalten, dann wäre die unerfreu¬
liche Zwitterstellung des Realgymnasiums beseitigt und die Notstände des
Schulwechsels hörten wenigstens für Gymnasium und Realgymnasium auf.
Natürlich wäre es auch denkbar, daß Gymnasien und Realgymnasien mit dieser
Verfassung für sich existierten; dann wären die Wechselnöte zwar nicht ganz
beseitigt, aber doch auch außerordentlich gemildert.

Neben diesem vereinigten Gymnasium und Realgymnasium gäbe es dann
nur noch die Oberrealschule, die in ihrer ebenfalls einheitlich durchgebildeten
Eigenart insbesondere der Vorbereitung auf technische Berufe dient und das
Latein nur als praktisches Hilfsmittel aufnimmt, was allerdings die oben berührte
Entlastung der Naturwissenschaften notwendig machen würde.

Vorstehende Ausfährungen find für die Anstalten alten Stils gemacht.
Sie lassen sich aber auch auf die Neformanstalten anwenden, und wenn vor¬
geschlagen ist, die Vereinfachung der Schularten durch obligatorische Einführung
der Reformanstalten für Gymnasien und Realgymnasien herbeizuführen, so würde
ich nur den Wunsch hinzufügen, daß eben nur eine Reformschule geschaffen
würde mit der Gabelung in Griechisch und neuere Sprachen*).





Auch Friedrich Paulsen hat an die Möglichkeit einer Vereinfachung der Organisation
unserer höheren Schulen gedacht. In seinem Buch „Das deutsche Bildungswesen in seiner
geschichtlichen Entwicklung" (B, G. Teubner in Leipzig, S, Aufl. 19»g) äußert er, dasz vielleicht
eine Verschmelzung von Oberrealschule und Realgymnasium zu schaffen wäre: ein realistisches
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[0646] Alte Klagen, neue Fragen würde darin bestehen, daß die je fünf Stunden Mathematik und Naturwissen¬ schaften in den Oberklassen des Realgymnasiums auf je vier beschränkt würden, was nach den obigen Ausführungen denkbar ist, und daß anderseits für das Gymnasium noch zwei Stunden Naturwissenschaft, d. h. Chemie und Biologie in den Oberklassen gewonnen würden. Diese müßte dann allerdings das Griechische hergeben, und das dürfte auch angängig sein, wenn man das Haupt¬ gewicht auf die Lektüre legt und diese sorgfältig auswählt. Die sechs Wochen¬ stunden in den mittleren Klassen müssen schon jetzt sür die grammatische Grund¬ legung ausreichen; es kann sich also in den Oberklassen nur um die Ausdehnung und die größere oder geringere Schwierigkeit der Lektüre handeln. Und da läßt sich ein Modus finden, z. B. wenn einige schwierigere Werke des Plato oder des Thukydides in guten Übersetzungen gelesen werden. Demnach könnte sich ein Lehrplan ergeben, der sür Gymnasium und Real¬ gymnasium in Religion, Deutsch, Latein, Geschichte, Erdkunde, Rechnen, Mathe¬ matik und Naturwissenschaften völlig gleich wäre; die Verschiedenheit würde mit U III einsetzen derart, daß Parallelklassen errichtet werden, von denen die gym¬ nasialen in den Mittelklassen sechs Stunden Griechisch, die realgymnasialen statt dessen etwa vier Stunden Englisch und zwei Stunden mehr Französisch, in den Oberklassen die gymnasialen vier Stunden Griechisch, drei Stunden Französisch bzw. Englisch, die realgymnasialen vier Stunden Französisch und drei Stunden Englisch (oder umgekehrt) erhalten. Diese Verfassung müßte, wenn möglich, jede gymnasiale und realgymnasiale Anstalt erhalten, dann wäre die unerfreu¬ liche Zwitterstellung des Realgymnasiums beseitigt und die Notstände des Schulwechsels hörten wenigstens für Gymnasium und Realgymnasium auf. Natürlich wäre es auch denkbar, daß Gymnasien und Realgymnasien mit dieser Verfassung für sich existierten; dann wären die Wechselnöte zwar nicht ganz beseitigt, aber doch auch außerordentlich gemildert. Neben diesem vereinigten Gymnasium und Realgymnasium gäbe es dann nur noch die Oberrealschule, die in ihrer ebenfalls einheitlich durchgebildeten Eigenart insbesondere der Vorbereitung auf technische Berufe dient und das Latein nur als praktisches Hilfsmittel aufnimmt, was allerdings die oben berührte Entlastung der Naturwissenschaften notwendig machen würde. Vorstehende Ausfährungen find für die Anstalten alten Stils gemacht. Sie lassen sich aber auch auf die Neformanstalten anwenden, und wenn vor¬ geschlagen ist, die Vereinfachung der Schularten durch obligatorische Einführung der Reformanstalten für Gymnasien und Realgymnasien herbeizuführen, so würde ich nur den Wunsch hinzufügen, daß eben nur eine Reformschule geschaffen würde mit der Gabelung in Griechisch und neuere Sprachen*). Auch Friedrich Paulsen hat an die Möglichkeit einer Vereinfachung der Organisation unserer höheren Schulen gedacht. In seinem Buch „Das deutsche Bildungswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung" (B, G. Teubner in Leipzig, S, Aufl. 19»g) äußert er, dasz vielleicht eine Verschmelzung von Oberrealschule und Realgymnasium zu schaffen wäre: ein realistisches Die Schriftltg. Einheitsgymnasium mit fakultativen Lnteinklassen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/646>, abgerufen am 23.07.2024.