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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Parteien und Wcihlkampf

Unzufriedenheit -- Haltung der Regierung -- Aufgaben der Parteien -- Sozial-
demokraten und Bürgertum -- Methoden von Sozialdemokraten und Ultramontanen --
Nltramontane Geschichtsforschung -- Die ultramontane Gefahr -- Posadowsky über
die Sozialdemokratie

Nach Heimgang des alten Reichstags haben die Wahlkämpse für den neuen
mit einer Schärfe eingesetzt, wie sie schon lange nicht beobachtet worden ist.
Bei allen Parteien ohne Ausnahme besteht die Überzeugung, daß im nächsten
Vierteljahr nicht nur um die Mandate für eine Legislaturperiode gekämpft wird,
daß vielmehr von der Zusammensetzung des nächsten Reichstags unbedingt die
Orientierung der inneren Politik Deutschlands für Jahrzehnte abhängen muß.
In der Zusammensetzung des nächsten Reichstags wird aller Wahrscheinlichkeit
nach die ganze Unzufriedenheit ihren Ausdruck finden, die sich im Lande seit
vielen Jahren aufgespeichert hat, sei es aus nationalen, sozialen, wirtschaftlichen
oder persönlichen Gründen. Aus dieser Unzufriedenheit erwächst auch das starke
Bedürfnis nach politischer Betätigung, das allenthalben in bürgerlichen Kreisen
zu beobachten ist, und nach politischen Taten, die nicht nur von der Regierung,
sondern auch von den Parteiführern gefordert werden.

Die Negierung erweckt, je näher der Wahltermin heranrückt, um so mehr
den Anschein, als wolle sie sich in den Streit der Parteien um teilten Preis
mischen. Sie beschränkt sich lediglich darauf, möglichst exakte Zahlen und Daten
über den Stand der Reichsfinanzen und die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung
zu verbreiten: ack usum äelMni. Mögen die Parteien damit machen, was
sie wollen! Daneben sind die Behörden in den einzelnen Wahlkreisen nur an¬
gewiesen, Angriffe auf und Entstellungen von Negierungsmaßnahmen zurück¬
zuweisen beziehungsweise richtig zu stellen. Man gewinnt den Eindruck, als
wolle die Reichsregierung zunächst einmal das Volk sprechen lassen, um an dem
Ergebnis der Wahlen die wirkliche Stimmung kennen zu lernen. Herr v. Beth¬
mann erscheint uns dem von Wahlagitatoren erhitzten Lande gegenüber wie ein
Alchimist, der aufmerksam das Brodeln in einer über Feuer gesetzten, mit
tausend heterogenen Dingen gefüllten Retorte beobachtet, um zu sehen, was unter
der Einwirkung der Siedehitze herauskommt. Falls die Regierung, wie hier
und da gemunkelt wird, die Durchführung weitergreifender Pläne in ihrem
Programm hätte, mit denen sie gegenwärtig nur zurückhält, dann könnte man




Reichsspiegel
Parteien und Wcihlkampf

Unzufriedenheit — Haltung der Regierung — Aufgaben der Parteien — Sozial-
demokraten und Bürgertum — Methoden von Sozialdemokraten und Ultramontanen —
Nltramontane Geschichtsforschung — Die ultramontane Gefahr — Posadowsky über
die Sozialdemokratie

Nach Heimgang des alten Reichstags haben die Wahlkämpse für den neuen
mit einer Schärfe eingesetzt, wie sie schon lange nicht beobachtet worden ist.
Bei allen Parteien ohne Ausnahme besteht die Überzeugung, daß im nächsten
Vierteljahr nicht nur um die Mandate für eine Legislaturperiode gekämpft wird,
daß vielmehr von der Zusammensetzung des nächsten Reichstags unbedingt die
Orientierung der inneren Politik Deutschlands für Jahrzehnte abhängen muß.
In der Zusammensetzung des nächsten Reichstags wird aller Wahrscheinlichkeit
nach die ganze Unzufriedenheit ihren Ausdruck finden, die sich im Lande seit
vielen Jahren aufgespeichert hat, sei es aus nationalen, sozialen, wirtschaftlichen
oder persönlichen Gründen. Aus dieser Unzufriedenheit erwächst auch das starke
Bedürfnis nach politischer Betätigung, das allenthalben in bürgerlichen Kreisen
zu beobachten ist, und nach politischen Taten, die nicht nur von der Regierung,
sondern auch von den Parteiführern gefordert werden.

Die Negierung erweckt, je näher der Wahltermin heranrückt, um so mehr
den Anschein, als wolle sie sich in den Streit der Parteien um teilten Preis
mischen. Sie beschränkt sich lediglich darauf, möglichst exakte Zahlen und Daten
über den Stand der Reichsfinanzen und die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung
zu verbreiten: ack usum äelMni. Mögen die Parteien damit machen, was
sie wollen! Daneben sind die Behörden in den einzelnen Wahlkreisen nur an¬
gewiesen, Angriffe auf und Entstellungen von Negierungsmaßnahmen zurück¬
zuweisen beziehungsweise richtig zu stellen. Man gewinnt den Eindruck, als
wolle die Reichsregierung zunächst einmal das Volk sprechen lassen, um an dem
Ergebnis der Wahlen die wirkliche Stimmung kennen zu lernen. Herr v. Beth¬
mann erscheint uns dem von Wahlagitatoren erhitzten Lande gegenüber wie ein
Alchimist, der aufmerksam das Brodeln in einer über Feuer gesetzten, mit
tausend heterogenen Dingen gefüllten Retorte beobachtet, um zu sehen, was unter
der Einwirkung der Siedehitze herauskommt. Falls die Regierung, wie hier
und da gemunkelt wird, die Durchführung weitergreifender Pläne in ihrem
Programm hätte, mit denen sie gegenwärtig nur zurückhält, dann könnte man


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[0619] [Abbildung] Reichsspiegel Parteien und Wcihlkampf Unzufriedenheit — Haltung der Regierung — Aufgaben der Parteien — Sozial- demokraten und Bürgertum — Methoden von Sozialdemokraten und Ultramontanen — Nltramontane Geschichtsforschung — Die ultramontane Gefahr — Posadowsky über die Sozialdemokratie Nach Heimgang des alten Reichstags haben die Wahlkämpse für den neuen mit einer Schärfe eingesetzt, wie sie schon lange nicht beobachtet worden ist. Bei allen Parteien ohne Ausnahme besteht die Überzeugung, daß im nächsten Vierteljahr nicht nur um die Mandate für eine Legislaturperiode gekämpft wird, daß vielmehr von der Zusammensetzung des nächsten Reichstags unbedingt die Orientierung der inneren Politik Deutschlands für Jahrzehnte abhängen muß. In der Zusammensetzung des nächsten Reichstags wird aller Wahrscheinlichkeit nach die ganze Unzufriedenheit ihren Ausdruck finden, die sich im Lande seit vielen Jahren aufgespeichert hat, sei es aus nationalen, sozialen, wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen. Aus dieser Unzufriedenheit erwächst auch das starke Bedürfnis nach politischer Betätigung, das allenthalben in bürgerlichen Kreisen zu beobachten ist, und nach politischen Taten, die nicht nur von der Regierung, sondern auch von den Parteiführern gefordert werden. Die Negierung erweckt, je näher der Wahltermin heranrückt, um so mehr den Anschein, als wolle sie sich in den Streit der Parteien um teilten Preis mischen. Sie beschränkt sich lediglich darauf, möglichst exakte Zahlen und Daten über den Stand der Reichsfinanzen und die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung zu verbreiten: ack usum äelMni. Mögen die Parteien damit machen, was sie wollen! Daneben sind die Behörden in den einzelnen Wahlkreisen nur an¬ gewiesen, Angriffe auf und Entstellungen von Negierungsmaßnahmen zurück¬ zuweisen beziehungsweise richtig zu stellen. Man gewinnt den Eindruck, als wolle die Reichsregierung zunächst einmal das Volk sprechen lassen, um an dem Ergebnis der Wahlen die wirkliche Stimmung kennen zu lernen. Herr v. Beth¬ mann erscheint uns dem von Wahlagitatoren erhitzten Lande gegenüber wie ein Alchimist, der aufmerksam das Brodeln in einer über Feuer gesetzten, mit tausend heterogenen Dingen gefüllten Retorte beobachtet, um zu sehen, was unter der Einwirkung der Siedehitze herauskommt. Falls die Regierung, wie hier und da gemunkelt wird, die Durchführung weitergreifender Pläne in ihrem Programm hätte, mit denen sie gegenwärtig nur zurückhält, dann könnte man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/619>, abgerufen am 23.07.2024.