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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Stanislawski und das Moskaner "Aüustlerischc Theater"

schließlich den damaligen Generalgouvemeur von Moskau, den Großfürsten
Sergej Alexandrowitsch, zu einem Besuche des Theaters am Ochotnv Rjad.

Die Handelsstadt Moskau hat in mancher Beziehung Ähnlichkeit mit Ham¬
burg. Es sitzen in Moskau "Patrizier", wie in Hamburg' Moskau wetteifert
mit Se. Petersburg, wie Hamburg mit Berlin; wie Hamburg besitzt die Kreml¬
stadt einen stark ausgeprägten Lolalpatriotismus. Ein Großfürst, der General¬
gouvemeur von Moskau ist, ist gewissermaßen ein "Lokalzar", und wie
gewisse Petersburger Kreise sich nach dem Hofe des "großen" Zaren richten,
wandeln die Moskaner oberen Zehntausend auf den Spuren des großfürstlichen
Hofes. So verfehlte man nun auch nicht, das vom Großfürsten ausgezeichnete
Theater zu besuchen und -- man war entzückt. Damit war die Entwicklung
des Theaters glücklich entschieden. Mit Stanislawskis Privatvermögen ging es
zu Ende; da konnte man die offene Hand einiger Moskaner Millionäre gebrauchen.
Die Geberlaune der Moskaner Kapitalisten, von der Hunderte gemeinnütziger
Anstalten Zeugnis ablegen, ließ auch die Kunst nicht im Stich, die Morosows,
Tarassows und einige andere haben jahrelang das aufwärtsstrebende Theater
bereitwilligst unterstützt. Zu dieser Zeit spielte Stanislawski tragische und
heroische Rollen, wie den Othello, den Ferdinand in "Kabale und Liebe".
Aber schon damals suchte er, wie später nach Tschechows frühem Tode,
einen interessanten russischen Dramatiker, ohne einen solchen finden zu können.
Einmal unternahm er sogar selbst eine Dramatisierung von Dostojewskis "Dorf
Stepantischikowo". Dabei verfolgte er unentwegt das Ziel, ein ernst zu
nehmendes, zu künstlerischer Gestaltung befähigtes Ensemble zusammenzubringen
und heranzuziehen, das frei wäre von jeglicher Theaterroutine, die Stanislawski
mit der ganzen Kraft seines Temperamentes haßte. Die Truppe, von der er
träumte, sollte die Fähigkeit besitzen, in den Geist des darzustellenden Stückes
einzudringen, in gemeinsamer Arbeit den geistigen Inhalt des Dramas aufzu¬
decken, den letzten Sinn, den der Dichter in sein Werk hineingelegt hat, gleichsam
herauszuschälen.

Im Jahre 1898 lernte Stanislawski Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko
kennen, der damals Professor an der "Dramatischen Schule der Philharmonischen
Gesellschaft zu Moskau" war. Gleich bei der ersten Begegnung dieser beiden
Männer, die denselben Gedanken, ein künstlerisches Theater zu schaffen, ver¬
folgten, einer Begegnung, die -- echt russisch -- sich zu einem Gespräch ent¬
wickelte, das einen halben Tag und eine ganze Nacht dauerte, wurde die Frage
des künstlerischen Theaters entschieden. Selten mögen zwei Männer zu künst¬
lerischem Vollbringen sich so glücklich vereinigt haben, wie diese beiden, selten
hat eine Unterhaltung, die ein gegenseitiges Herzausschütten war, so weittragende
Folgen gehabt. Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko paßten vorzüglich
zu einander. Jener ist ein vorwiegend intuitivschaffenderKünstler, dieser ein begabter
Lehrer, ein feiner deduktiver Kopf und dazu ein ausgezeichneter Administrator.
Dieses Paar war zu gemeinsamem Schaffen gleichsam vorausbestimmt. Aber


Stanislawski und das Moskaner „Aüustlerischc Theater"

schließlich den damaligen Generalgouvemeur von Moskau, den Großfürsten
Sergej Alexandrowitsch, zu einem Besuche des Theaters am Ochotnv Rjad.

Die Handelsstadt Moskau hat in mancher Beziehung Ähnlichkeit mit Ham¬
burg. Es sitzen in Moskau „Patrizier", wie in Hamburg' Moskau wetteifert
mit Se. Petersburg, wie Hamburg mit Berlin; wie Hamburg besitzt die Kreml¬
stadt einen stark ausgeprägten Lolalpatriotismus. Ein Großfürst, der General¬
gouvemeur von Moskau ist, ist gewissermaßen ein „Lokalzar", und wie
gewisse Petersburger Kreise sich nach dem Hofe des „großen" Zaren richten,
wandeln die Moskaner oberen Zehntausend auf den Spuren des großfürstlichen
Hofes. So verfehlte man nun auch nicht, das vom Großfürsten ausgezeichnete
Theater zu besuchen und — man war entzückt. Damit war die Entwicklung
des Theaters glücklich entschieden. Mit Stanislawskis Privatvermögen ging es
zu Ende; da konnte man die offene Hand einiger Moskaner Millionäre gebrauchen.
Die Geberlaune der Moskaner Kapitalisten, von der Hunderte gemeinnütziger
Anstalten Zeugnis ablegen, ließ auch die Kunst nicht im Stich, die Morosows,
Tarassows und einige andere haben jahrelang das aufwärtsstrebende Theater
bereitwilligst unterstützt. Zu dieser Zeit spielte Stanislawski tragische und
heroische Rollen, wie den Othello, den Ferdinand in „Kabale und Liebe".
Aber schon damals suchte er, wie später nach Tschechows frühem Tode,
einen interessanten russischen Dramatiker, ohne einen solchen finden zu können.
Einmal unternahm er sogar selbst eine Dramatisierung von Dostojewskis „Dorf
Stepantischikowo". Dabei verfolgte er unentwegt das Ziel, ein ernst zu
nehmendes, zu künstlerischer Gestaltung befähigtes Ensemble zusammenzubringen
und heranzuziehen, das frei wäre von jeglicher Theaterroutine, die Stanislawski
mit der ganzen Kraft seines Temperamentes haßte. Die Truppe, von der er
träumte, sollte die Fähigkeit besitzen, in den Geist des darzustellenden Stückes
einzudringen, in gemeinsamer Arbeit den geistigen Inhalt des Dramas aufzu¬
decken, den letzten Sinn, den der Dichter in sein Werk hineingelegt hat, gleichsam
herauszuschälen.

Im Jahre 1898 lernte Stanislawski Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko
kennen, der damals Professor an der „Dramatischen Schule der Philharmonischen
Gesellschaft zu Moskau" war. Gleich bei der ersten Begegnung dieser beiden
Männer, die denselben Gedanken, ein künstlerisches Theater zu schaffen, ver¬
folgten, einer Begegnung, die — echt russisch — sich zu einem Gespräch ent¬
wickelte, das einen halben Tag und eine ganze Nacht dauerte, wurde die Frage
des künstlerischen Theaters entschieden. Selten mögen zwei Männer zu künst¬
lerischem Vollbringen sich so glücklich vereinigt haben, wie diese beiden, selten
hat eine Unterhaltung, die ein gegenseitiges Herzausschütten war, so weittragende
Folgen gehabt. Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko paßten vorzüglich
zu einander. Jener ist ein vorwiegend intuitivschaffenderKünstler, dieser ein begabter
Lehrer, ein feiner deduktiver Kopf und dazu ein ausgezeichneter Administrator.
Dieses Paar war zu gemeinsamem Schaffen gleichsam vorausbestimmt. Aber


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[0636] Stanislawski und das Moskaner „Aüustlerischc Theater" schließlich den damaligen Generalgouvemeur von Moskau, den Großfürsten Sergej Alexandrowitsch, zu einem Besuche des Theaters am Ochotnv Rjad. Die Handelsstadt Moskau hat in mancher Beziehung Ähnlichkeit mit Ham¬ burg. Es sitzen in Moskau „Patrizier", wie in Hamburg' Moskau wetteifert mit Se. Petersburg, wie Hamburg mit Berlin; wie Hamburg besitzt die Kreml¬ stadt einen stark ausgeprägten Lolalpatriotismus. Ein Großfürst, der General¬ gouvemeur von Moskau ist, ist gewissermaßen ein „Lokalzar", und wie gewisse Petersburger Kreise sich nach dem Hofe des „großen" Zaren richten, wandeln die Moskaner oberen Zehntausend auf den Spuren des großfürstlichen Hofes. So verfehlte man nun auch nicht, das vom Großfürsten ausgezeichnete Theater zu besuchen und — man war entzückt. Damit war die Entwicklung des Theaters glücklich entschieden. Mit Stanislawskis Privatvermögen ging es zu Ende; da konnte man die offene Hand einiger Moskaner Millionäre gebrauchen. Die Geberlaune der Moskaner Kapitalisten, von der Hunderte gemeinnütziger Anstalten Zeugnis ablegen, ließ auch die Kunst nicht im Stich, die Morosows, Tarassows und einige andere haben jahrelang das aufwärtsstrebende Theater bereitwilligst unterstützt. Zu dieser Zeit spielte Stanislawski tragische und heroische Rollen, wie den Othello, den Ferdinand in „Kabale und Liebe". Aber schon damals suchte er, wie später nach Tschechows frühem Tode, einen interessanten russischen Dramatiker, ohne einen solchen finden zu können. Einmal unternahm er sogar selbst eine Dramatisierung von Dostojewskis „Dorf Stepantischikowo". Dabei verfolgte er unentwegt das Ziel, ein ernst zu nehmendes, zu künstlerischer Gestaltung befähigtes Ensemble zusammenzubringen und heranzuziehen, das frei wäre von jeglicher Theaterroutine, die Stanislawski mit der ganzen Kraft seines Temperamentes haßte. Die Truppe, von der er träumte, sollte die Fähigkeit besitzen, in den Geist des darzustellenden Stückes einzudringen, in gemeinsamer Arbeit den geistigen Inhalt des Dramas aufzu¬ decken, den letzten Sinn, den der Dichter in sein Werk hineingelegt hat, gleichsam herauszuschälen. Im Jahre 1898 lernte Stanislawski Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko kennen, der damals Professor an der „Dramatischen Schule der Philharmonischen Gesellschaft zu Moskau" war. Gleich bei der ersten Begegnung dieser beiden Männer, die denselben Gedanken, ein künstlerisches Theater zu schaffen, ver¬ folgten, einer Begegnung, die — echt russisch — sich zu einem Gespräch ent¬ wickelte, das einen halben Tag und eine ganze Nacht dauerte, wurde die Frage des künstlerischen Theaters entschieden. Selten mögen zwei Männer zu künst¬ lerischem Vollbringen sich so glücklich vereinigt haben, wie diese beiden, selten hat eine Unterhaltung, die ein gegenseitiges Herzausschütten war, so weittragende Folgen gehabt. Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko paßten vorzüglich zu einander. Jener ist ein vorwiegend intuitivschaffenderKünstler, dieser ein begabter Lehrer, ein feiner deduktiver Kopf und dazu ein ausgezeichneter Administrator. Dieses Paar war zu gemeinsamem Schaffen gleichsam vorausbestimmt. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/636>, abgerufen am 23.07.2024.