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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel
Marokkonachklänge

Weltpolitische Bedeutung des Marokkostreites -- Mißverständnisse -- Falsche Mittel? --
Englisch-französische Treibereien -- Die Kompensationen -- DaS Politische Gesamt¬
bild -- Ausblick

Die Reden und Erklärungen der verantwortlichen Leiter der auswärtigen
Politik in Berlin, London und Paris während der abgelaufenen vierzehn Tage
haben den Abstand zu den Ereignissen des letzten Sommers geschaffen, dessen wir
bedurften, um uns selbst Rechenschaft davon zu geben, ob die Haltung der deutschen
Regierung und ihrer diplomatischen Organe während der jüngsten Phase des Marokko¬
streites dem Ansehen des deutschen Reiches und den wirtschaftlichen Interessen der
deutschen Nation entsprach oder nicht.

Wie die wirtschaftliche Seite des deutsch-französischen Abkommens bei ruhiger
Überlegung zu bewerten ist, wurde in Heft 45 und 46 näher dargetan. Heute sei
das politische Ergebnis unter die Lupe genommen und zwar unter Ausschaltung
der kolonialpolitischen Gesichtspunkte lediglich das rein weltpolitische.

Die tiefere Bedeutung der Kämpfe um Marokko liegt nicht in den
zwischen Deutschland und Frankreich behandelten Streitfragen, wenn auch die
deutsch-französischen Beziehungen allgemein betrachtet hineinspielen, sondern in der
Aufgabe, der von England gegen Deutschland beliebten Politik entgegentreten zu
müssen. Marokko bildete und scheint auch weiterhin eins der Gefechtsfelder bilden
zu sollen, auf denen darum gekämpft wird, ob Großbritannien allein über die
Ausbreitung und Verteilung der Welthandelsinteressen zu befinden hat oder ob auch
andere Staaten, insbesondere auch Deutschland, dabei ein Wort mitzureden haben
sollen. Dementsprechend mußte die deutsche Diplomatie ihre Verhandlungen mit
Frankreich dauernd mit einem auf England gerichteten Auge führen, während
Frankreich sich bis zu einem gewissen Punkte der Hilfe Englands gegen Deutsch¬
land bedienen konnte. Aus diesem Zusammenwirken beider Faktoren aber werden
auch gewisse Maßnahmen Deutschlands verständlich, die ohne Berücksichtigung der
Faktoren zum wenigsten eigenartig erscheinen. Gleich die Sendung des "Panther"
nach Agadir konnte bei Fernerstehenden den Eindruck erwecken, als sollte auf
Spatzen mit Kanonen geschossen werden. Sie war lediglich als Einleitung fried¬
licher Verhandlungen auch dann ungewöhnlich, wenn andere Gründe, etwa die
Notwendigkeit deutsche Interessen an Land zu schützen, vorhanden waren. Dieses
Ziel wurde bekanntlich in den Vordergrund geschoben, erregte aber im eigenen




Reichsspiegel
Marokkonachklänge

Weltpolitische Bedeutung des Marokkostreites — Mißverständnisse — Falsche Mittel? —
Englisch-französische Treibereien — Die Kompensationen — DaS Politische Gesamt¬
bild — Ausblick

Die Reden und Erklärungen der verantwortlichen Leiter der auswärtigen
Politik in Berlin, London und Paris während der abgelaufenen vierzehn Tage
haben den Abstand zu den Ereignissen des letzten Sommers geschaffen, dessen wir
bedurften, um uns selbst Rechenschaft davon zu geben, ob die Haltung der deutschen
Regierung und ihrer diplomatischen Organe während der jüngsten Phase des Marokko¬
streites dem Ansehen des deutschen Reiches und den wirtschaftlichen Interessen der
deutschen Nation entsprach oder nicht.

Wie die wirtschaftliche Seite des deutsch-französischen Abkommens bei ruhiger
Überlegung zu bewerten ist, wurde in Heft 45 und 46 näher dargetan. Heute sei
das politische Ergebnis unter die Lupe genommen und zwar unter Ausschaltung
der kolonialpolitischen Gesichtspunkte lediglich das rein weltpolitische.

Die tiefere Bedeutung der Kämpfe um Marokko liegt nicht in den
zwischen Deutschland und Frankreich behandelten Streitfragen, wenn auch die
deutsch-französischen Beziehungen allgemein betrachtet hineinspielen, sondern in der
Aufgabe, der von England gegen Deutschland beliebten Politik entgegentreten zu
müssen. Marokko bildete und scheint auch weiterhin eins der Gefechtsfelder bilden
zu sollen, auf denen darum gekämpft wird, ob Großbritannien allein über die
Ausbreitung und Verteilung der Welthandelsinteressen zu befinden hat oder ob auch
andere Staaten, insbesondere auch Deutschland, dabei ein Wort mitzureden haben
sollen. Dementsprechend mußte die deutsche Diplomatie ihre Verhandlungen mit
Frankreich dauernd mit einem auf England gerichteten Auge führen, während
Frankreich sich bis zu einem gewissen Punkte der Hilfe Englands gegen Deutsch¬
land bedienen konnte. Aus diesem Zusammenwirken beider Faktoren aber werden
auch gewisse Maßnahmen Deutschlands verständlich, die ohne Berücksichtigung der
Faktoren zum wenigsten eigenartig erscheinen. Gleich die Sendung des „Panther"
nach Agadir konnte bei Fernerstehenden den Eindruck erwecken, als sollte auf
Spatzen mit Kanonen geschossen werden. Sie war lediglich als Einleitung fried¬
licher Verhandlungen auch dann ungewöhnlich, wenn andere Gründe, etwa die
Notwendigkeit deutsche Interessen an Land zu schützen, vorhanden waren. Dieses
Ziel wurde bekanntlich in den Vordergrund geschoben, erregte aber im eigenen


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[0524] [Abbildung] Reichsspiegel Marokkonachklänge Weltpolitische Bedeutung des Marokkostreites — Mißverständnisse — Falsche Mittel? — Englisch-französische Treibereien — Die Kompensationen — DaS Politische Gesamt¬ bild — Ausblick Die Reden und Erklärungen der verantwortlichen Leiter der auswärtigen Politik in Berlin, London und Paris während der abgelaufenen vierzehn Tage haben den Abstand zu den Ereignissen des letzten Sommers geschaffen, dessen wir bedurften, um uns selbst Rechenschaft davon zu geben, ob die Haltung der deutschen Regierung und ihrer diplomatischen Organe während der jüngsten Phase des Marokko¬ streites dem Ansehen des deutschen Reiches und den wirtschaftlichen Interessen der deutschen Nation entsprach oder nicht. Wie die wirtschaftliche Seite des deutsch-französischen Abkommens bei ruhiger Überlegung zu bewerten ist, wurde in Heft 45 und 46 näher dargetan. Heute sei das politische Ergebnis unter die Lupe genommen und zwar unter Ausschaltung der kolonialpolitischen Gesichtspunkte lediglich das rein weltpolitische. Die tiefere Bedeutung der Kämpfe um Marokko liegt nicht in den zwischen Deutschland und Frankreich behandelten Streitfragen, wenn auch die deutsch-französischen Beziehungen allgemein betrachtet hineinspielen, sondern in der Aufgabe, der von England gegen Deutschland beliebten Politik entgegentreten zu müssen. Marokko bildete und scheint auch weiterhin eins der Gefechtsfelder bilden zu sollen, auf denen darum gekämpft wird, ob Großbritannien allein über die Ausbreitung und Verteilung der Welthandelsinteressen zu befinden hat oder ob auch andere Staaten, insbesondere auch Deutschland, dabei ein Wort mitzureden haben sollen. Dementsprechend mußte die deutsche Diplomatie ihre Verhandlungen mit Frankreich dauernd mit einem auf England gerichteten Auge führen, während Frankreich sich bis zu einem gewissen Punkte der Hilfe Englands gegen Deutsch¬ land bedienen konnte. Aus diesem Zusammenwirken beider Faktoren aber werden auch gewisse Maßnahmen Deutschlands verständlich, die ohne Berücksichtigung der Faktoren zum wenigsten eigenartig erscheinen. Gleich die Sendung des „Panther" nach Agadir konnte bei Fernerstehenden den Eindruck erwecken, als sollte auf Spatzen mit Kanonen geschossen werden. Sie war lediglich als Einleitung fried¬ licher Verhandlungen auch dann ungewöhnlich, wenn andere Gründe, etwa die Notwendigkeit deutsche Interessen an Land zu schützen, vorhanden waren. Dieses Ziel wurde bekanntlich in den Vordergrund geschoben, erregte aber im eigenen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/524>, abgerufen am 26.06.2024.