Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Religionsunterricht, der religiöse Eid, der kon-
fessionelle Friedhof und drinn auch dieSub-
vcntionierung privilegierter Kirchen aus all¬
gemeinen Steuermitteln, sowie die politische
Beaufsichtigung ihrer mannigfachen Lebens-
äußerungen. Es musz offen zugestanden
w e r d e n die volleFreiheit der katholischen Kirche
in der Verwaltung ihrer innerkirchlichen^An-
gelegenheiten und die Freiheit der Gemeinde-
vildung und der Kircheubildung und Kirchen¬
ordnung innerhalb der protestantischen Re¬
ligionsgesellschaft. Es mich die rechtliche Sicher¬
heit und Existenzmöglichkeit wie der jüdischen
so jeder anderen nichtchristlichen religiösen
Körperschaft gewährleistet werden.

Ich hätte mich begnügen können, diese
Forderungen der Religion auszusprcche" und
dem Staatsmanne zu überlassen, wie erahnen
gerecht werden will, und niemand hätte mich
darob schelten dürfen. Ich hätte damit immer
noch etwas Besseres,!und Tieferes getan als
die, die einfach die Fahne "Trennung vonKirche
und Staat" an ihren Flaggenmast bißen und
nun jedem es anheimgeben, dies vieldeutige
Wort mit einem konkreten Inhalt zu erfüllen.
Über mir schien eben hier die Grenzlinie zu
liegen zwischen Agitation und Reform, daß der
Agitator lediglich die Forderungen der Zukunft
ins Auge faßt und seinen Beruf erfüllt, wenn
er dafür eine heiße Stimmung erzeugt, der
Reformer aber im Auge behalten muß, wie er
solchen Forderungen Genüge bieten kann, ohne
überlieferte Güter zu gefährden oder Preiszu¬
geben. Mit allgemeinen verschwommenen Aus¬
blicken und mit der Ausgabe nicht näher be¬
stimmter Schlagworte kann die große Sache
nicht gefördert werden, nur in der Erörterung
über konkrete Ordnungen und über die Ge¬
staltung im einzelnen und bei dem Versuche,
das undeutlich Gefühlte und Ersehnte in Formeln
zu gießen, kann die Einsicht in das, was werden
soll und wie es durchführbar ist, wachsen. Die
Stimmung der Verärgerung und Verbitterung
tut sich genug in Entrüstungskundgebungen,
Protesten und Parolen; aber wir müssen zur
Besinnung und zur Arbeit kommen.

Und wir haben wertvollste Güter zu wahren,
oder, wenn dies Wort zu hoch ist: wir haben
Notwendigkeiten zu berücksichtigen, die sich aus
unserer Geschichte und aus der eigentümlichen
Struktur unseres Volrskörpers gebildet haben.

[Spaltenumbruch]

Unser deutscher Staat war nicht auf dem Irr.
Wege, als er eine Verpflichtung gegenüber dem
religiösen Gemeinschaftsleben anerkannte und
übernahm. Wir bleiben dabei, von unserem
Staate Achtung zu fordern vor der Religion,
vor jeder Religion als der edelsten und
zartesten Betätigung geistigen Lebens. Wir
scheuen uns gar nicht vor dein Ausdruck, daß
der Staat der Religion zu dienen habe, nur
eben, gut lutherisch, in den Schranken seines
Berufes. Irgend eine Menschheitsnngelegenheit
für völlig beziehungslos zum Staate erklären,
heißt ihr den Wert für das Volksleben ab¬
sprechen. Wie? Handel und Landwirtschaft,
Handwerk und Arbeiterschaft, Kunst und Wissen¬
schaft, Schule und Literatur, Individuum und
Svzinlismus dürften vom Staate Ordnung
ihrer rechtlichen Verhältnisse und Garantien
für ihre Existenz- und Entwicklungsmöglichkeit
verlangen und die religiösen Gemeinschaften
dürfen es nicht? Sollten sie nicht sagen können:
"Sind wir denn nicht viel mehr denn sie?"
Haben sie kein inneres Anrecht zu dem Stolz,
im Haushalt des Volkes unentbehrlich zu sein?

Wir wollen weiter den Zusammenhang der
evangelischen Gemeinden des Landes, wie der
katholischen und jüdischen, nicht zerstört sehen.
Nicht eine Einheit zu schaffen, fordern wir
vom Staate: das kann er nicht. Aber einen
Zusammenhang, in dem die schwächeren Glieder
Rückhalt finden an den stärkeren und in dem
das Recht herrscht und nicht die Willkür. Ein
solcher Zusammenhalt ist ein Segen, und wir
wünschten Wohl, er wäre kräftiger und wirk¬
samer als jetzt, und wir brauchten die Scherf-
lein der Witwe und die Groschen der Kirchen¬
opfer nicht, um durch Gustav Adolf-Vereine
und ähnliche Hilfsvereine die Lücken dieses
Zusammenhanges auszustopfen. Ich begreife
nicht, wie man ernstlich das Unabhängigkcits-
Prinzip der Einzelgemeinde als Ideal auf¬
stellen kann. Die so denken, bitte ich doch
einmal im'^Sommer die Großstadtluft zu ver¬
lassen und durch die Dörfer dos Preußischen
Ostens zu wandern und sich dabei die Grau¬
samkeit dieses Programms zu überlegen. Ich
bitte sie, sich einmal nüchtern zahlenmäßig
klar zu machen, wie gering die Opferwilligkeit
des städtischen Bürgertums ist, und sich zu
fragen, ob man nicht zahlreiche bäuerliche
und kleinstädtische Gemeinden einfach dem

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Religionsunterricht, der religiöse Eid, der kon-
fessionelle Friedhof und drinn auch dieSub-
vcntionierung privilegierter Kirchen aus all¬
gemeinen Steuermitteln, sowie die politische
Beaufsichtigung ihrer mannigfachen Lebens-
äußerungen. Es musz offen zugestanden
w e r d e n die volleFreiheit der katholischen Kirche
in der Verwaltung ihrer innerkirchlichen^An-
gelegenheiten und die Freiheit der Gemeinde-
vildung und der Kircheubildung und Kirchen¬
ordnung innerhalb der protestantischen Re¬
ligionsgesellschaft. Es mich die rechtliche Sicher¬
heit und Existenzmöglichkeit wie der jüdischen
so jeder anderen nichtchristlichen religiösen
Körperschaft gewährleistet werden.

Ich hätte mich begnügen können, diese
Forderungen der Religion auszusprcche» und
dem Staatsmanne zu überlassen, wie erahnen
gerecht werden will, und niemand hätte mich
darob schelten dürfen. Ich hätte damit immer
noch etwas Besseres,!und Tieferes getan als
die, die einfach die Fahne „Trennung vonKirche
und Staat" an ihren Flaggenmast bißen und
nun jedem es anheimgeben, dies vieldeutige
Wort mit einem konkreten Inhalt zu erfüllen.
Über mir schien eben hier die Grenzlinie zu
liegen zwischen Agitation und Reform, daß der
Agitator lediglich die Forderungen der Zukunft
ins Auge faßt und seinen Beruf erfüllt, wenn
er dafür eine heiße Stimmung erzeugt, der
Reformer aber im Auge behalten muß, wie er
solchen Forderungen Genüge bieten kann, ohne
überlieferte Güter zu gefährden oder Preiszu¬
geben. Mit allgemeinen verschwommenen Aus¬
blicken und mit der Ausgabe nicht näher be¬
stimmter Schlagworte kann die große Sache
nicht gefördert werden, nur in der Erörterung
über konkrete Ordnungen und über die Ge¬
staltung im einzelnen und bei dem Versuche,
das undeutlich Gefühlte und Ersehnte in Formeln
zu gießen, kann die Einsicht in das, was werden
soll und wie es durchführbar ist, wachsen. Die
Stimmung der Verärgerung und Verbitterung
tut sich genug in Entrüstungskundgebungen,
Protesten und Parolen; aber wir müssen zur
Besinnung und zur Arbeit kommen.

Und wir haben wertvollste Güter zu wahren,
oder, wenn dies Wort zu hoch ist: wir haben
Notwendigkeiten zu berücksichtigen, die sich aus
unserer Geschichte und aus der eigentümlichen
Struktur unseres Volrskörpers gebildet haben.

[Spaltenumbruch]

Unser deutscher Staat war nicht auf dem Irr.
Wege, als er eine Verpflichtung gegenüber dem
religiösen Gemeinschaftsleben anerkannte und
übernahm. Wir bleiben dabei, von unserem
Staate Achtung zu fordern vor der Religion,
vor jeder Religion als der edelsten und
zartesten Betätigung geistigen Lebens. Wir
scheuen uns gar nicht vor dein Ausdruck, daß
der Staat der Religion zu dienen habe, nur
eben, gut lutherisch, in den Schranken seines
Berufes. Irgend eine Menschheitsnngelegenheit
für völlig beziehungslos zum Staate erklären,
heißt ihr den Wert für das Volksleben ab¬
sprechen. Wie? Handel und Landwirtschaft,
Handwerk und Arbeiterschaft, Kunst und Wissen¬
schaft, Schule und Literatur, Individuum und
Svzinlismus dürften vom Staate Ordnung
ihrer rechtlichen Verhältnisse und Garantien
für ihre Existenz- und Entwicklungsmöglichkeit
verlangen und die religiösen Gemeinschaften
dürfen es nicht? Sollten sie nicht sagen können:
„Sind wir denn nicht viel mehr denn sie?"
Haben sie kein inneres Anrecht zu dem Stolz,
im Haushalt des Volkes unentbehrlich zu sein?

Wir wollen weiter den Zusammenhang der
evangelischen Gemeinden des Landes, wie der
katholischen und jüdischen, nicht zerstört sehen.
Nicht eine Einheit zu schaffen, fordern wir
vom Staate: das kann er nicht. Aber einen
Zusammenhang, in dem die schwächeren Glieder
Rückhalt finden an den stärkeren und in dem
das Recht herrscht und nicht die Willkür. Ein
solcher Zusammenhalt ist ein Segen, und wir
wünschten Wohl, er wäre kräftiger und wirk¬
samer als jetzt, und wir brauchten die Scherf-
lein der Witwe und die Groschen der Kirchen¬
opfer nicht, um durch Gustav Adolf-Vereine
und ähnliche Hilfsvereine die Lücken dieses
Zusammenhanges auszustopfen. Ich begreife
nicht, wie man ernstlich das Unabhängigkcits-
Prinzip der Einzelgemeinde als Ideal auf¬
stellen kann. Die so denken, bitte ich doch
einmal im'^Sommer die Großstadtluft zu ver¬
lassen und durch die Dörfer dos Preußischen
Ostens zu wandern und sich dabei die Grau¬
samkeit dieses Programms zu überlegen. Ich
bitte sie, sich einmal nüchtern zahlenmäßig
klar zu machen, wie gering die Opferwilligkeit
des städtischen Bürgertums ist, und sich zu
fragen, ob man nicht zahlreiche bäuerliche
und kleinstädtische Gemeinden einfach dem

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0616" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/320217"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_2669" prev="#ID_2668"> Religionsunterricht, der religiöse Eid, der kon-<lb/>
fessionelle Friedhof und drinn auch dieSub-<lb/>
vcntionierung privilegierter Kirchen aus all¬<lb/>
gemeinen Steuermitteln, sowie die politische<lb/>
Beaufsichtigung ihrer mannigfachen Lebens-<lb/>
äußerungen. Es musz offen zugestanden<lb/>
w e r d e n die volleFreiheit der katholischen Kirche<lb/>
in der Verwaltung ihrer innerkirchlichen^An-<lb/>
gelegenheiten und die Freiheit der Gemeinde-<lb/>
vildung und der Kircheubildung und Kirchen¬<lb/>
ordnung innerhalb der protestantischen Re¬<lb/>
ligionsgesellschaft. Es mich die rechtliche Sicher¬<lb/>
heit und Existenzmöglichkeit wie der jüdischen<lb/>
so jeder anderen nichtchristlichen religiösen<lb/>
Körperschaft gewährleistet werden.</p>
            <p xml:id="ID_2670"> Ich hätte mich begnügen können, diese<lb/>
Forderungen der Religion auszusprcche» und<lb/>
dem Staatsmanne zu überlassen, wie erahnen<lb/>
gerecht werden will, und niemand hätte mich<lb/>
darob schelten dürfen. Ich hätte damit immer<lb/>
noch etwas Besseres,!und Tieferes getan als<lb/>
die, die einfach die Fahne &#x201E;Trennung vonKirche<lb/>
und Staat" an ihren Flaggenmast bißen und<lb/>
nun jedem es anheimgeben, dies vieldeutige<lb/>
Wort mit einem konkreten Inhalt zu erfüllen.<lb/>
Über mir schien eben hier die Grenzlinie zu<lb/>
liegen zwischen Agitation und Reform, daß der<lb/>
Agitator lediglich die Forderungen der Zukunft<lb/>
ins Auge faßt und seinen Beruf erfüllt, wenn<lb/>
er dafür eine heiße Stimmung erzeugt, der<lb/>
Reformer aber im Auge behalten muß, wie er<lb/>
solchen Forderungen Genüge bieten kann, ohne<lb/>
überlieferte Güter zu gefährden oder Preiszu¬<lb/>
geben. Mit allgemeinen verschwommenen Aus¬<lb/>
blicken und mit der Ausgabe nicht näher be¬<lb/>
stimmter Schlagworte kann die große Sache<lb/>
nicht gefördert werden, nur in der Erörterung<lb/>
über konkrete Ordnungen und über die Ge¬<lb/>
staltung im einzelnen und bei dem Versuche,<lb/>
das undeutlich Gefühlte und Ersehnte in Formeln<lb/>
zu gießen, kann die Einsicht in das, was werden<lb/>
soll und wie es durchführbar ist, wachsen. Die<lb/>
Stimmung der Verärgerung und Verbitterung<lb/>
tut sich genug in Entrüstungskundgebungen,<lb/>
Protesten und Parolen; aber wir müssen zur<lb/>
Besinnung und zur Arbeit kommen.</p>
            <p xml:id="ID_2671" next="#ID_2672"> Und wir haben wertvollste Güter zu wahren,<lb/>
oder, wenn dies Wort zu hoch ist: wir haben<lb/>
Notwendigkeiten zu berücksichtigen, die sich aus<lb/>
unserer Geschichte und aus der eigentümlichen<lb/>
Struktur unseres Volrskörpers gebildet haben.</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_2672" prev="#ID_2671"> Unser deutscher Staat war nicht auf dem Irr.<lb/>
Wege, als er eine Verpflichtung gegenüber dem<lb/>
religiösen Gemeinschaftsleben anerkannte und<lb/>
übernahm. Wir bleiben dabei, von unserem<lb/>
Staate Achtung zu fordern vor der Religion,<lb/>
vor jeder Religion als der edelsten und<lb/>
zartesten Betätigung geistigen Lebens. Wir<lb/>
scheuen uns gar nicht vor dein Ausdruck, daß<lb/>
der Staat der Religion zu dienen habe, nur<lb/>
eben, gut lutherisch, in den Schranken seines<lb/>
Berufes. Irgend eine Menschheitsnngelegenheit<lb/>
für völlig beziehungslos zum Staate erklären,<lb/>
heißt ihr den Wert für das Volksleben ab¬<lb/>
sprechen. Wie? Handel und Landwirtschaft,<lb/>
Handwerk und Arbeiterschaft, Kunst und Wissen¬<lb/>
schaft, Schule und Literatur, Individuum und<lb/>
Svzinlismus dürften vom Staate Ordnung<lb/>
ihrer rechtlichen Verhältnisse und Garantien<lb/>
für ihre Existenz- und Entwicklungsmöglichkeit<lb/>
verlangen und die religiösen Gemeinschaften<lb/>
dürfen es nicht? Sollten sie nicht sagen können:<lb/>
&#x201E;Sind wir denn nicht viel mehr denn sie?"<lb/>
Haben sie kein inneres Anrecht zu dem Stolz,<lb/>
im Haushalt des Volkes unentbehrlich zu sein?</p>
            <p xml:id="ID_2673" next="#ID_2674"> Wir wollen weiter den Zusammenhang der<lb/>
evangelischen Gemeinden des Landes, wie der<lb/>
katholischen und jüdischen, nicht zerstört sehen.<lb/>
Nicht eine Einheit zu schaffen, fordern wir<lb/>
vom Staate: das kann er nicht. Aber einen<lb/>
Zusammenhang, in dem die schwächeren Glieder<lb/>
Rückhalt finden an den stärkeren und in dem<lb/>
das Recht herrscht und nicht die Willkür. Ein<lb/>
solcher Zusammenhalt ist ein Segen, und wir<lb/>
wünschten Wohl, er wäre kräftiger und wirk¬<lb/>
samer als jetzt, und wir brauchten die Scherf-<lb/>
lein der Witwe und die Groschen der Kirchen¬<lb/>
opfer nicht, um durch Gustav Adolf-Vereine<lb/>
und ähnliche Hilfsvereine die Lücken dieses<lb/>
Zusammenhanges auszustopfen. Ich begreife<lb/>
nicht, wie man ernstlich das Unabhängigkcits-<lb/>
Prinzip der Einzelgemeinde als Ideal auf¬<lb/>
stellen kann. Die so denken, bitte ich doch<lb/>
einmal im'^Sommer die Großstadtluft zu ver¬<lb/>
lassen und durch die Dörfer dos Preußischen<lb/>
Ostens zu wandern und sich dabei die Grau¬<lb/>
samkeit dieses Programms zu überlegen. Ich<lb/>
bitte sie, sich einmal nüchtern zahlenmäßig<lb/>
klar zu machen, wie gering die Opferwilligkeit<lb/>
des städtischen Bürgertums ist, und sich zu<lb/>
fragen, ob man nicht zahlreiche bäuerliche<lb/>
und kleinstädtische Gemeinden einfach dem</p>
            <cb type="end"/><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0616] Maßgebliches und Unmaßgebliches Religionsunterricht, der religiöse Eid, der kon- fessionelle Friedhof und drinn auch dieSub- vcntionierung privilegierter Kirchen aus all¬ gemeinen Steuermitteln, sowie die politische Beaufsichtigung ihrer mannigfachen Lebens- äußerungen. Es musz offen zugestanden w e r d e n die volleFreiheit der katholischen Kirche in der Verwaltung ihrer innerkirchlichen^An- gelegenheiten und die Freiheit der Gemeinde- vildung und der Kircheubildung und Kirchen¬ ordnung innerhalb der protestantischen Re¬ ligionsgesellschaft. Es mich die rechtliche Sicher¬ heit und Existenzmöglichkeit wie der jüdischen so jeder anderen nichtchristlichen religiösen Körperschaft gewährleistet werden. Ich hätte mich begnügen können, diese Forderungen der Religion auszusprcche» und dem Staatsmanne zu überlassen, wie erahnen gerecht werden will, und niemand hätte mich darob schelten dürfen. Ich hätte damit immer noch etwas Besseres,!und Tieferes getan als die, die einfach die Fahne „Trennung vonKirche und Staat" an ihren Flaggenmast bißen und nun jedem es anheimgeben, dies vieldeutige Wort mit einem konkreten Inhalt zu erfüllen. Über mir schien eben hier die Grenzlinie zu liegen zwischen Agitation und Reform, daß der Agitator lediglich die Forderungen der Zukunft ins Auge faßt und seinen Beruf erfüllt, wenn er dafür eine heiße Stimmung erzeugt, der Reformer aber im Auge behalten muß, wie er solchen Forderungen Genüge bieten kann, ohne überlieferte Güter zu gefährden oder Preiszu¬ geben. Mit allgemeinen verschwommenen Aus¬ blicken und mit der Ausgabe nicht näher be¬ stimmter Schlagworte kann die große Sache nicht gefördert werden, nur in der Erörterung über konkrete Ordnungen und über die Ge¬ staltung im einzelnen und bei dem Versuche, das undeutlich Gefühlte und Ersehnte in Formeln zu gießen, kann die Einsicht in das, was werden soll und wie es durchführbar ist, wachsen. Die Stimmung der Verärgerung und Verbitterung tut sich genug in Entrüstungskundgebungen, Protesten und Parolen; aber wir müssen zur Besinnung und zur Arbeit kommen. Und wir haben wertvollste Güter zu wahren, oder, wenn dies Wort zu hoch ist: wir haben Notwendigkeiten zu berücksichtigen, die sich aus unserer Geschichte und aus der eigentümlichen Struktur unseres Volrskörpers gebildet haben. Unser deutscher Staat war nicht auf dem Irr. Wege, als er eine Verpflichtung gegenüber dem religiösen Gemeinschaftsleben anerkannte und übernahm. Wir bleiben dabei, von unserem Staate Achtung zu fordern vor der Religion, vor jeder Religion als der edelsten und zartesten Betätigung geistigen Lebens. Wir scheuen uns gar nicht vor dein Ausdruck, daß der Staat der Religion zu dienen habe, nur eben, gut lutherisch, in den Schranken seines Berufes. Irgend eine Menschheitsnngelegenheit für völlig beziehungslos zum Staate erklären, heißt ihr den Wert für das Volksleben ab¬ sprechen. Wie? Handel und Landwirtschaft, Handwerk und Arbeiterschaft, Kunst und Wissen¬ schaft, Schule und Literatur, Individuum und Svzinlismus dürften vom Staate Ordnung ihrer rechtlichen Verhältnisse und Garantien für ihre Existenz- und Entwicklungsmöglichkeit verlangen und die religiösen Gemeinschaften dürfen es nicht? Sollten sie nicht sagen können: „Sind wir denn nicht viel mehr denn sie?" Haben sie kein inneres Anrecht zu dem Stolz, im Haushalt des Volkes unentbehrlich zu sein? Wir wollen weiter den Zusammenhang der evangelischen Gemeinden des Landes, wie der katholischen und jüdischen, nicht zerstört sehen. Nicht eine Einheit zu schaffen, fordern wir vom Staate: das kann er nicht. Aber einen Zusammenhang, in dem die schwächeren Glieder Rückhalt finden an den stärkeren und in dem das Recht herrscht und nicht die Willkür. Ein solcher Zusammenhalt ist ein Segen, und wir wünschten Wohl, er wäre kräftiger und wirk¬ samer als jetzt, und wir brauchten die Scherf- lein der Witwe und die Groschen der Kirchen¬ opfer nicht, um durch Gustav Adolf-Vereine und ähnliche Hilfsvereine die Lücken dieses Zusammenhanges auszustopfen. Ich begreife nicht, wie man ernstlich das Unabhängigkcits- Prinzip der Einzelgemeinde als Ideal auf¬ stellen kann. Die so denken, bitte ich doch einmal im'^Sommer die Großstadtluft zu ver¬ lassen und durch die Dörfer dos Preußischen Ostens zu wandern und sich dabei die Grau¬ samkeit dieses Programms zu überlegen. Ich bitte sie, sich einmal nüchtern zahlenmäßig klar zu machen, wie gering die Opferwilligkeit des städtischen Bürgertums ist, und sich zu fragen, ob man nicht zahlreiche bäuerliche und kleinstädtische Gemeinden einfach dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/616
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/616>, abgerufen am 23.07.2024.