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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus China

fast noch interessanter als die Götter. Ich hatte noch nie vorher in China eine
solche Menschenmenge beisammen gesehen. Es mögen innerhalb des eigentlichen
Tempelreviers gewiß an zehn- bis zwanzigtausend Menschen gewesen sein, und
wir beide waren die einzigen Europäer unter all den Chinesen, hatten auch
keinerlei Begleitung mit. Und dennoch war uns dabei selbst im ärgsten Ge¬
dränge nicht einen Augenblick auch nur im mindesten unheimlich zumute. Wir
gingen so ziemlich in alle Tempel hinein und wurden überall von den Priestern
in zuvorkommendster Weise empfangen. In jedem Tempel, den wir betraten,
boten uns die Priester Tee an und nötigten uns zum Sitzen. Einer der
Priester meinte sogar, als wir das Anerbieten dankend ablehnten, wir sollten
doch seinen Tee einmal kosten, das sei öden-hier es'a-ne, "Göttertee." Du siehst
daraus, daß es in chinesischen Tempeln sehr gemütlich zugeht: an den Altären
werden die Götter gespeist, und an den Tischen daneben die Menschen. In
den einzelnen Höfen standen zahllose Verkäufer umher, die allerhand Spielsachen
und Naschwerk feilboten. In einem der Höfe waren zwei von einer Marmor¬
brüstung umrahmte trockene Bassins. In jedem derselben hing in einer Mauer¬
nische eine große chinesische Münze aus vergoldeter Pappe, die, wie alle chinesischen
Kupfermünzen, ein viereckiges Loch in der Mitte hatte, und in diesem Loch hing
eine kleine Glocke. Die zahllosen Menschen, besonders auch Kinder, die die
Marmorbrüstung umdrängten, warfen mit Kupfermünzen nach jener Glocke und
wer sie traf (ein Fall, der in meiner Gegenwart nicht eintraf), hatte dafür die
Freude, sie erklingen zu hören. Die Münzen bleiben natürlich auf dem Boden
des Bassins liegen, und dieses kindliche Spiel ist bei all seiner Harmlosigkeit
gar kein so übles Geschäft für die Priester. Einer der Priester sah von seinem
Tempel aus, daß wir gern an das Bassin herantreten wollten, uns aber nicht
hindurchdrängen konnten; da kam er hinzu und bat die Leute, uns doch Platz
zu machen, was auch sofort geschah, worauf der Priester uns höflich aufforderte,
näherzutreten und sich dann mit einem Gruß entfernte. Ich habe überhaupt
noch keinen unhöflichen Chinesen zu sehen bekommen.

Auf dem Rückwege begegneten wir einer geradezu unübersehbare" Menschen¬
menge, die nach dem Tempel unterwegs war, und im Tore, das in die Chinesen¬
stadt führt, gerieten wir mit unseren Eseln derart ins Gedränge zwischen zahl¬
losen Karren, Pferden, Eseln, Fußgängern, Lastenttägem aller Art usw., daß
ich meine Füße, da sie nicht in die Tasche gingen, auf den Sattel legen und
gewissermaßen mit untergeschlagenen Beinen sitzen mußte. Es dauerte wohl
eine gute halbe Stunde, bis wir aus dieser drangvoll fürchterlichen Enge befreit
waren. Aber die enge Gasse zu passieren, durch die wir jetzt hindurch mußten,
war auch mit einiger Lebensgefahr verbunden. Der Staub dabei war geradezu
entsetzlich, und ich brachte die ganze nähere Umgegend Pekings in Nase, Ohren,
Augen, Mund und Lungen mit nach Hause.

Aber interessant war es doch, und nicht minder interessant der Ausflug,
den ich gestern mit einigen Herren von der russischen Gesandtschaft nach dem


Briefe aus China

fast noch interessanter als die Götter. Ich hatte noch nie vorher in China eine
solche Menschenmenge beisammen gesehen. Es mögen innerhalb des eigentlichen
Tempelreviers gewiß an zehn- bis zwanzigtausend Menschen gewesen sein, und
wir beide waren die einzigen Europäer unter all den Chinesen, hatten auch
keinerlei Begleitung mit. Und dennoch war uns dabei selbst im ärgsten Ge¬
dränge nicht einen Augenblick auch nur im mindesten unheimlich zumute. Wir
gingen so ziemlich in alle Tempel hinein und wurden überall von den Priestern
in zuvorkommendster Weise empfangen. In jedem Tempel, den wir betraten,
boten uns die Priester Tee an und nötigten uns zum Sitzen. Einer der
Priester meinte sogar, als wir das Anerbieten dankend ablehnten, wir sollten
doch seinen Tee einmal kosten, das sei öden-hier es'a-ne, „Göttertee." Du siehst
daraus, daß es in chinesischen Tempeln sehr gemütlich zugeht: an den Altären
werden die Götter gespeist, und an den Tischen daneben die Menschen. In
den einzelnen Höfen standen zahllose Verkäufer umher, die allerhand Spielsachen
und Naschwerk feilboten. In einem der Höfe waren zwei von einer Marmor¬
brüstung umrahmte trockene Bassins. In jedem derselben hing in einer Mauer¬
nische eine große chinesische Münze aus vergoldeter Pappe, die, wie alle chinesischen
Kupfermünzen, ein viereckiges Loch in der Mitte hatte, und in diesem Loch hing
eine kleine Glocke. Die zahllosen Menschen, besonders auch Kinder, die die
Marmorbrüstung umdrängten, warfen mit Kupfermünzen nach jener Glocke und
wer sie traf (ein Fall, der in meiner Gegenwart nicht eintraf), hatte dafür die
Freude, sie erklingen zu hören. Die Münzen bleiben natürlich auf dem Boden
des Bassins liegen, und dieses kindliche Spiel ist bei all seiner Harmlosigkeit
gar kein so übles Geschäft für die Priester. Einer der Priester sah von seinem
Tempel aus, daß wir gern an das Bassin herantreten wollten, uns aber nicht
hindurchdrängen konnten; da kam er hinzu und bat die Leute, uns doch Platz
zu machen, was auch sofort geschah, worauf der Priester uns höflich aufforderte,
näherzutreten und sich dann mit einem Gruß entfernte. Ich habe überhaupt
noch keinen unhöflichen Chinesen zu sehen bekommen.

Auf dem Rückwege begegneten wir einer geradezu unübersehbare« Menschen¬
menge, die nach dem Tempel unterwegs war, und im Tore, das in die Chinesen¬
stadt führt, gerieten wir mit unseren Eseln derart ins Gedränge zwischen zahl¬
losen Karren, Pferden, Eseln, Fußgängern, Lastenttägem aller Art usw., daß
ich meine Füße, da sie nicht in die Tasche gingen, auf den Sattel legen und
gewissermaßen mit untergeschlagenen Beinen sitzen mußte. Es dauerte wohl
eine gute halbe Stunde, bis wir aus dieser drangvoll fürchterlichen Enge befreit
waren. Aber die enge Gasse zu passieren, durch die wir jetzt hindurch mußten,
war auch mit einiger Lebensgefahr verbunden. Der Staub dabei war geradezu
entsetzlich, und ich brachte die ganze nähere Umgegend Pekings in Nase, Ohren,
Augen, Mund und Lungen mit nach Hause.

Aber interessant war es doch, und nicht minder interessant der Ausflug,
den ich gestern mit einigen Herren von der russischen Gesandtschaft nach dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/599>, abgerufen am 03.07.2024.