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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr.

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Intelligenzprilfungcn ein Schulkindern

braucht nur an folgende Einrichtungen zu denken: Förderklassen für schmach¬
befähigte, Hilfsschulen für schwachsinnige, Asyle für idiotische Kinder, Fürsorge-
anstalten für verwahrloste, Jugendgerichte für kriminelle Jugendliche, um zu
sehen, in welchen! Umfange heute psychologische Untersuchungen an geistig minder¬
wertigen Kindern in Betracht kommen. Überall nun, wo es sich darum handelt,
zu entscheiden, ob ein Kind wegen eines Jntelligenzdefektes einer der genannten
Spezialanstalten zu überweisen ist, oder etwa ob ihm die erforderliche Einsicht
in die Strafbarkeit seiner Handlungsweise gefehlt hat, -- in allen diesen Fällen
würde eine Jntelligenzprüfung vorzunehmen sein. Soweit dies bisher bereits
üblich war, sah man sich darauf angewiesen, das Verfahren der klinischen
Diagnose auf Schwachsinn, wie es eingangs geschildert wurde, anzuwenden.
Indem man also der Prüfung ein psychologisches Schema zugrunde legte, suchte
man festzustellen, welcher Grad des Schwachsinns, Idiotie, Imbezillität oder
Debilität, dem betreffenden Kinde zuzuschreiben sei. Die Mängel dieser Methode
sind oben auseinandergesetzt, und es wurde auch schon darauf hingewiesen, daß
gerade das Problem der Untersuchung abnormer Kinder der Punkt ist, von dem
aus man die Methodik der Jntelligenzprüfung gründlich zu reformieren versucht hat.

Der bereits genannte französische Forscher Alfred Binet hat das Verdienst,
hier den entscheidenden Schritt getan zu haben. Er betonte zunächst, daß man
doch, um eine bestimmte Abweichung von der Normalität genau zu erkennen,
diese Normalität selbst genau kennen müsse. Da man ferner Kinder verschiedenen
Alters inbezug auf ihren intellektuellen Zustand sehr verschieden beurteilen müsse,
so sei es vor allem nötig, erst einmal zu ermitteln, welche Jntelligenzleistungen
man von normalen Kindern verschiedenen Alters verlangen könne. Indem er
also eine große Anzahl von Tests an normalen Kindern durchprobierte, gelang
es ihm, zunächst für jede der elf Altersstufen von drei bis dreizehn Jahren eine
kurze Serie von Tests zusammenzustellen, die insofern als eine Art Normalmaß
für das betreffende Alter gelten konnte, als die große Mehrzahl der Kinder dieses
Alters die als Tests benutzten Aufgaben richtig zu lösen imstande war. Diese
kürzeren Serien ergaben aber zusammen eine größere, abgestufte Testserie, die
Binet als LLlielle mölnquL as I'mtsIIiAenLL, als "Stufenmaß der Intelligenz",
bezeichnete. Und damit verfügte seine Methode der Jntelligenzprüfung über
einen objektiven, festen Maßstab, der den früheren Methoden fehlte, nämlich die
intellektuelle Entwicklung des normalen Kindes auf den verschiedenen Altersstufen.
Ein weiterer Vorteil, der sich hieraus sofort ergab, ist aber der, ebenfalls neue,
daß man ein "Jntelligenzalter" des geprüften Kindes berechnen kann. Aus
dessen Vergleich mit seinem physischen Alter ergibt sich dann zahlenmäßig, um
wieviel es hinter der normalen Entwicklung zurück oder ihr voraus ist, z. B. um
Zwei Jahre zurück, um ein Jahr voraus usw. Natürlich bedeutet ein solcher
Unterschied des physischen Alters von: Jntelligenzalter nicht auf allen Alters¬
stufen eine gleich große Abweichung von der jeweiligen Jntelligenznorm. Eine
Rückständigkeit um zwei Jahre ist bei einem achtjährigen Kinde ein wesentlich


Intelligenzprilfungcn ein Schulkindern

braucht nur an folgende Einrichtungen zu denken: Förderklassen für schmach¬
befähigte, Hilfsschulen für schwachsinnige, Asyle für idiotische Kinder, Fürsorge-
anstalten für verwahrloste, Jugendgerichte für kriminelle Jugendliche, um zu
sehen, in welchen! Umfange heute psychologische Untersuchungen an geistig minder¬
wertigen Kindern in Betracht kommen. Überall nun, wo es sich darum handelt,
zu entscheiden, ob ein Kind wegen eines Jntelligenzdefektes einer der genannten
Spezialanstalten zu überweisen ist, oder etwa ob ihm die erforderliche Einsicht
in die Strafbarkeit seiner Handlungsweise gefehlt hat, — in allen diesen Fällen
würde eine Jntelligenzprüfung vorzunehmen sein. Soweit dies bisher bereits
üblich war, sah man sich darauf angewiesen, das Verfahren der klinischen
Diagnose auf Schwachsinn, wie es eingangs geschildert wurde, anzuwenden.
Indem man also der Prüfung ein psychologisches Schema zugrunde legte, suchte
man festzustellen, welcher Grad des Schwachsinns, Idiotie, Imbezillität oder
Debilität, dem betreffenden Kinde zuzuschreiben sei. Die Mängel dieser Methode
sind oben auseinandergesetzt, und es wurde auch schon darauf hingewiesen, daß
gerade das Problem der Untersuchung abnormer Kinder der Punkt ist, von dem
aus man die Methodik der Jntelligenzprüfung gründlich zu reformieren versucht hat.

Der bereits genannte französische Forscher Alfred Binet hat das Verdienst,
hier den entscheidenden Schritt getan zu haben. Er betonte zunächst, daß man
doch, um eine bestimmte Abweichung von der Normalität genau zu erkennen,
diese Normalität selbst genau kennen müsse. Da man ferner Kinder verschiedenen
Alters inbezug auf ihren intellektuellen Zustand sehr verschieden beurteilen müsse,
so sei es vor allem nötig, erst einmal zu ermitteln, welche Jntelligenzleistungen
man von normalen Kindern verschiedenen Alters verlangen könne. Indem er
also eine große Anzahl von Tests an normalen Kindern durchprobierte, gelang
es ihm, zunächst für jede der elf Altersstufen von drei bis dreizehn Jahren eine
kurze Serie von Tests zusammenzustellen, die insofern als eine Art Normalmaß
für das betreffende Alter gelten konnte, als die große Mehrzahl der Kinder dieses
Alters die als Tests benutzten Aufgaben richtig zu lösen imstande war. Diese
kürzeren Serien ergaben aber zusammen eine größere, abgestufte Testserie, die
Binet als LLlielle mölnquL as I'mtsIIiAenLL, als „Stufenmaß der Intelligenz",
bezeichnete. Und damit verfügte seine Methode der Jntelligenzprüfung über
einen objektiven, festen Maßstab, der den früheren Methoden fehlte, nämlich die
intellektuelle Entwicklung des normalen Kindes auf den verschiedenen Altersstufen.
Ein weiterer Vorteil, der sich hieraus sofort ergab, ist aber der, ebenfalls neue,
daß man ein „Jntelligenzalter" des geprüften Kindes berechnen kann. Aus
dessen Vergleich mit seinem physischen Alter ergibt sich dann zahlenmäßig, um
wieviel es hinter der normalen Entwicklung zurück oder ihr voraus ist, z. B. um
Zwei Jahre zurück, um ein Jahr voraus usw. Natürlich bedeutet ein solcher
Unterschied des physischen Alters von: Jntelligenzalter nicht auf allen Alters¬
stufen eine gleich große Abweichung von der jeweiligen Jntelligenznorm. Eine
Rückständigkeit um zwei Jahre ist bei einem achtjährigen Kinde ein wesentlich


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[0391] Intelligenzprilfungcn ein Schulkindern braucht nur an folgende Einrichtungen zu denken: Förderklassen für schmach¬ befähigte, Hilfsschulen für schwachsinnige, Asyle für idiotische Kinder, Fürsorge- anstalten für verwahrloste, Jugendgerichte für kriminelle Jugendliche, um zu sehen, in welchen! Umfange heute psychologische Untersuchungen an geistig minder¬ wertigen Kindern in Betracht kommen. Überall nun, wo es sich darum handelt, zu entscheiden, ob ein Kind wegen eines Jntelligenzdefektes einer der genannten Spezialanstalten zu überweisen ist, oder etwa ob ihm die erforderliche Einsicht in die Strafbarkeit seiner Handlungsweise gefehlt hat, — in allen diesen Fällen würde eine Jntelligenzprüfung vorzunehmen sein. Soweit dies bisher bereits üblich war, sah man sich darauf angewiesen, das Verfahren der klinischen Diagnose auf Schwachsinn, wie es eingangs geschildert wurde, anzuwenden. Indem man also der Prüfung ein psychologisches Schema zugrunde legte, suchte man festzustellen, welcher Grad des Schwachsinns, Idiotie, Imbezillität oder Debilität, dem betreffenden Kinde zuzuschreiben sei. Die Mängel dieser Methode sind oben auseinandergesetzt, und es wurde auch schon darauf hingewiesen, daß gerade das Problem der Untersuchung abnormer Kinder der Punkt ist, von dem aus man die Methodik der Jntelligenzprüfung gründlich zu reformieren versucht hat. Der bereits genannte französische Forscher Alfred Binet hat das Verdienst, hier den entscheidenden Schritt getan zu haben. Er betonte zunächst, daß man doch, um eine bestimmte Abweichung von der Normalität genau zu erkennen, diese Normalität selbst genau kennen müsse. Da man ferner Kinder verschiedenen Alters inbezug auf ihren intellektuellen Zustand sehr verschieden beurteilen müsse, so sei es vor allem nötig, erst einmal zu ermitteln, welche Jntelligenzleistungen man von normalen Kindern verschiedenen Alters verlangen könne. Indem er also eine große Anzahl von Tests an normalen Kindern durchprobierte, gelang es ihm, zunächst für jede der elf Altersstufen von drei bis dreizehn Jahren eine kurze Serie von Tests zusammenzustellen, die insofern als eine Art Normalmaß für das betreffende Alter gelten konnte, als die große Mehrzahl der Kinder dieses Alters die als Tests benutzten Aufgaben richtig zu lösen imstande war. Diese kürzeren Serien ergaben aber zusammen eine größere, abgestufte Testserie, die Binet als LLlielle mölnquL as I'mtsIIiAenLL, als „Stufenmaß der Intelligenz", bezeichnete. Und damit verfügte seine Methode der Jntelligenzprüfung über einen objektiven, festen Maßstab, der den früheren Methoden fehlte, nämlich die intellektuelle Entwicklung des normalen Kindes auf den verschiedenen Altersstufen. Ein weiterer Vorteil, der sich hieraus sofort ergab, ist aber der, ebenfalls neue, daß man ein „Jntelligenzalter" des geprüften Kindes berechnen kann. Aus dessen Vergleich mit seinem physischen Alter ergibt sich dann zahlenmäßig, um wieviel es hinter der normalen Entwicklung zurück oder ihr voraus ist, z. B. um Zwei Jahre zurück, um ein Jahr voraus usw. Natürlich bedeutet ein solcher Unterschied des physischen Alters von: Jntelligenzalter nicht auf allen Alters¬ stufen eine gleich große Abweichung von der jeweiligen Jntelligenznorm. Eine Rückständigkeit um zwei Jahre ist bei einem achtjährigen Kinde ein wesentlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_319600/391>, abgerufen am 23.07.2024.