daß mindestens eine Million zu den Bedürfnissen der beiden christlichen Kirchen von Andersgläubigen herfließt.
Das Gewicht dieser Zahlen wächst, wenn man erfährt, daß alle diese staatlichen Subventionen erst im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind. Dreihundert Jahre lang hat die evangelische Kirche Preußens vom Staate finanziell unabhängig dagestanden; der Landesherr unterhielt nur die Behörden und gewährte hin und wieder aus seiner Schatulle Geschenke. Zum ersten Male im Jahre 1819 erscheint eine Staatsausgabe von 100000 Talern für Auf¬ besserung der Geistlichkeit. Für die katholische Kirche ergaben sich dann staat¬ liche Aufwendungen aus der Zirkumskriptionsbulle vom Jahre 1821. Im Jahre 1879 betrug die gesamte Ausgabe für die evangelische Kirche rund vier Millionen, erst in den letzten dreißig Jahren ist sie auf die jetzige Höhe angewachsen, also merkwürdigerweise erst von dem Zeitpunkt ab, da der Kirche das Recht, Steuern zu erheben, gewährt worden war, -- ein Recht, von dessen Gewährung man vorher gerade die volle Selbständigkeit der Kirche erwartet hatte. Je mehr der Staat seinen konfessionellen Charakter abstreift, desto höher steigen seine Leistungen für die christlichen Kirchen.
Fassen wir zusammen: der Staat setzt seinen Zwang ein, um die Leute zu hindern, daß sie aus der katholischen oder evangelischen Kirche austreten; er knüpft daran die empfindlichsten bürgerlichen und gesellschaftlichen Nachteile, er erschwert die Bildung von Gemeinden außerhalb der Landeskirche, er zwingt den Kindern der Dissidenten einen Religionsunterricht auf, den die Eltern ver¬ abscheuen, er zwingt sie zu Abgaben an Institutionen und Ämter, die sie ver¬ achten. Ist das Gewissensfreiheit?
Und, nur mit einem flüchtigen Seitenblick will ich das berühren: diese Nachteile treffen doch nicht nur die freireligiösen Gemeinden und die Freidenker; sie treffen mehr oder minder auch die sogenannten christlichen Sekten. Und nun denke man sich hinein in die Seelen der schlichten engen Leute, aus denen die Sekten zusammengesetzt zu sein pflegen, und frage sich, ob nicht diese Unfreund¬ lichkeiten des Staates, diese Rechtlosigkeit, unter der sie leben, als Verfolgung und Drangsal empfunden werden muß.
Religionsfreiheit und Rirchenreform
daß mindestens eine Million zu den Bedürfnissen der beiden christlichen Kirchen von Andersgläubigen herfließt.
Das Gewicht dieser Zahlen wächst, wenn man erfährt, daß alle diese staatlichen Subventionen erst im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind. Dreihundert Jahre lang hat die evangelische Kirche Preußens vom Staate finanziell unabhängig dagestanden; der Landesherr unterhielt nur die Behörden und gewährte hin und wieder aus seiner Schatulle Geschenke. Zum ersten Male im Jahre 1819 erscheint eine Staatsausgabe von 100000 Talern für Auf¬ besserung der Geistlichkeit. Für die katholische Kirche ergaben sich dann staat¬ liche Aufwendungen aus der Zirkumskriptionsbulle vom Jahre 1821. Im Jahre 1879 betrug die gesamte Ausgabe für die evangelische Kirche rund vier Millionen, erst in den letzten dreißig Jahren ist sie auf die jetzige Höhe angewachsen, also merkwürdigerweise erst von dem Zeitpunkt ab, da der Kirche das Recht, Steuern zu erheben, gewährt worden war, — ein Recht, von dessen Gewährung man vorher gerade die volle Selbständigkeit der Kirche erwartet hatte. Je mehr der Staat seinen konfessionellen Charakter abstreift, desto höher steigen seine Leistungen für die christlichen Kirchen.
Fassen wir zusammen: der Staat setzt seinen Zwang ein, um die Leute zu hindern, daß sie aus der katholischen oder evangelischen Kirche austreten; er knüpft daran die empfindlichsten bürgerlichen und gesellschaftlichen Nachteile, er erschwert die Bildung von Gemeinden außerhalb der Landeskirche, er zwingt den Kindern der Dissidenten einen Religionsunterricht auf, den die Eltern ver¬ abscheuen, er zwingt sie zu Abgaben an Institutionen und Ämter, die sie ver¬ achten. Ist das Gewissensfreiheit?
Und, nur mit einem flüchtigen Seitenblick will ich das berühren: diese Nachteile treffen doch nicht nur die freireligiösen Gemeinden und die Freidenker; sie treffen mehr oder minder auch die sogenannten christlichen Sekten. Und nun denke man sich hinein in die Seelen der schlichten engen Leute, aus denen die Sekten zusammengesetzt zu sein pflegen, und frage sich, ob nicht diese Unfreund¬ lichkeiten des Staates, diese Rechtlosigkeit, unter der sie leben, als Verfolgung und Drangsal empfunden werden muß.
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Religionsfreiheit und Rirchenreform
daß mindestens eine Million zu den Bedürfnissen der beiden christlichen Kirchen
von Andersgläubigen herfließt.
Das Gewicht dieser Zahlen wächst, wenn man erfährt, daß alle diese
staatlichen Subventionen erst im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind.
Dreihundert Jahre lang hat die evangelische Kirche Preußens vom Staate
finanziell unabhängig dagestanden; der Landesherr unterhielt nur die Behörden
und gewährte hin und wieder aus seiner Schatulle Geschenke. Zum ersten Male
im Jahre 1819 erscheint eine Staatsausgabe von 100000 Talern für Auf¬
besserung der Geistlichkeit. Für die katholische Kirche ergaben sich dann staat¬
liche Aufwendungen aus der Zirkumskriptionsbulle vom Jahre 1821. Im Jahre
1879 betrug die gesamte Ausgabe für die evangelische Kirche rund vier Millionen,
erst in den letzten dreißig Jahren ist sie auf die jetzige Höhe angewachsen,
also merkwürdigerweise erst von dem Zeitpunkt ab, da der Kirche das Recht,
Steuern zu erheben, gewährt worden war, — ein Recht, von dessen Gewährung
man vorher gerade die volle Selbständigkeit der Kirche erwartet hatte. Je mehr
der Staat seinen konfessionellen Charakter abstreift, desto höher steigen seine
Leistungen für die christlichen Kirchen.
Fassen wir zusammen: der Staat setzt seinen Zwang ein, um die Leute
zu hindern, daß sie aus der katholischen oder evangelischen Kirche austreten;
er knüpft daran die empfindlichsten bürgerlichen und gesellschaftlichen Nachteile,
er erschwert die Bildung von Gemeinden außerhalb der Landeskirche, er zwingt
den Kindern der Dissidenten einen Religionsunterricht auf, den die Eltern ver¬
abscheuen, er zwingt sie zu Abgaben an Institutionen und Ämter, die sie ver¬
achten. Ist das Gewissensfreiheit?
Und, nur mit einem flüchtigen Seitenblick will ich das berühren: diese
Nachteile treffen doch nicht nur die freireligiösen Gemeinden und die Freidenker; sie
treffen mehr oder minder auch die sogenannten christlichen Sekten. Und nun
denke man sich hinein in die Seelen der schlichten engen Leute, aus denen die
Sekten zusammengesetzt zu sein pflegen, und frage sich, ob nicht diese Unfreund¬
lichkeiten des Staates, diese Rechtlosigkeit, unter der sie leben, als Verfolgung
und Drangsal empfunden werden muß.
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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/431>, abgerufen am 23.01.2025.
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