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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Briefe aus Lhina

verklärtes und dennoch ebenso wahres Bild dessen, was durch äußeren Reiz
die Netzhaut darbot. Wie hätte sonst die Kunst entstehen können, die doch nicht
reproduzieren, sondern produzieren soll? denn sonst stünde ja die Photographie
höher da als die Malerei.

Ich frage mich immer: warum suchen unsere Maler nie den fernen Osten
auf? Statt nach japanischer Manier zu malen, was ja manche tun, um doch
nichts als Karrikaturen zu liefern, sollten sie doch lieber selbst in Dichters Lande
gehen und was sie mit eigenen Augen sehen, nachdichten. Welche unerschöpf¬
liche Fülle von neuen Motiven und Ideen würde sich ihnen hier bieten, während
sie daheim aus Mangel an beiden und aus Überfluß an Schaffensdrang nach¬
gerade soweit gediehen sind, selbst vaterländische Mistbeete so naturgetreu durch
ihren Pinsel zu verewigen, daß man daran nur noch den Duft vermißt. . . .




Shanghai, 2. November 97.

An seine Schwester.


Meine liebe Weinande!

Heute sind wir wieder von unserem Ausfluge heimgekehrt und waren recht
enttäuscht, kein Lebenszeichen von Dir vorzufinden. Hoffentlich entschädigt uns
die nächste Post dafür. Obwohl wir vom Wetter nicht gerade sonderlich begünstigt
waren, haben wir die kleine Reise doch sehr genossen und uns auch mit unseren
beiden Reisegefährten sehr gut vertragen. Außer dem Vizekonsul Z. hatte sich
uns nämlich noch ein hier lebender deutscher Kaufmann, Herr M, angeschlossen,
was um so angenehmer war, als derselbe ein Hausboot besitzt und auf diese
Weise Z. bei sich beherbergen konnte. Wir fuhren auf einem anderen Haus¬
boot, das uns durch Z.'s Vermittlung von seinem Besitzer in liebenswürdiger
Weise zur Verfügung gestellt worden war. Die Mahlzeiten wurden immer
gemeinsam eingenommen, wobei wir stets während der Fahrt über ein Brett
auf das andere Boot hinübervoltigieren mußten. Die Fahrt bis Hang-chow
war höchst interessant, da wir auf derselben zahlreiche malerisch gelegene Ort¬
schaften und Städte passierten, die in ihrer Bauart an Venedig erinnerten. Die
Häuser waren oft ins Wasser hinein gebaut, die Gassen bestanden aus Neben¬
armen des Kanals, und wir fuhren unter zahlreichen hochgewölbten und graziös
gebauten Brücken hindurch, die sich den Ponte ti Rialto zum Vorbild genommen
zu haben schienen. Die an sich so finsteren und einförmigen Stadtmauern
waren meist mit so üppig wucherndem Schlinggewächs umrankt, daß sie malerisch
und freundlich aussahen.

Bis Hang-chow ließen wir uns von einer Steam-launch bugsieren, um
rascher vom Fleck zu kommen. Kaum hatten wir an einer Vorstadt von Hang-
chow angelegt, als wir auch sofort unsere Entdeckungsreise antraten. Volle
dreiviertel Stunden lang ging es zunächst durch eine endlos lange enge Straße
der Vorstadt, bis wir das Tor der eigentlichen Stadt erreichten. Und wie wir
nun aufs Geratewohl unseren Weg fortsetzten, sahen wir uns nach einer weiteren


Briefe aus Lhina

verklärtes und dennoch ebenso wahres Bild dessen, was durch äußeren Reiz
die Netzhaut darbot. Wie hätte sonst die Kunst entstehen können, die doch nicht
reproduzieren, sondern produzieren soll? denn sonst stünde ja die Photographie
höher da als die Malerei.

Ich frage mich immer: warum suchen unsere Maler nie den fernen Osten
auf? Statt nach japanischer Manier zu malen, was ja manche tun, um doch
nichts als Karrikaturen zu liefern, sollten sie doch lieber selbst in Dichters Lande
gehen und was sie mit eigenen Augen sehen, nachdichten. Welche unerschöpf¬
liche Fülle von neuen Motiven und Ideen würde sich ihnen hier bieten, während
sie daheim aus Mangel an beiden und aus Überfluß an Schaffensdrang nach¬
gerade soweit gediehen sind, selbst vaterländische Mistbeete so naturgetreu durch
ihren Pinsel zu verewigen, daß man daran nur noch den Duft vermißt. . . .




Shanghai, 2. November 97.

An seine Schwester.


Meine liebe Weinande!

Heute sind wir wieder von unserem Ausfluge heimgekehrt und waren recht
enttäuscht, kein Lebenszeichen von Dir vorzufinden. Hoffentlich entschädigt uns
die nächste Post dafür. Obwohl wir vom Wetter nicht gerade sonderlich begünstigt
waren, haben wir die kleine Reise doch sehr genossen und uns auch mit unseren
beiden Reisegefährten sehr gut vertragen. Außer dem Vizekonsul Z. hatte sich
uns nämlich noch ein hier lebender deutscher Kaufmann, Herr M, angeschlossen,
was um so angenehmer war, als derselbe ein Hausboot besitzt und auf diese
Weise Z. bei sich beherbergen konnte. Wir fuhren auf einem anderen Haus¬
boot, das uns durch Z.'s Vermittlung von seinem Besitzer in liebenswürdiger
Weise zur Verfügung gestellt worden war. Die Mahlzeiten wurden immer
gemeinsam eingenommen, wobei wir stets während der Fahrt über ein Brett
auf das andere Boot hinübervoltigieren mußten. Die Fahrt bis Hang-chow
war höchst interessant, da wir auf derselben zahlreiche malerisch gelegene Ort¬
schaften und Städte passierten, die in ihrer Bauart an Venedig erinnerten. Die
Häuser waren oft ins Wasser hinein gebaut, die Gassen bestanden aus Neben¬
armen des Kanals, und wir fuhren unter zahlreichen hochgewölbten und graziös
gebauten Brücken hindurch, die sich den Ponte ti Rialto zum Vorbild genommen
zu haben schienen. Die an sich so finsteren und einförmigen Stadtmauern
waren meist mit so üppig wucherndem Schlinggewächs umrankt, daß sie malerisch
und freundlich aussahen.

Bis Hang-chow ließen wir uns von einer Steam-launch bugsieren, um
rascher vom Fleck zu kommen. Kaum hatten wir an einer Vorstadt von Hang-
chow angelegt, als wir auch sofort unsere Entdeckungsreise antraten. Volle
dreiviertel Stunden lang ging es zunächst durch eine endlos lange enge Straße
der Vorstadt, bis wir das Tor der eigentlichen Stadt erreichten. Und wie wir
nun aufs Geratewohl unseren Weg fortsetzten, sahen wir uns nach einer weiteren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/400>, abgerufen am 23.07.2024.